Der Beitrag Das Gasthaus am Ende der Kulturlandschaft erschien zuerst auf Litlog.
]]>Von Alena Diedrich
Aus Michael Spyras letztem Gedichtband (Die Berichte des Voyers, Mitteldeutscher Verlag, 2021) kennen wir den Voyeur als einen aufmerksamen Zeitgenossen, als feinsinnigen Beobachter zwischenmenschlicher Kontakte. Schon hier waren Räume relevant, vor allem als Kulisse für Begegnungen. Auch im neuen Gedichtband In Auflösung begriffen (roughbooks, 2023) finden wir einen lyrischen Beobachter, der unterschiedliche Orte besucht. Doch nicht der zwischenmenschliche Raum ist hier Gegenstand der Darstellung, sondern die Natur- und Kulturlandschaft. Der Sprecher ist ein Reisender zwischen Bergen und Tälern, entlang der Bahnstrecke, der Bundesstraße, an Autobahnen, Raststätten, vorbei an Flüssen, Gräben und Gartenzäunen – so die Ortsbeschreibungen in den Gedichttiteln. Während Spyras lyrischer Sprecher von Sachsen-Anhalt aus über den Globus reist, wandert er zudem entlang an literaturhistorischen Epochen und Orten – vom sozialistischen Realismus über den Halleschen Dichterkreis bis nach Kuba, dem mythischen Sehnsuchtsort der 68er-Generation.
Einheit und Auflösung
In einer ewigen Ordnung der Dinge ziehen im Dahrenstedter Dramolett die LPG-Landmaschinen ganz romantisch in vorherbestimmten Mustern ihre Kreise, ruht Korn um Korn am Ende wohl behütet zum Wohle der menschlichen Gemeinschaft, der natürlichen Ordnung entzogen, der optimierten unterworfen:
Das Piepen beim Rangieren und die Lichter
im Dunkel, das sich auf die Landschaft setzt.
Und keins der Körner lag wohl jemals dichter
Am anderen, wie nun zu guter Letzt.
Der lyrische Reisende hat kein direkt benanntes Ziel, wohl aber führt ihn sein Weg in Suchbewegungen bis an das Ende der mal gepflegten und wohl gedeihenden, mal verdreckten und abgewohnten Kulturlandschaft:
Das Land ist weit und flach nach allen Seiten.
Und jemand sucht in diesem flachen, weiten,
nach allen Seiten kultivierten Land
nach einem Abbruch, einem Rand.
Doch der Ort, an dem die ländliche Monotonie entlang der schmutzigen Straßen und schäbigen Hinterhöfe endet, ist weder diskret noch erhaben. Der Wanderer sucht den Übergang, die Auflösung, das Ende, und findet in der Natur die alltägliche Endlichkeit, das unaufgeregte Vermodern irdischer Dinge in ihren unvollkommenen, doch filigranen Übergangsformen:
Der graue Himmel und die kahlen Äste,
die schwarzen Bäume und der kahle Wind,
der Straßengraben, angewehte Reste,
die nicht mehr Laub und noch nicht Erde sind.Die blanken Nervaturen, Blattgebeine,
die noch nicht Erde sind und nicht mehr Laub.
Quasi nebenbei ziehen Bilder und Rezeptionsfetzen in Aufzählungen vorbei, gleichzeitig und als verschränkter Widerspruch postmoderner Vielheit. Die Brüche treten dort am deutlichsten hervor, wo unsere Wahrnehmung ins Schleudern gerät und sich die Realität in die ansonsten paargereimte Idylle schleicht. Wir nehmen erst hinterher wahr, was wir gesehen haben:
Die Kiefernwälder und die Ackerbrache,
der grüne Mittelstreifen und die Lache,
das ausgewalzte Ziegelrot, der Zahn,der Huf, die Eingeweide, Knochensplitter
am Fahrbahnrand, das aufgeplatzte Wild,
zerfetzt, der zweite PKW, ein dritter,
die Bremsspur, Schlittern und das Blechgewitter,
die Rettungsgasse erst im nächsten Bild.
Geschickt wird hier entlarvt, dass Einheit nur vermeintlich existent und vielmehr eine kognitive Leistung ist. Im wahrgenommenen Ganzen stecken Einzelteile, in einer Wahrnehmungskette, die wir durch Übung und Gewohnheit ineinanderfügen bis sich – auch für Lesende – ein grausames Ganzes ergibt.
Landschaft und Bewusstsein
Im Kapitel Mit zunehmendem Schwund beginnt die Auflösung diskret zu werden. In Ankunft mäandert der Sprecher mit Weißwein und Zigarette durch den Freitagnachmittag auf der Terrasse. Ein Erster, zweiter, dritter Mann treten hinzu und treiben den Auflösungsprozess durch Likör und ein Tabakgrasgemisch voran. Die schleichende Zersetzung erfolgt durch Kodein und Monotonie – »Seit Wochen, jeden Abend 40 Tropfen« –, durch die Tristesse des modernen Lebens im Zentrum der Kulturlandschaft – in der Neubausiedlung Fertighaus – und schließlich durch Abhandenkommen, Wegsein, Sterblichkeit: »Einer geht und einer wird vermisst.« Verschwinden ist, wenn Materielles sich in Feinstoffliches verwandelt und visuell ungreifbar wird:
Ein Mann steht da, die Hände in den Taschen,
und es ist still in ihm und um ihn auch.
Ein Mann trägt sieben Bier in seinem Bauch
und, statt des Bieres, Luft in sieben Flaschen
und in den Lungen etwas feuchten Rauch.[…]
Und löst sich auf, und dann ist er verschwunden,
der Mann beziehungsweise unsichtbar,
ganz einfach weg, wo er noch eben war,
so viele, viele, viele, viele Stunden,
und dann wird auch der Rest der Szene klar.
Im Gegensatz zu Eichendorffs Frühlingsfahrt, an die das Reimschema erinnert, gibt es hier keine Wiederkehr. Nur Einer bleibt, spricht und beschreibt Personen, Landschaften, Idyllen und Moritaten. Denn mindestens ein Zuschauer ist nötig, um den Fortgang wahrzunehmen und zu beschreiben, wie in Der unterwartete Untergang einer Dame:
Sie steigt durch ihre Socken in die Schuhe,
durchsteigt die Sohlen und den Untergrund,
die Auslegware und die Dielen und
die Dämmrung noch in aller Seelenruhe,
verringert sich mit zunehmendem Schwung.
Unter dem Gedankenstrich
Wer hier verschwindet und durch Flaschenbier und Fertighausalltag zur Auflösung gebracht wird, dem widerfährt dies durch die sprachliche Gedankenformung im Gedicht, durch die Last des Sprach- und Satzzeichens selbst:
Ein Mann ist Sonntagmorgen nicht bei sich.
Der Mann ist an dem Morgen in Gedanken
Und stellt sich unter den Gedankenstrich
Und steht darunter und gerät ins Wanken.[…]
Er geht darunter unter und vermisst
in dem Gedanken nichts und ist sich sicher,
dass er nicht sicher ist, wo er nun ist,
und der Gedanke ist sein eigentlicher,an diesem Sonntagmorgen, einem Tag,
aus dem der Mann in den Morast entgleitet.
Und der Morast ist eine Art Belag,
der sich auf dem Entglittenen verbreitet.
Im matschigen Übergang oder in alltäglichen Ablagerungen werden Leerstellen sichtbar:
Und dann der Glasrand auf dem schwarzen Tresen,
als wäre eben jemand da gewesen,
der Aschenbecher, die Zigarrenglut,
der Kleiderständer und darauf sein Hut.
Engeler Verlag / roughbooks 2023
82 Seiten, 14 €
Spuren und Zeichen, unbemerkt hinterlassene oder bewusst geschlagene, werden als Spuren der Vorübergegangenen auf den Oberflächen der Welt gespeichert und so lesbar:
Die Kippen, die nicht in den Kübel passten,
diverse Daten unbekannter Rasten
und Initialen, in das Holz gekerbt.
Der Rastplatz am Ende der Kulturlandschaft
Am Rande der Kulturlandschaft ist ein Rastplatz, ein Gasthaus, das uns hereinlockt zu den Aufgelösten, Verschwundenen und Verflossenen: »Die Welt sieht besser von hier drinnen aus!« Der Sprechwissenschaftler und Lyriker Spyra lädt uns ein von innen einen Blick durchs Fenster zu werfen und zu prüfen, ob sich durch den Rahmen die Perspektive auf unseren Kulturraum verändert und ob die gebundene Sprache aus Distichen, Assonanzen, Stab- und Binnenreimen zusammenhalten kann, was droht, sich vollends aufzulösen, bzw. bereits postmodern aufgelöst ist und immer wieder nur noch so erfahren werden kann. Es lohnt ein Blick hinaus auf alle Einzelteile, aber mehr noch hinein, ins Buch.
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]]>By Anna Savchuk
The Women Could Fly (Pan Macmillan, 2022) is a dystopian fantasy novel by Megan Giddings that submerges readers in a fictional world reminiscent of Margaret Atwood’s The Handmaid’s Tale. The narrative revolves around Josephine Thomas, who is trying to find her lifepath and true self in a society, strongly controlled by the government, where every woman is closely monitored and observed to prevent the cases of witchcraft that may distort the ›perfect‹ reality ruled by men.
Search for Identity in a Constrained World
The story starts with the mysterious disappearance of Josephine’s mother, who is considered to be a witch and is therefore disapproved by society. With this unexplainable event, the life of little Jo has become unbearable as she is now under a close and constant supervision of the State. Josephine needs to pass witchcraft tests every year and inform the government of any unusual happenstances in her life. What is more, she is obliged to get married before 30 or find an official representative, otherwise, harsher measures will be applied to control the young woman’s life. Giddings masterly combines the hurdles of finding one’s true belonging in the world, where your desires and freedoms are restricted. It is undoubtedly a struggle for Joe to embrace her true sexual orientation, since it is forbidden by the law to have same-sex relationships, or develop in her career by herself without a man by her side. The protagonist cannot freely decide what she wants to become because of the pressure and biased attitude placed on women, for example, the restrictions of choosing ›male‹ jobs or earning more money than men. By drawing parallels with current issues, particularly those relating to women rights and LGBTQA+ rights, the novel adds an enormous value to the understanding of the contemporary world.
The way the fictional world is organized is clearly metaphorical and makes readers compare the real-life issues with the ones portrayed in the novel. The patriarchal society is treating women, especially women of color, as a huge threat to the controlled and authoritarian male State. Citizens strongly believe that females with darker skin tone possess dark and evil magical skills, thus, more likely to cause hazards and harm the human beings. That is why all female citizens are strictly monitored and tested for witchcraft. Only marriage can free them from such violation by the government but instead making them the property of their husbands. Megan Giddings exploration of otherness through the lens of witchcraft hyperbolizes the marginalization and inequalities that women experience in various societies and cultures today, for example in legal terms or in the sense that their primary achievements are occasionally still viewed from the perspective of traditional maternal roles. In this way, she draws the reader’s attention to the fact that in the modern reality we still have some old-fashioned and humiliating ideologies.
Exploring Relationships, Fantasy Realms, and the Cost of Freedom
Pan Macmillan: Hampshire, 2023
368 pages, £16,99
Giddings’ writing style is a standout feature, with an evocative tone that captures Jo’s ambivalence toward her mother’s legacy and societal expectations: »You left me alone,« I said. »Do you know how hard it was to be the only Black girl with a witch mom in high school? It almost killed me. You were the only person I had who knew what it was like to be in that town, who could tell me how to live, and you left.« The author engages with themes of love, equality, guilt, and forgiveness, presenting a nuanced exploration of the mother-daughter relationship.
The alternative reality where all the events take place is masterly built and the fantasy elements are so carefully constructed that it is hard to distinguish between magic and everyday occurrences. As a kid, Jo could not realize that she was casting spells herself while talking to toys who replied back, or summoning a deer into the attic, and readers can first feel that it is all a part of a child’s imagination. However, as later explained, there were real magic occurrences, though not dangerous, but considered as a threat. Those supernatural elements highlight why this world functions in such a way, however, with some gaps about certain facts. The author deliberately creates a modern world that preserves medieval traditions in order to show the absurdity of outdated beliefs, such as biased attitudes towards women and the LGBTQIA+ community. As a result, the inequalities of the fictional world expose the current ones, because such hyperbole by Megan Giddings draws more attention to the burning issues.
Readers are not given a precise information about how the magic was discovered, why is it so inappropriate in this society, why are measures against witches so strict and why men cannot be witchers. As the focus is on Josephine Thomas, one does not get to see the development of some of the side characters, which is slightly disappointing, as the views and opinions of those different from the protagonist could have added depth to the narrative. Not surprisingly, Josephine undergoes the major changes throughout the whole story and her views and handling of life hurdles changes dramatically. At the beginning of the novel, Jo is denying her magical abilities and even tries to follow the rules by starting a relationship with a man and making plans about marriage. Thus, she finally accepts that her true power lies in self-acceptance, understanding her sexuality and the power that she has. Fortunately, some minor holes in the plot do not interfere with the perception that the narrative creates challenging questions about the cost of personal freedom, since Josephine loses everything that she had to fully embrace her personality and not to be restricted by unfair rules.
Time for Changes
Despite some gaps in the plot and lack of some characters’ development, The Women Could Fly is a thought-provoking and revealing reading. Giddings masterly uncovers societal issues such as women rights, personal freedom, and marginalization in her fictional world though so closely similar to the real one. Even through the fantastical setting there is a strong connection to our current social landscape with the very same issues that people face. Without a doubt, readers will truly find answers to their own questions by living the experience together with the protagonist. The Women Could Fly is a social commentary that reveals the flows of the current society, promoting finding inner peace and harmony, accepting one’s true power.
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]]>Der Beitrag Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! erschien zuerst auf Litlog.
]]>Von Lennart Speck
Bild: Robert Huffstutter: Sigmund Freuds Sofa. (Ausschnitt). Via Wikimedia Commons, CC BY 2.0 DEED
Ob in der Universität als Studium, als Methode in anderen Fächern oder als medizinische Praxis: Die Psychoanalyse prägte das 20. Jahrhundert auf unvorhersehbare Weise, sie war eines der diskursprägenden Phänomene, die diesem und dem letzten Jahrhundert ihren Charakter verliehen. Die Historikerin Dagmar Herzog veröffentlichte 2017 in Cambridge eine Geschichte der Psychoanalyse, die nun auch auf Deutsch vorliegt.
Die Therapie ist gegenwärtig wieder in aller Munde: Mag es daran liegen, dass allerorts zur Reflexion aufgefordert wird, Achtsamkeitsliteratur wie Das Café am Rande der Welt von John Strelecky hohe Verkaufszahlen erzielt oder es zu einer – weiß Freud – Sensibilisierung gegenüber Traumata und Despressionen gekommen ist. Schon 1977 ist an Woody Allens Film Der Stadtneurotiker zu sehen, wie das Thema Therapie in der öffentlichen Wahrnehmung an Geltung gewonnen hat. Doch wie ist das Wissen der Psychoanalyse transformiert worden, seitdem es zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelt und systematisiert wurde? Dieser Frage geht Dagmar Herzog in ihrem Buch Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen nach. Die Autorin ist selbst keine Psychoanalytikerin, sondern Professorin in New York. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Sexualität, Gender und Religion, was sich auch in ihrem Buch niederschlägt.
Der in deutscher Übersetzung aus dem Amerikanischen von Aaron Lahl vorliegende Band (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2023) ist ein Gang durch die Denkschulen der Psychoanalyse. Vor allem aber beleuchtet Herzog die amerikanische Psychoanalyse und deren Institutionen. Dabei nimmt sie die diskursiven Verstrickungen, Positionen und Äußerungen von Analytiker:innen in den Blick, die zwischen zwei verschiedenen Polen oszillieren, die im Feld nach der Frage der Aufgabe der Psychoanalyse entstanden sind: Sollte die Psychoanalyse nur für die Analyse von Klient:innen und die theoretische Ausgestaltung des Faches zuständig sein oder sollte sie auch soziale und gesellschaftliche Veränderungen mitdeuten und mitdiskutieren? Eine sich im Buch von Herzog selbst gestellte Mammutaufgabe, die sich durch diskursanalytisches Können mit viel Personal und erzählerischer Geschicklichkeit bewältigen ließe.
Eine Disziplin und ihre Geschichte
Dagmar Herzogs Buch ist in drei Teile und sechs Kapitel unterteilt, in denen sie sich den Motivationen und Transformationen des psychoanalytischen Wissens nähert. Der Titel ist ernst zu nehmen, innerhalb des Kalten Krieges kommt es im Fach wie in der Welt zu »Kalten Kriegen«, also Auseinandersetzungen, die nicht ohne ideologischen Unterbau geführt werden. Herzog setzt sich mit diesen Kriegen auseinander, indem sie mit einem lästigen Vorurteil aufräumt, was schon den Beginn des Buches auch für Laien so attraktiv macht: Die Psychoanalyse ist nicht Teil der Wissenschaften, die in ihrem Elfenbeinturm verharren. Sie ist nicht gefeit vor sozialen und politischen Einflüssen. Dies stellt Herzog dar, indem sie das Ziel verfolgt »jeden Paradigmenwechsel [der Psychoanalyse] in der Komplexität seines historischen Ursprungskontextes zu verorten.«
Sie setzt ihre Rekapitulation in den 1930er Jahren in den USA an und zirkelt von da über die Kriege innerhalb der Psychoanalyse um die Analysegrundlage des menschlichen Geistes zu den homophoben Bestrebungen innerhalb der analytischen Kaste. Sodann untersucht sie die durch den Nationalsozialismus verursachten Traumata, die Entstehung und Rezeption des Begriffs und wie die Analytiker:innen in Europa, den USA und Israel damit umgegangen sind. Im dritten Teil, der sich bis 2017 erstreckt, bleibt nicht unbeachtet, was Auswirkungen auch auf kulturwissenschaftliche Universitätsfächer hatte: Unter dem Label des Poststrukturalismus bekannt gewordene Theorien beschäftigen sich mit den Denkmodellen und Techniken Freuds und interpretieren diese auch als Medien- und Machttheorien um. Natürlich fallen hier die Namen Jacques Lacan, Melanie Klein, Felix Guattari und Gilles Deleuze.
Antisemitische und homophobe Erbschaften
Für eine:n Nicht-Psychoanalytiker:in ergeben sich bemerkenswerte Erkenntnisse aus den Erklärungen und Beschreibungen der Geschichte der Psychoanalyse. So zeigen sich die Verstrickungen innerhalb des Faches mit der Religion und dem religiösen Hintergrund der Theorie selbst: Herzog deckt auf, wie mit antisemitischen Tendenzen die Gedanken Freuds christianisiert wurden und durch emotionale Diskurse selbst die Rezeption in den USA religiös motiviert ist.
Diese gelungene Darstellung verbindet – wie von Herzog gewollt – kontraintuitive Ereignisse, dass zum Beispiel Papst PiusXII. die Therapie nicht nur negativ sah, wie viele andere Theologen, mit der internen Logik des psychoanalytischen Diskurses und brilliert mit einer sozialen und politischen Einordnung. Vom Urvater Freud nicht so gesehen, zeigen sich im Fach homophobe Äußerungen, die ein dunkles Kapitel der Geistes- und Politikgeschichte in den USA wie in Europa offenbaren:
»Von Baltimore, New York und Boston über Chicago und Topeka nach Los Angeles herrschte trotz anhaltend heftiger Kontroversen über die psychoanalytische Theorie und Technik eine bemerkenswerte Einigkeit darin, dass Homosexuelle gestört seien und geheilt werden müssten – das heißt, dass sie in der Tat als jene ›abgetrennte‹ Kategorie von Menschen aufgefasst wurden, von der Sigmund Freud nachdrücklich behauptet hatte, dass sie es nicht seien.«
Darauf antwortete mit außerordentlicher Kraft die sexuelle Revolution .
Der zweite Teil sollte angesichts des Erstarkens rechter Ideologien auf der Welt und in Deutschland aufmerksam verfolgt werden, da es in ihm um persistierende Elemente der faschistischen Ideologie des Nationalsozialismus geht. Hier stellt Herzog die Geschichte des Faches anhand der Auseinandersetzung innerhalb der Disziplin um die Etablierung der psychoanalytischen (Behandlungs-)Kategorie von PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung – dar. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Shoah gab es in Westdeutschland unter Bundeskanzler Konrad Adenauer ein Gesetz, welches Opfern der Shoah Renten zusprach. Doch, wie Herzog auf bald 80 Seiten darstellt, war der Diskurs um diese Renten harsch im Ton und vor allem von Seiten der ablehnenden Ärzte und Politiker zum Teil antisemitisch und rassistisch. Bei der Darstellung dieses Diskurses verzichtet die Autorin berechtigterweise auf eine wertfreie Distanz und bezieht Stellung, öffnet der Bericht doch ein Fenster in die Geschichte der Nachkriegszeit und die »Erbschaften des Nationalsozialismus«, so der Titel des zweiten Teils. Die behandelnden Ärzte wollten die psychischen Schmerzen nicht auf die Shoah zurückgeführt wissen, und auch Politiker stellten Fragen wie: »›Ist es richtig, daß die durch das Wiedergutmachungsgesetz Betreuten in zahlreichen Fällen besser gestellt sind, als wenn sie niemals verfolgt worden wären?‹«
Kriegin der Welt und Kriege im Fach
Herzogs anspruchsvoll geschriebener Studie lässt sich epistemisch einiges abgewinnen. Die Kulturgeschichte eines Faches ist niemals nur die Kulturgeschichte der einzelnen Wissenschaft. Vielmehr sind – gerade bei der Psychoanalyse – Gründe für neue Geistesanstrengungen und Wandlungen in der Ausdeutung diskursiv bedingt und vielfältig. Es kann hier nicht mit einer Stimme gesprochen werden, zumal die Psychoanalyse zusätzlich einen so intimen wie persönlichen Bereich abdeckt, der über das eigene Reden innerhalb der Analyse hinausgeht. Das Reden innerhalb der Analyse und die Aussagen, die die Fachdebatten mit ausgestalten, sind immer ein pluralistisches Gewirr aus Stimmen, wo sich bestimmte Deutungen und Ströme durchsetzen. Im Fach, im Diskurs, in der Analyse und in der Interpretation.
Diskurse gestalten den Inhalt und die Geschichte der Disziplin aus und stehen in Wechselwirkungen mit anderen Fächern. So hilft etwa psychoanalytisches Vokabular Methoden in den Sozial- und Geisteswissenschaften auszuarbeiten, die neue Blickwinkel auf die Kultur legen.
Suhrkamp Verlag: Berlin 2023
380 Seiten, 28,00 €
Cold War Freud löst ein, was es verspricht, legt die Psychoanalyse selbst auf die Couch und lässt sie reden über die Zeit, in der die USA und die Sowjetunion im Krieg miteinander liegen, ohne dass Waffenfeuer zu hören ist. Innerhalb des Kalten Krieges gibt es intradisziplinäre Kriege, die sich niemals erwehren können, die ›Welt draußen zu lassen‹. So zu sehen an dem Kampf zwischen den Neofreudianern und der Ich-Psychologie. Letztere negierten im Vergleich zu Erstgenannten die Verbindung und Zirkulation zwischen gesellschaftlichen Zwängen und der Psyche fast gänzlich.
Sei es die Christianisierung der Psychoanalyse in den USA oder das antisemitische Wettrennen in der jungen Bundesrepublik – beide Themen haben intuitiv nichts mit der Psychoanalyse zu tun, transformieren aber den Gehalt des Faches. Genauso ist hier zu erkennen, dass Denkschulen national geprägte Diskurse führen, die aber international rezipiert werden, die bisweilen eine amorphe Masse ausbilden und so die Themen und Gestalt des Faches verändern. Am Ende gilt: Die Psychoanalyse ist kein einzelnes Fach, was nur in die Niederlassungen von Psycholog:innen oder die Kliniken mit Psychiater:innen gehört, es ist auch ein »Werkzeugkasten für Kulturkritik«, der sich stets verändert. Dieses Buch geht also alle etwas an, die ihrem Werkzeugkasten für Kulturkritik etwas hinzufügen wollen, da es die oben diagnostizierte Mammutaufgabe – die Psychoanalyse und ihre Geschichte auf ihren Standort und ihre Haltung hin zu befragen – meistert.
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]]>By Marie Lorenzen
Imagine, just for a moment, that you’re somewhere else. Not in front of a laptop or your phone, but perhaps in the middle of a forest. It’s late, there’s a fire roaring in front of you and you’re surrounded by friends. They’re getting ready to tell a story. You feel warm and cosy, ready to immerse yourself in your friends’ woven narrative. Finally, one of them starts speaking. The story begins:
»Beautiful stars hang in the night-time sky, celebrating the near full moon that shines light over a vast and endless rippling sea of treetops, whose leaves are cast in indigo by the pale moonlight. Wind moves over them, feeling of brisk chill air, the coming of winter. And in all of this silver and violet, there is one cradled point of warm and orange light emanating from the crosshatched and little dust covered windows of a humble country tavern.«
If that left you with a sense of curiosity, or even made you just a little interested, then Worlds Beyond Number might be the right fit for you. It’s an actual play fiction podcast by four of the most interesting voices in the Dungeons & Dragons and actual play world at the moment. WBN joins expansive worldbuilding with intriguing plot beats and complex characters. Game Master Brennan Lee Mulligan and players Aabria Iyengar, Erika Ishii, and Lou Wilson go back to the roots of storytelling and masterfully achieve one of the most intriguing aspects of the genre: building your own narrative with your friends.
What is Actual Play?
Even though actual play content has gained immense popularity over the last few years, it’s still fairly niche. If this is the first time you’ve heard about it, you haven’t been living under a rock. Actual play is a genre of usually podcasts or web shows where a group of people plays TTRPGs. (Still confused? TTRPGs are tabletop roleplaying games such as Dungeons & Dragons, Pathfinder, or Call of Cthulhu, where players take on a role in a world narrated/presented by the Game Master [GM].) Notably, actual play is usually more focused on the narrative and characters than an at home game might be. WBN actually uses the term »narrative play« instead of »actual play«, shifting from depicting the entire gaming process, like in live shows such as Critical Role, to showing less of the game mechanics and more of the narrative itself.
Moreover, it is interesting to explore why an audio-only medium such as podcasts works especially well for actual or narrative play. TTRPGs use »theatre of the mind« to depict scenes and interactions. This means that, for the most part, there are no visual clues or representations to rely on, and everybody forms their own picture of the events. Theatre of the mind invites a shared space where both players and the audience experience the narrative only through words. Also, in the absence of visual beats, sound design in an actual play podcast is a unique opportunity to support and enhance the narrative.
Who traverses Worlds Beyond Number?
The first campaign of WBN, »The Wizard, the Witch, and the Wild One«, takes place in a magical fantasy setting, the world of Umora. Umora is »a magical world demarcated between the world of mortals and the world of [nature] spirits … [that] is suffused in every possible way with magic«. Mulligan presents a framework that is intriguing for listeners more familiar with the genre and at the same time presents a distinct introduction for those just starting out with fantasy and/or actual play. It’s a world that is sure to draw the audience in without revealing too many of its secrets at once, though the exposition and character interactions make it clear that there is much to be discovered. Mulligan cites Hayao Miyazaki’s films, Japanese folklore, and Celtic Mythology as their main inspirations for worldbuilding.
Erika Ishii takes on the role of Ame, a nature-loving witch who grew up in a quaint country cottage under the wing of the village witch. Her introduction paints her as kind, communal, and daring. Ame has to navigate a world that isn’t always gentle, but she does so with an »expansive heart« (Mulligan). In Umora, witches act as communicators between the material and the spirit world and so, in the story so far, Ame sometimes has to play mediator between Suvi and Eursulon.
Suvi, a wizard from the militaristic organisation called the Citadel, is portrayed by Aabria Iyengar. Iyengar navigates the intricacies of her character with such mastery that you cannot help but wish for a detailed biography of Suvi’s past, present, and future. She perfectly encapsulates the arrogance of a young wizard who thinks she can rule the world with a swish of her wand but who actually grew up quite sheltered and has much to learn.
Last but not least, Lou Wilson portrays the spirit Eursulon who left his own world as a child. As a spirit, Eursulon is perhaps the least grounded of the characters (at least in the beginning) since we see (or rather, hear) him struggle with a world that is not his own. With his true self hidden, Eursulon must gain people’s trust and reconcile his existence in the material world with his identity – something he must be careful to stay tethered to.
As for the actual story, we join Ame and Suvi as they are confronted with the death of Grandmother Ren, Ame’s mentor and the person all three of the characters spent a summer with together as children. At the same time, the witch and the wizard discover a curse that has been placed on Ame. They must find and rejoin their old friend Eursulon, whose sword is able to break curses. On their journey, they discover parts of the world filled with injustice, wondrous and dangerous magics, and precarious conflicts.
Why is this world worth a visit?
Creators: Brennan Lee Mulligan, Erika Ishii, Aabria Iyengar, and Lou Wilson
Producer: Taylor Moore
Overall, the performers are able to bring a sense of urgency to their actions and choices (which, again, are only conveyed to the audience in words), which adds significantly to the sense of immersion. Mulligan, as the GM, provides us with a world that is inviting, atmospheric, and remarkably responsive to the characters – the line between improvisation and pre-prepared story is practically invisible. His exceptional world-building is solid and airtight, allowing for the audience to immerse themselves in the world and enjoy discovering it just as much as the players do.
In WBN, the interplay of four immensely talented improvisers and storytellers is truly a joy to behold. In every interaction you can feel how much the group is in tune with each other and clearly has just as much, if not more fun playing as the audience has listening. The clear emphasis on narrative and character work makes this podcast a real gem of the actual play world. So, settle in around the campfire and enjoy the sound of Worlds Beyond Number.
All quotes by Brennan Lee Mulligan are taken from this interview.
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]]>Der Beitrag Ein Lesefest im Frühling erschien zuerst auf Litlog.
]]>Von Svenja Brand
Bild: Svenja Brand
Mehr Fest als Festival
»Wir feiern unseren zweiten Frühling«, erklärt Anna-Lena Markus vom Literarischen Zentrum gleich zu Beginn der Pressekonferenz am 13. Februar im Literaturhaus, bei der das Team des Literarischen Zentrums und das des Göttinger Literaturherbstes gemeinsam ihr Programm für die diesjährige Frühjahrslese vorstellen. Der zweite Frühling: nicht nur die Frühjahrslese findet in Göttingen zum zweiten Mal statt, die beiden Göttinger Literaturvermittler feiern auch das fast zweijährige Zusammenwohnen im Literaturhaus in der Nikolaistraße.
Während 2023 alle Veranstaltungen in der Sheddachhalle im Sartorius Quartier stattfanden, wird in diesem Jahr auch das Literaturhaus als Veranstaltungsort einbezogen. Etwas intimer könnten einige der Programmpunkte dort im Vergleich zur mehr Publikum fassenden Sheddachhalle gestaltet werden; insgesamt solle die Frühjahrslese mehr Feier von Literatur und gemeinsames Fest sein als großdimensionales Festival. Drei der sieben Veranstaltungen finden im Literaturhaus statt, vier im Sartorius Quartier.
Im Literaturhaus
Die Frühjahrslese eröffnet am 5. April Anne Rabe, die mit Steidl-Lektor Daniel Frisch über ihren für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominierten Roman spricht: Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta 2023) behandelt das Aufwachsen von Protagonistin Stine zur Zeit der Wende, den Systemwechsel in der DDR und schmerzvolle Fragen nach intergenerationell nicht mehr geteilten Lebenswirklichkeiten.
Am Folgetag geht es mit dem gelernten Chemielaboranten, Journalisten und Schriftsteller Maxim Leo und Kulturjournalistin Andrea Schwyzer um ein folgenschweres Zukunftsszenario: In Leos Buch Wir werden jung sein (erscheint am 7. März bei KiWi) kehrt sich für die Teilnehmer:innen einer Medikamentenstudie der Alterungsprozess um – es stellt sich die Frage: Was passiert mit einer Gesellschaft, in der biologische Verjüngung plötzlich möglich ist?
Der Abschluss der Frühjahrslese im Literaturhaus wird feministisch: Sophia Fritz (deren Buch Toxische Weiblichkeit voraussichtlich am 18. März bei Hanser Berlin erscheint) und Stefanie Lohaus (die sich in Stärker als Wut (Suhrkamp 2023) mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Feminismus auseinandersetzt) diskutieren am 7. April den Begriff ›toxische Weiblichkeit‹.
In der Sheddachhalle
Zeitgleich zur Eröffnung mit Anne Rabe im Literaturhaus findet in der Sheddachhalle im Sartorius Quartier ein Science Slam in Kooperation mit der Universität Göttingen statt: Wissenschaftsvermittlung in Kurzform mit hohem Unterhaltungsfaktor. Wie im Vorjahr moderiert Slammer Manuel Maidorn den Abend. Neu in diesem Jahr: Der Science Slam während der Frühjahrslese ist offizielle Vorrunde des Science Slams auf der IdeenExpo in Hannover.
Am Samstagnachmittag präsentiert Anke Engelke ihr erstes Kinderbuch in Reimen: Die neue Häschenschule aktualisiert die 100-jährige Vorlage unter den Vorzeichen der Gegenwart und neuer Freundschaft. So stellt weniger der – nun vegane – Fuchs eine Gefahr für die Hasen dar als vielmehr der Mensch und sein Umgang mit der Natur. Auch Mareike Ammersken, die Illustratorin der Neuen Häschenschule, ist mit dabei.
Am Samstagabend wird es sportlich – zumindest thematisch: Ex-Profitennisspielerin Andrea Petković, mittlerweile auch als Moderatorin und Schriftstellerin bekannt, stellt ihr zweites Buch Zeit, sich aus dem Staub zu machen (erscheint am 7. März bei KiWi) vor. Im Gespräch mit Fernsehmoderatorin Okka Gundel geht es um den großen Umbruch in Petkovićs Leben, den Ausstieg aus dem Profisport.
Mit Rafik Schami endet das Frühjahrslese-Fest als Fest des Erzählens: Wenn du erzählst, erblüht die Wüste, heißt Schamis 2023 bei Hanser erschienener Roman. Im Zentrum steht eine leidtragende Prinzessin, der zu ihrer Heilung an zehn Abenden Geschichten über das Leben erzählt werden. Es geht um die Magie von Worten und die Macht des mündlichen Erzählens – im Roman genauso wie bei Schamis Lesung aus seinem Roman.
Verstetigung der Frühjahrslese?
Im Anschluss an die Programmvorstellung wird gefragt, ob die Frühjahrslese als Reihe verstetigt werden solle. Unter Verweis auf aktuelle Tendenzen im Kulturbereich heißt es: Man wolle von Jahr zu Jahr schauen, was möglich sei. Die Frühjahrslese stünde in dieser Hinsicht symbolisch für den Literaturbetrieb als solchen. Verstärkt müssten gegenwärtig – gerade auch mit Blick auf nicht feststehende Haushaltspläne und Budgetkürzungen der Bundesregierung im Kulturbereich – Institutionen zusammenarbeiten, Partner:innen gewonnen werden; es sei notwendig, eine »kürzere Sicht auf die Dinge« einzuführen, wie Literaturherbst-Geschäftsführer Johannes-Peter Herberhold meint. Was aber spürbar wird: die Begeisterung für Literatur und ihre Vermittlung ist groß im Literaturhaus. Und schließlich gebe es ja auch zwei Buchmessen, warum also nicht auch zwei Literaturfeste, eins im Herbst, eins im Frühling?
Ticketerwerb
Wer in diesem Frühjahr das Lesefest mitfeiern möchte, kann Tickets an folgenden Stellen erwerben: Im Literaturhaus selbst ist passend zum zweiten Frühling der Ticketverkauf am Valentinstag gestartet. Dort können von Montag bis Freitag von 10–13:00 Uhr und mittwochs von 15–18:00 Uhr Karten vor Ort in der Nikolaistraße 22 erworben werden. Online gibt es Tickets auf den Webseiten des Literaturhauses, des Literarischen Zentrums oder des Literaturherbstes sowie bei allen an Reservix angeschlossenen Vorverkaufsstellen.
Freien Eintritt haben mit dem Kulturticket alle Studierenden der Georg-August-Universität und der Privaten Hochschule Göttingen, sofern an der Abendkasse noch Plätze vorhanden sind.
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]]>Von Sebastian Brosowski
Wie kann sich die amerikanische Demokratie gegen den Faschismus wehren? In Rachel Maddows Buch Prequel – An American Fight Against Fascism (Crown 2023) wird genau diese Frage gestellt – jedoch nicht bezogen auf die Gegenwart. Maddow reist in ihrem Buch zurück in die Vereinigten Staaten der 1930er und 1940er Jahre. In Prequel erläutert sie den Aufstieg und den Fall des amerikanischen Faschismus der damaligen Zeit und wie der Kampf dagegen beinahe gescheitert wäre.
Aus europäischer Perspektive konnte man sich wahrscheinlich lange Zeit kaum vorstellen, dass Faschismus »Made in the USA« überhaupt möglich ist. Seit dem Aufstieg von Donald Trump, seiner Präsidentschaft und dem Sturm auf das Kapitol im Jahr 2021 hat sich das allerdings gewandelt. Doch in Prequel wird klar: Es ist nicht das erste Mal, dass ein solches Phänomen aufgetreten ist.
In den 1930ern waren es Paramilitärische Organisationen wie die ›Silver Shirt‹, die ›Christian Front‹ und andere, die Terroranschläge planten und durchführten, um im Chaos die Macht zu ergreifen. Auch planten diese Gruppen Massenmorde gegen Minderheiten in den Vereinigten Staaten. Und obwohl es Fanatiker außerhalb der Gesellschaft waren, so hatten sie sehr mächtige Freunde. So schlossen sich beispielsweise hunderte Polizisten aus New York der ›Christian Front› an und einige Abgeordnete gaben den Extremisten der ›Christian Front‹ und ›Silver Shirts‹ eine Stimme im US-Kongress.
Nazi-Deutschland nutzte diese Gruppen und andere, um eine Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft zu erzielen, oder die Demokratie im Land gar ganz zu beenden. Bezahlt und unterstützt von Nazi-Deutschland war der Redenschreiber George Sylvester Viereck, der für US-Senator Ernest Lundeen arbeitete. US-Senator Burton K. Wheeler nutzte seine Vorteile als Amtsträger, um Nazi-Propaganda an Wähler:innen in seinem Wahlkreis zu schicken. Insgesamt waren es mehr als 24 Abgeordnete, die Propaganda für Nazi-Deutschland verbreiteten. Die Idee der Nazis, den »Feind von innen heraus zu zerstören« hatte auch Unterstützung in Amerika.
Crown: New York 2023
416 Seiten, $32.00
Maddow ist bekannt für ihre Fähigkeit komplexe Sachverhalte sprachlich geschickt und interessant darzustellen. Das zeigte sie bereits in ihren Büchern Blowout (Vintage 2019) und Drift (Broadway Books 2012). Prequel, das ursprünglich als Podcast mit dem Namen Ultra begann, zeigt dieses Talent von Maddow erneut. Die damaligen Gegner der amerikanischen Demokratie werden prägnant – wie in einem Podcast – dargestellt. Manchmal etwas zu verbal. So schreibt sie über Huey Long, einen ehemaligen Gouverneur und US-Senator, er gebe dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt »a big F U«.
Doch Maddow leistet auch einen enormen Beitrag, um überhaupt Aufmerksamkeit auf die damaligen Geschehnisse zu lenken. So schwer es zu glauben scheint, es gibt nicht viele akademische Auseinandersetzungen mit der Gefahr, in der die amerikanische Demokratie damals schwebte. Und das trotz der Anschlagspläne auf Munitionsfabriken (von denen einzelne auch explodiert sind), der Bewaffnung einzelner Gruppen (teilweise gestohlen vom US-Militär) oder der Nazi-Propaganda direkt aus dem US-Kongress. Zur damaligen Zeit war sich die Bevölkerung kaum der Gefahr um die eigene Demokratie bewusst. Maddows Arbeit und ihre Zusammenarbeit mit zahlreichen Historiker:innen ist auch aus geschichts-dokumentarischer Sicht von Bedeutung.
Prequel zeigt auf beeindruckende Weise, wie ungeschützt die amerikanische Demokratie vor Faschismus war und ist. Denn während Maddow nie einen direkten Vergleich zu den heutigen Herausforderungen der Demokratie in Amerika zieht, so wird dieser durch die sprichwörtliche Blume mehr als deutlich. Getreu dem Motto »Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich« zeigt sie, wie schnell selbstbezeichnete Patriot:innen zu Faschist:innen und Feinden der Demokratie werden können. So wird auch klar, dass der Titel Prequel nicht übertrieben ist, sondern zeigt, dass die Vereinigten Staaten schonmal an dem Punkt waren, an dem sie sich heute befinden. Die Frage ist: Können sie aus ihrer Vergangenheit lernen.
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]]>By Sofia Peslis and Anna Savchuk
Picture: Paul Stebbings
On the 7th of February, the Deutsches Theater played host to the American Drama Group’s performance of William Shakespeare’s Hamlet. Founded in Munich in 1978 by Grantly Marshall, the group was linked in the beginning to the University of Munich, where its first performances took place. With actors from New York, London and Paris, the ensemble presents a repertoire of classic and contemporary drama from America, Britain and France.
Fusion of Music and Stage
The way music is used in the American Drama Group’s production of Hamlet is the first striking element. It creates a distinct, enigmatic mood that transports the viewers back to the late medieval times. Changing tones from quiet, nostalgic and soothing to extremely deafening, thunderous and raging, the music, by Thomas Johnson, is an essential component of the drama since it intensifies the onstage events and the emotions they evoke, making the play even more compelling. Performers expertly use their voices to give the play intensity and depth while also playing the selected musical instruments, mainly congas, acoustic guitars, gongs, and drum brushes. Also, different musical elements are added for every character to give them individuality and authenticity. The ghosts’ appearances are always followed by particular unsettling tones and sounds that evoke unease and fear of the unknown. What is more, the actors imitate the sounds of nature, which are well integrated into the background of the play.
In addition, the stage arrangement for the performance is notably unique, featuring an oval stage on stage where actors consistently perform, maintaining a minimalistic static setup without many stage props throughout the play. Despite this, the production achieves a remarkable sense of versatility primarily through the clever use of light effects. The unchanging stage design becomes a canvas for dynamic storytelling, transforming atmospheres seamlessly. Similarly, the challenge of having only seven actors portraying various roles is met with ingenuity. Through clever costume changes and strategic alterations in the play’s narrative, the actors skillfully transition between characters. Ophelia’s assertive refusal in the pivotal scene, where she denies Hamlet the traditional gesture of laying his head in her lap and instead pushes him away, not only enhances her character’s strength but also serves as a clever theatrical device, affording her the freedom to leave the stage and seamlessly transition into other roles, showcasing the production’s resourceful approach to character dynamics. This creative adaptation showcases the production’s ability to maximize the potential of a static stage and a compact cast. Further, through small, humorous interactions with the audience, like throwing pieces of clothes from the stage or showing people in the front row what book Hamlet is reading the production creates an engaging and inclusive atmosphere, adding a delightful touch to the theatrical experience.
Redefining Ophelia
Particular attention should be paid to Ophelia, as she differs slightly from the original play. The American Drama Group brings humor and energy to Hamlet’s love interest by making her dynamic and sympathetic. The actress, Emma Nihill-Alcorta, gives Ophelia a unique personality and is not afraid to look amusing while interacting with other characters and bringing joy to the stage. She expresses warm relationships with her brother Laertes and father Claudius, despite the play’s original lack of such details. Ophelia’s strong character features are particularly shown and noticed in a scene where Hamlet and Ophelia meet in secret while being watched by Claudius. When Hamlet is confusing and threatening her, she acts persistent and shows no fear. Hamlet clearly displays disrespect for the woman’s feelings and personality in general, saying cruel words about never loving her. However, Ophelia endures those difficulties with dignity and strength and makes right conclusions about the situation: »I was the more deceived.« This makes a great example of a strong woman, despite her later emotional downfall, that directors and actors of the play implemented to give the audience a new perspective on the tragic heroine.
The Right Balance
While the performance still remains remarkably faithful to the original script, capturing the essence of Shakespeare’s timeless tale, there were moments of clear deviation that left the audience longing for the completeness of the classic play. Notably missing were some key scenes of Hamlet’s soliloquies, a hallmark of the character’s inner conflict. In addition, the omission of the poignant scene in the cemetery where Hamlet discovers Ophelia’s tragic fate creates a sense of longing for these crucial moments, which add significantly to the emotional depth and complexity of the narrative. The reason for avoiding such important parts of the drama might be to create an unexpected twist or to draw attention to other modernized aspects of the play, such as Ophelia’s character. As the play is only about an hour and thirty minutes long, it would have been difficult to include all the scenes from the original play without giving the audience too much input.
Despite these variations, the production maintaines a delicate balance between tradition and innovation, offering a fresh perspective while remaining true to the original play’s spirit. In essence, the American Drama Group’s Hamlet remains a worthwhile play to watch for those seeking a classic adaptation with a few contemporary twists.
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]]>Von Lisa Neumann
Arda ist krank, schwer krank. Sein eigenes Immunsystem greift fälschlicherweise seinen Körper an, Autoimmunerkrankung genannt. Die Ärzte probieren verschiedene Therapien, keine hat bisher angeschlagen. Arda bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit, also beginnt er zu schreiben. An seinen Vater Metin, den er nicht kennt, dessen Verschwinden jedoch sein Leben prägte. Briefe an den Vater gibt es viele, in der deutschsprachigen Literatur ist vor allem Kafka dafür bekannt. Öziri gelingt es mit seinem Roman, diese Form keineswegs veraltet erscheinen zu lassen, sondern sie mit neuem Zeitgeist zu beleben.
Ein Leberfleck als Gemeinsamkeit
Arda hat von seinem Vater keine Erinnerung, nur einen Leberfleck im Gesicht, den Metin auch besaß. »Vatermal« nennt der Ich-Erzähler diese Stelle. Der Roman beginnt mit der direkten Ansprache Metins:
Metin soll mit diesem Brief daran erinnert werden, wen er zurückließ, wie es seiner Familie in Deutschland nach seinem Verschwinden erging. Stellenweise erinnern Ardas Schilderungen, die Art, wie der Roman konstruiert ist, dabei an Fatma Aydemirs Werk Dschinns (Hanser Verlag 2022). Hier wie dort geht es um die Frage, wie Kinder aus Einwandererfamilien ihre Wurzeln finden können: Wie ankommen in einer Gesellschaft, die einen immer auch als fremd, als nicht zugehörig betrachtet?
Jugend am Busbahnhof
Arda und seine Freunde verbringen einen großen Teil ihrer Zeit am lokalen Busbahnhof, schweigend, kiffend und redend. Ihre Dialoge gehören zu den stärksten Stellen des Romans. Die Jungs sprechen oft nur über das Oberflächliche, vieles bleibt ungesagt und doch wird offensichtlich, dass sie dieselben Erfahrungen teilen, das Warten bei Behörden, die Furcht vor Abschiebung, als Zielgruppe für Polizeikontrollen zu gelten. So werden die Jungs einmal verdächtigt, einen Laden überfallen zu haben und der dortigen Kellnerin vorgeführt, die nur anhand von Ardas Stimme erkennt, dass er keiner der Täter war, denen er ja ähnlich sehe.
»Die hatten alle so andere Gesichter. Bis auf den da vielleicht.« Sie nickt in meine Richtung. »Das kann nicht Ihr Ernst sein?«, platzt es aus mir heraus. Einen Moment lang schaut sie mich an. »Ah«, sagt sie. »Der hatte ’ne ganz andere Stimme. Viel höher.«
Im Folgenden soll Arda zum Stimmenvergleich »Rück die Kohle raus«, sagen:
»Rück die verdammte Kohle raus!«, schreie ich mit der tiefsten Stimme, die ich habe, und dabei sehe ich, wie meine Spucke auf ihrem Gesicht landet. Alle schauen sie an. »Nee, so klang der wirklich nicht.« Glück gehabt, sagt der Blick des Bullen, bevor er uns gehen lässt.«
Hier wird die Verdächtigung von nicht westeuropäisch weiß aussehenden Männern ad absurdum geführt, doch die Bedrohung ist für Arda und seine Freunde real: ein Eintrag im Führungszeugnis und der Weg zum zukünftigen Asyl – Arda selbst besitzt noch keinen deutschen Pass, Bojan hat viele unterschiedliche Pässe, aber keinen deutschen – kann verbaut sein.
Aufgezogen von Mutter und Schwester
Nach dem Verschwinden von Metin wird Arda von Mutter und Schwester aufgezogen, doch seine Mutter Ümran trinkt immer mehr Alkohol und ist zu sehr mit anderen Männern beschäftigt, sodass Aylin – Ardas Schwester – schließlich selbst zum Jugendamt geht, um eine neue Familie zu bekommen. Nun sitzen beide Frauen abwechselnd an seinem Krankenbett, darauf bedacht, einander nicht zu begegnen. Der Roman erzählt auch Aylins und Ümrans Lebensgeschichten, zeigt, wie Aylin zwischen einem kaputten Zuhause und erlebter Diskriminierung – sei es ein abfälliger Kommentar über ihre Armbehaarung oder die Aussage ihrer Pflegemutter, dass man keine Notunterkunft sei, als eine Freundin bei Aylin übernachtet – ihren Weg finden muss. Während Ümran ihrer eigentlichen Liebe, einem verwaisten, ärmeren Jungen aus ihrem Heimatdorf in der Türkei aus Standesgründen nie gänzlich nah sein konnte, lebt Ardas Schwester seit Jahren mit einer Frau zusammen, einer Polizistin namens Johanna.
Mehr als Protestliteratur
Claassen: Berlin 2023
304 Seiten, 25,00 €
Der Roman ist dabei mehr als reine Protestliteratur, denn er zeigt eindeutig Diskriminierung auf, ohne die Welt dabei in Gut und Böse einzuteilen: Die Polizisten diskriminieren Arda und seine Freunde, doch Ardas Schwester lebt später mit einer Polizistin zusammen. Der Beamte in der Ausländerbehörde besitzt selbst einen polnischen Migrationshintergrund und die Jugend aus der Flüchtlingsunterkunft um die Ecke versucht den kleinen Arda auf dem Schulweg abzupassen, um an sein Geld zu gelangen.
Vatermal erfasst damit gesellschaftliche Phänomene, ohne Vorurteile in Stein zu meißeln: Es ist keine Frage der Herkunft, ob ein Mensch Gewalt gegen seine Familienangehörigen ausübt oder sich fürsorglich für seine Familie einsetzt. Es ist keine Frage des Polizist:innen-Seins, ob ein:e Polizist:in diskriminierend handelt oder nicht. Damit leistet der Roman einen wichtigen Beitrag zu politischen Diskursen rund um Migration und gegen Urteile, die auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus beruhen.
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]]>Von Svenja Brand
Bild: Aaron Kilian Mayer
Köstliche Kost und harte Gespräche
Grabtuch aus Schmetterlingen heißt Lina Atfahs zuletzt erschienener Gedichtband (Pendragon 2022), Steine & Erden derjenige von Jan Wagner (Hanser 2023). Wer von den Titeln auf einen belastend schweren Abend schließt, wird überrascht von dem Lyrik-Duo, das auf dem Podium im Literaturhaus Platz nimmt. Stellenweise wird es ernst und auch berührend, vor allem aber wird viel und anhaltend gelacht. Und das Publikum lässt sich gern anstecken.
Wagner und Atfah haben sich 2017 kennengelernt, wie sie in Wechselrede berichten, in Edenkoben in der Pfalz. Sie schwärmen nicht nur von dem Programm »Poesie der Nachbarn«, das dort in jenem Jahr sechs syrische und sechs deutsche Dichter:innen mitten in den Weinbergen zusammenbrachte, um mit der Hilfe von Übersetzer:innen die syrischen Texte ins Deutsche zu übertragen. Wagner erzählt auch mit großem Enthusiasmus von den Weinblättern, die Atfah sammelte, um sie mit Reis zu füllen – »eine syrische Spezialität mit Pfälzer Weinblättern« –, und davon, wie sie ihm im Zwiegespräch beim Füllen der Blätter Antworten auf Fragen zu den Hintergründen ihrer Gedichte gab: zu Krieg, Flucht und Tod. Das Leichte, Köstliche neben dem Harten, Schweren. Programmatisch könnte das über dem gesamten Abend am 6. Februar im Literaturhaus stehen. »War es lecker?«, will Atfah dann auch lachend wissen, während Wagner noch mit Freude im poetisch Aufgeladenen des gesprächsschweren Weinblätterfüllens schwelgt – Lachen des Publikums, Wagner meint, es sei sehr schmackhaft gewesen.
Die Rückseite vom Teppich oder: Lyrik als Psychotherapie
Dann geht es konkreter um Herausforderungen bei der Lyrikübersetzung. Lyrik sei deshalb so besonders schwierig zu übersetzen, weil eine interlineare Wort-für-Wort-Übersetzung den intensiven Ideen, sprachlichen Bildern, dem Klang und Geheimnis der Originalsprache nicht gerecht würde. Eine solche Interlinearübersetzung sei wie »die Rückseite vom Teppich«, findet Atfah ein eindrückliches Bild – eine Knüpfstruktur also, anhand derer sich das Format des Teppichs ablesen lässt, aber von der nur ahnungsweise etwas über die Farbigkeit und das Muster auf der Vorderseite abgeleitet werden kann. Um Lyrik zu übersetzen, brauche es also Lyriker:innen, meint Atfah. Und um den »Geist des Originals« zu verstehen, gelte es, die »Seele« der Dichterin kennenzulernen: »Jan Wagner versteht meine Texte.« Wie eine Psychotherapie sei Lyrik, sei das Gespräch über Lyrik deshalb auch, und Wagner sei ihr »Seelenjäger«. Nach ähnlichen ›Therapiesitzungen‹ sei die Übersetzung und Nachdichtung von Atfahs aktuellem Band durch Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi zustande gekommen. Es blieben ihre Gedichte, aber Oleschinski vermöge es, ihr eine deutsche Stimme zu geben.
Wertschätzend und sympathisch-engagiert ist das Gespräch zwischen Wagner und Atfah, und immer wieder lacht die Dichterin. Sie lacht herzlich und haltlos ansteckend. Als es aber um das Lesen ihrer Gedichte geht, wirkt sie wie ausgewechselt.
Die mit den Händen spricht
Resolut, dann beschwörend, mit raumfüllender, ausdrucksstarker Stimme oder sehr weich und melodiös trägt Atfah ihre Gedichte im arabischen Original vor. Wie ein eigenes Dirigat begleiten sie dabei ihre Hände, akzentuieren Gesagtes, verleihen ihm Form. Mal sanft und fließend, mal in einer scharfen Schnittbewegung, mit einem leisen Klatschen oder einem Fingerschnippen. Auch wer die Worte nicht versteht, wird in ihren Bann gezogen. Das Verständnis für das deutschsprachige Publikum sichert Schauspielerin Imme Beccard, die mit klarer und ruhiger Stimme Atfahs Texte in Übersetzung liest. Da geht es in »2020« um Corona und Hygieneregeln und in »Gehorsam« um weibliches Verhalten vor der Kameralinse eines Fotografen. Es geht aber auch um Bedrohliches, um häusliche Gewalt und eine krachende »Entschuldigung«, um gewaltvoll genommenes Leben und schmerzvolle und doch auch heilsame »Rückkehr«.
Bevor Wagner – klangvoll und humorvoll-leichtfüßig – aus seinem Band vorträgt, führt er elegant und mit Sprachwitz an seine Gedichte heran: Die Form des Ghasels etwa könne monoton wirken, da es in jedem zweiten Halbvers von zwei zusammengehörigen Verszeilen ein stets gleiches (Reim-)Wort vom Anfang des Gedichts wiederholt. Sie könne aber auch besonders passend sein, wenn man wie Wagner für seine »krähenghasele« eben »viele Krähen braucht«. Wagner spielt klug mit Sprache und Klang, gekonnt und formvollendet, anspielungsreich und mit einem Blick, der das Schöne, Große im nur scheinbar Profanen findet. Karotten werden hier zu »lehmlaternen«, es gibt eine »angel-ode für onkel adi«, an anderer Stelle erläutert das – tatsächlich historische – »königliche botanikbataillon […] seine strategie«. Das Publikum geht mit, spendet für Wagner, Atfah und Beccard lauten Applaus.
»Weiter Schreiben«, Traurigkeit und Humor
Zum Ende des Abends hin sprechen Atfah und Wagner über die Bedeutung des Projekts »Weiter Schreiben«, das den Hintergrund ihres gemeinsamen Lesens im Literaturhaus bildet. »Weiter Schreiben« bietet Autor:innen aus Krisengebieten im Exil eine Plattform für ihre Literatur, ihr Weiterschreiben eben, indem sie in einem Tandem mit einem:einer arrivierten deutschsprachigen Schriftsteller:in zusammenkommen. So Atfah etwa mit der georgisch-deutschen Autorin Nino Haratischwili. Dass das Exil, neue Lebensumstände und sich wandelnde Sichtweisen ein wichtiges Thema auch von Atfahs Schreiben sind, liegt nahe. So erzählt sie, dass mit ›großer‹, gewichtiger Lyrik in Syrien immer auch Traurigkeit verbunden sei: »Wir mögen Traurigkeit«. In Deutschland habe sie entdeckt, dass ein Gedicht auch Leichtigkeit und Humor haben dürfe. Deshalb versuche sie, mit ihrer Lyrik zum Lachen zu bringen: »Tränen sind einfach in Lyrik, Lachen ist schwerer«. Dass Leichtigkeit und das Sehen kleiner Dinge aber auch ein Luxus sind, wird an einem Glas Wasser deutlich, das vor Atfah neben ihrem Mikrofon steht. In Syrien sei Wasser für sie mit Schmerz konnotiert. Sie erzählt, wie sie gemeinsam mit ihrer Schwester – die ebenfalls im Saal ist und Atfah auf Zuruf immer mal wieder bei der Übersetzung eines Wortes hilft – darauf gehofft habe, nachts Wasser sammeln zu können, das es nur einmal im Monat verlässlich gab. »In Deutschland ist das anders« – Wasser ist hier Selbstverständlichkeit: »Es gibt einen Kanal in Wanne-Eickel«, dem Ort im Ruhrgebiet, an dem Atfah jetzt lebt. So sei ein Gedicht über ein Glas Wasser für sie in Deutschland ganz anders denkbar als in Syrien. Von Wagner gefragt, ob sie denn so ein Gedicht über den Bedeutungswandel von Wasser schon geschrieben habe, verneint Atfah: »Aber das werde ich jetzt machen!«
Dass Leichtes neben Schwerem (be)stehen darf, führen Lina Atfah und Jan Wagner überzeugend vor. Ein letztes Gedicht Atfahs lesen sie im Duett, bevor Atfah noch um ein Selfie mit dem Publikum bittet. Der Abend zeigt, was Lyrik kann: Disparates zusammendenken und »Seelen« einander nahebringen, Einblicke in scheinbar ungekannte Sprach- und Lebenswelten eröffnen und dabei etwas Vertrautes in den Lesenden oder Zuhörenden ansprechen. So bleibt, auf Lina Atfahs Gedicht über das Glas Wasser zu warten und in der Zwischenzeit in Steine & Erden und Grabtuch mit Schmetterlingen von Schwerem, aber auch von Leichtem zu lesen.
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]]>By Arezoo Izadi and Jaeeun Kim
Picture: Martin Liebetruth
On Wednesday, November 1st, Farhan Samanani discusses his book How to Live with Each Other: An Anthropologist’s Notes on Sharing a Divided World, celebrating the publication of the book’s German translation titled Miteinander: Über das Zusammenleben in einer gespaltenen Welt. The event within the programme of the Göttinger Literaturherbst starts with the introduction of the author by Steven Vertovec, the founding director of the Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity in Göttingen, who knows Samanani well. This is not surprising as Samanani – now a lecturer in Social Justice at King’s College London – is an alumnus of this very institute. Samanani’s presentation of the book is followed by a talk between him and Vertovec as well as follow-up questions by the audience.
Kilburn and the Multicultural Community
The author starts with the intriguing example of Kilburn, a multicultural neighborhood of London, and how the members of the Kilburn society – different generations of non-migrants and migrants with diverse ethnical, national, religious, political and class backgrounds, different languages and histories – are living together. According to Samanani, Kilburn is a harmonious haven of different groups, the place where »no one single group dominates« and members of various backgrounds live together in harmony. Kilburn is one of various examples that show the possibility of people with differences coexisting without major conflict.
Along with reading a few excerpts from his book, Farhan Samanani starts to explain that as humans we encounter different individuals on a daily basis, and the question of »how we can live with one another« always presents itself anew. Nevertheless, he suggests that this task may not be as much of a challenge as we assume it to be. He puts forth the idea that we can think about difference and distinction anthropologically, since anthropology is the science of being with others, by discovering various ways of living or being human. Instead of considering the difference as a source of conflict, he shows the example of the places, including Kilburn, where difference does not cause conflict but rather become chances to understand diversity.
Anthropologist and Cultural Perspectives on Distinction
Samanani points out that as humans we know and show ourselves not only by comparing similarities but also by our differences. In other words, one of the ways in which we, as humans, identify and express ourselves is through exploring how different we are from those around us and by distinguishing ourselves from other people. This can prove to be tricky once we come to know the extent of this difference. However, he also explains that we should be aware that even if another individual’s beliefs appear outlandish and strange, it can be a different expression of similar underlying needs or ideas that we ourselves have.
He goes on to give an example of an eye-opening academic study on schizophrenia, in which an anthropologist collaborated with multidisciplinary academics to study this mental disorder in three different countries: the United States, India and Ghana. The result of this research indicated that schizophrenic individuals from different places would hear the voices of different people in their head depending on their culture, e.g. violent threats, amicable advice or voices of spirits. Jokingly, Mr. Samanani raised the question that, considering this research, what then is the »right« way to be schizophrenic? Are the Americans »right« and the others are not? The voices reflect the culture, and the differing voices may seem outlandish to people from other cultures, but they are still the same symptom, varying among cultures.
In line with his anthropological approach, Samanani then introduces some other examples of individual cases of harmonious havens of diverse cultures, including the example of The Door, an institute in Kilburn that was mainly for religious practice of muslim community. The Door opened its door to non-religious visitors and lend the space for non-muslim communities for events, playing a mediating role between people with differences. He also briefly mentions the perspective of political sciences on conflicts and differences – policies regarding foreigners for example – since policies and social consciousness are inseparable. However, since he focuses on specific cases in which diverse cultures coexist in peace, Samanani suggests the possibilities of the space of coexistence in many different forms rather than giving a one-size-fits-all solution for every situation.
A New Narrative
The Q&A session with the audience starts with the question of how to fill in the gap between Samanani’s positive examples and the policies related to difference. He stresses the power of narrative by explaining how the perspective of losing oneself while facing a new culture can be shifted into the perspective of the chance of discovering a new self with the shift of narrative. He further emphasizes the deep connection between social consciousness, or the consciousness of individuals on society and one another in it, and anthropology, and how we must not easily disregard political and social reality, particularly in spaces where the conflict between different interest groups is not easily dissolved with one or two policies. In addition, Samanani argues that social consciousness and political actions should develop reciprocally instead of one preceding the other. He concludes that we should stop treating difference and the discourse around it as if it were an issue that must be solved.
Samanani’s witty explanation on the examples of how people can deal with differences, forms an optimistic atmosphere and encourages the audience to think of their own ways of dealing with other people. Samanani’s book and his discussion with Vertovec do not only provide ideas and models of coexistence, but they also offer a space for thoughts for the audience, which can be a good starter for coexistence.
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