Kontroversen im EU-Rat

Das interaktive Theaterstück GRENZFALL EUROPA, Das Spiel unter Regie von R. de la Chevallerie und C. Weiss thematisiert nicht nur Problematiken der Europäischen Union, sondern bietet einen amüsanten, informativen Spieleabend, der voller Diskussionen steckt und ein Miteinander fordert.

Von Birthe Schmitt

Bild: © Reimar de la Chevallerie, mit freundlicher Genehmigung des boat people project

Mitten im Göttinger Stadtteil Grone liegt der WERKRAUM, die neue Spielstätte des boat people projects (bpp). Dabei handelt es sich um eine umfunktionierte Lagerhalle. Ein schwarzer Vorhang, auf dem die zwei weißen Großbuchstaben A und B prangen, trennt eine Art Foyer vom Bühnenbereich ab. Goldfarben glänzt ein geräumiges Zelt aus Rettungsfolie im Eingangsbereich und steigert die Neugier auf den kommenden Abend, auf den man sich als Besucher*in eingelassen hat, denn, dass es kein »Frontalunterricht« wird, steckt bereits im Namen GRENZFALL EUROPA, Das Spiel. Die Besucher*innen werden gleich zu Beginn mit den Eintrittskarten in Gruppe A und B aufgeteilt und jede*r erhält einen Abstimmungsstein mit den Optionen »Ja« und »No«. Wird etwa gegeneinander gespielt? Während der verbleibenden Wartezeit gesellen sich riesige Pappmasken mit den Gesichtern Trumps, Putins und einer vermeintlich rosenverschenkenden Europas unter die Wartenden. Sobald ein*e Besucher*in die hingehaltene Rose annehmen will, zieht Europa sie wieder zurück. Es ist eine Inszenierung des Bildes, dass Europa mit falschen Versprechungen Migrant*innen anlocke. Wie bei Fasching parodieren die Schauspieler*innen die drei Player der Weltpolitik. Und dann geht es los: Das Spiel!

Das Spielfeld (Foto: Reimar de la Chevallerie)

Zwar gibt es keine Nummerierung der Sitzplätze, aber die Stühle sind mit Zetteln versehen, auf denen verschiedene Eigenschaften stehen, die man erfüllen sollte, um darauf Platz zu nehmen. Wer es sich jetzt zu gemütlich gemacht hat, muss darauf hoffen, dass der*die bald darauf zugeteilte*r Teampartner*in den Weg zu ihm*ihr antritt. Geduldig warten die drei Moderator*innen (Ahmed Kiki, Matthias Damberg, Lina Zaraket), bis jede*r einen neuen Platz eingenommen hat. Enthusiastisch und humorvoll erklären sie die Spielregeln. Die entstandenen Zweiergespanne bilden gemeinsam je ein Land in der Europäischen Union, das nun zusammen mit den anderen Ländern im Europäischen Rat über Fragen abstimmen soll. Erschwerend kommt die Vorschrift des Europäischen Rates hinzu, dass Entscheidungen im Konsens getroffen werden müssen, das heißt, Einigkeit unter den (noch) 28 Staaten der EU herrschen muss. Zunächst entscheidet jedes »Land« für sich, ob es sich auf Ja oder Nein einigen kann. Hierfür werden die am Eingang verteilten Abstimmungssteine verwendet. Ausgeteilte Abstimmungsgeräte mit den Optionen Ja, Nein und Unentschieden erfassen die gegebenen Antworten aller Länder elektronisch und die Ergebnisse werden auf einer Leinwand bekanntgegeben.

Migration und die EU

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boat people projekt


Unter diesem Label werden seit 2009 Theaterstücke mit einem gemischten Ensemble inszeniert, zu dem u.a. geflüchtete Kunstschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Musik und Tanz gehören. Der Name boat people projekt (bpp) steht programmatisch für die Arbeit des Teams. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Flucht und Flüchtenden steht im Mittelpunkt der Theaterproduktionen. Die Stücke sind politisch, weil sie konkrete Ereignisse und Geschichten von Flüchtenden erzählen, sie sind poetisch, weil das dokumentarische Material zu einer Fiktion verdichtet wird. 

Wie zu erwarten, herrscht bei komplexeren Fragen nach der Öffnung der EU-Außengrenzen keine Einigkeit unter allen Besucher*innen. Um diese Einigkeit herzustellen, teilen sich die Besucher*innen in vier Gruppen ein, die dann einen »Meinungsparcours« durchlaufen. Ein Gastwissenschaftler (Kiki) kämpft, während er im goldenen Zelt einen verwirrenden Beitrag hält, mit technischen Schwierigkeiten, ein verrückter Professor (Damberg) lässt mit der Umverteilung von Geld spielen, eine wütende Ethnologin (Zaraket) deckt im Keller eines Museums eine Scheindebatte über Raubkunst auf und die Besucherinnen werden im Meditationsraum ihren eigenen Gedanken überlassen, um danach Gemeinsamkeiten der Gruppe herauszuarbeiten. Der Wechsel der drei Spielleiterinnen in ihre Rollen funktioniert problemlos, da deren Interpretationen der Rollen überzeugend sind und sie gleichzeitig die Spielsituation nicht aus den Augen verlieren, sondern souverän mit Fragen der Besucher*innen umgehen. Auch die Aufteilung der verschiedenen Spielräume, neben, vor und hinter der Hauptbühne, leuchtet ein: Dort sind ganz unterschiedliche, authentische Bühnenbilder entstanden, die der jeweiligen Spielsituation angepasst sind.

Als ein lockerer, leichter Spieleabend lässt sich das Arrangement trotzdem nicht erleben, denn die Fragen mit denen »gespielt« wird, befinden sich zu nahe am aktuellen politischen Zeitgeschehen und an unser aller Lebensalltag. Die Ethnologin behandelt beispielsweise die Frage nach einem fairen Handel und den damit verbundenen Mehrkosten für Käuferinnen. Sind die Besucherinnen bereit faire Preise für Luxusprodukte wie Kaffee oder Schokolade zu zahlen? Es ist eine Alltagsfrage, die sich jede*r schon mal im Supermarkt bei 500 g Kaffee für 2,99€ stellen sollte. Beim verrückten Professor herrscht zunächst Einigkeit, dass alle Menschen gleich viel Geld zur Verfügung haben sollten, aber schwieriger wird es, wenn das Geld aus dem eigenen Portemonnaie auf einmal auf dem Tisch liegt und durch Umverteilung halbiert wird.

Aber genau hier liegt auch der Zauber dieses Abends: Einander unbekannte Menschen diskutieren die Frage nach dem gesellschaftlichen Miteinander, dies mitunter kontrovers, aber sehr produktiv. Viele Meinungen sind vertreten und es herrscht ein Klima der Offenheit. Hierzu muss sich jede*r Besucher*in bereiterklären. Es geht aber offensichtlich nicht darum extrem clevere Wortbeiträge zu leisten, obwohl es hierfür genügend Raum gibt, sondern um Denkanstöße – darum die grundlegenden Fragen des menschlichen Beisammenseins zu thematisieren und ins Bewusstsein zu rücken. Wie wollen wir miteinander leben?

Ahmed Kiki, Lina Zaraket, Matthias Damberg (Foto: Reimar de la Chevallerie)

GRENZFALL EUROPA spielt mit der doppelten Deutungsmöglichkeit des Grenzfall-Begriffs: Zum einen kündigt das Motto die Hauptfrage des Spiels an, nämlich die nach der Öffnung der Außengrenzen Europas für jede*n. Zum anderen betitelt es Europa als einen Grenzfall, also einen Sonderfall oder einen Fall, der zwischen mehreren Möglichkeiten liegt und sich nicht eindeutig bestimmen lässt. Das Schicksal dieses Europas liegt zumindest diesen Abend gänzlich in den Händen der Besucher*innen. Alles in allem bietet das bpp einen Abend, den man nicht verpassen sollte.

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