Männlichkeit, ein Fluidum

Diskurse sind im ständigen Wandel, dies zeigt sich auch an der Debatte um Männlichkeit. J. J. Bola und Jack Urwin haben jeweils ein Buch geschrieben und sich damit in diesen Diskurs eingebracht. Was haben sie zu sagen?

Von Lennart Speck

Bild: Via Pixabay, CC0

Im Duden steht unter dem Eintrag des Adjektivs »fluid« Folgendes: »flu|id, flüssig, fließend.« Dieses Wort passt zu vielen Prozessen, die uns gerade begleiten: Digitalisierung, Pandemie und gesellschaftlicher Wandel. Diese Phänomene werden alle mit der Formulierung bedacht, man befände sich in einem fließenden Übergang von einem Zustand in einen anderen.

So ist es auch mit Gender und den dazugehörigen Rollen. »Gender«, das in Abgrenzung zum deutschen Wort »Geschlecht« nicht synonym für die Bezeichnung eines Geschlechtsorgans benutzt werden kann, ist auch fluid und ständigem Wandel unterworfen. Daher werden die einem Gender zugeschrieben Rollen zunehmend in Frage gestellt, denn die sich wandelnden Vorstellungen und Wünsche vieler Menschen können sie nur schwer einfangen.

Zwei Briten ‒ zwei Bücher

Dieser Wandel kann Leser:innen auffallen, wenn sie die Bücher Boys don’t cry von Jack Urwin und Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Alptraum für Jungs ist von JJ Bola lesen, die sich beide mit dem diskursiven Konstrukt »Mann« auseinandersetzen. Das erstgenannte Buch wurde 2016 in Großbritannien veröffentlicht und erschien 2017 in deutscher Übersetzung in der Reihe »Flugschriften« bei Edition Nautilus. Das andere Buch erschien 2020 im Hanser Verlag und zeigt, dass die Genderdebatte nie abgeschlossen sein kann, denn die Zukunft ist immer das, was wir geradeso eben nicht erreicht haben. Den Sticker des SPIEGEL, mit dem schönen Wort »Bestseller« in weißen Lettern bedruckt, hat sich Sei kein Mann redlich verdient.

Beiden Autoren ist gemeinsam, dass sie im Vereinigten Königreich leben. JJ Bola ist größtenteils in London aufgewachsen und arbeitet dort auch als Sozialarbeiter in Vierteln mit hoher Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität. Sein Buch Sei kein Mann ist dank eines Stipendiums der Society of Authors entstanden, das finanziell unabhängiges Schreiben ermöglicht. Jack Urwin ist kein Sozialarbeiter oder in stigmatisierten Vierteln aufgewachsen; er ist Journalist und schreibt für britische Magazine.  Urwins Boys don’t cry konnte sich über einen klassischen Weg zur Publikation freuen: Zunächst erschien bei Vice UK ein Artikel über seine Erfahrungen und Gedanken über das Thema Gender »Mann«, woraufhin Laurie Penny ‒ britische Journalistin und vor allem Feministin ‒ Urwin kontaktierte und ihm vorschlug, diesen Artikel zu einem Buch auszuarbeiten.

Nicht-einheitliche Konzepte von Männlichkeit

Auch sprachlich unterscheidet sich der Stil beider Bücher: Während Urwin auf 228 Seiten elaboriert, erklärt Bola auf 148 Seiten (jungen) Männern, wie (stereotype) Männlichkeit gedacht wird. Urwins Sprache ist bissiger und scheut nicht vor Witzen und schwarzem Humor zurück. Bisweilen kommt er etwas jovial daher, da er die Lesenden mit einem »Wir« oder einem »Du« so inkludiert, dass diesen das Gefühl vermittelt wird, sie würden mit Urwin in einem englischen Pub sitzen. Zwar spricht Bola auch von einem »Wir« und wendet sich damit ebenfalls an die Lesenden, aber es ist ein »Wir«, das zur Reflexion einlädt. Der markante Unterschied beider Stile ist, dass Bola ‒ im Gegensatz zu Urwin ‒ konkret mit Beispielen erläutert, wie Männer wahrgenommen werden, und sich dahinter eine Art Anleitung verbirgt, wie man althergebrachter Verhaltensmuster durchkreuzen kann. Urwin hingegen möchte erklären, »was eigentlich bei uns gerade Sache ist«.

Schwer zu sagen, gerade in der Debatte um so etwas wie Männlichkeit, wer dieses »Wir« sein soll. So bekommen die Lesenden bei Urwins 2016 geschriebenem Buch das Gefühl, er argumentiere auf der Basis einer konventionellen Vorstellung von Männlichkeit. So geht Urwin nicht durch die Tür, die er sich selbst aufschließt, wenn er über verschiedene Männlichkeitsbilder »jenseits von Heterosexualität« ein eigenes Kapitel schreibt. Die konsequente Öffnung zu verschiedenen Konzepten von Männlichkeit erfolgt nicht. Bei seiner Denkfolie handelt es größtenteils um den heterosexuellen cis Mann. Dieser identifiziert sich mit dem Geschlecht, das ihm bei der Geburt zugewiesen wurde, sodass seine Geschlechtsidentität und Sexualität damit der Heteronormativität entspricht. Diesen Männern wird oft vorgeworfen, das Patriarchat nicht wahrzunehmen und gleichzeitig von den patriarchalen Strukturen auf Kosten von Frauen und queeren Personen zu profitieren.

Der bei Urwin vorgestellten Männlichkeit fehlt es an Diversität. Darüber kann auch sein sprachliches Vermögen mit verschachtelten und amüsanten Satzkonstruktionen nicht hinwegtäuschen. Das Buch reproduziert damit stereotypische Männlichkeit, statt dass es sich einer differenzierten Analyse dieses Konzepts widmet und das Facettenreichtum männlicher Identitäten entdeckt. Urwins Text ist in diesem Aspekt seit der Veröffentlichung 2016 nicht gut gealtert.

Gefangen in einem toxischen Konstrukt

Beide Autoren nehmen die Lesenden durch eine große Anzahl von Themen mit. JJ Bola setzt in seinem Buch jedoch die aktuelleren Themen, sodass sich Sei kein Mann auf der gegenwärtigen Höhe des Diskurses um Männlichkeit befindet. Er wendet einen intersektionalen Ansatz an, wenn er das soziale Konstrukt »Mann« betrachtet, deckt Mythen in Bezug auf Männlichkeit auf und schaut sich unter anderem ein aktuelles Phänomen an, das toxische Männlichkeit forciert: die sozialen Medien, etwa am Beispiel von frauenverachtenden Tweets. Bola hat dazu ein eigenes Kapitel verfasst und beschäftigt sich mit den Auswirkungen von sozialen Netzwerken auf das misogyne Verhalten und Selbstbild von Männern.

Jack Urwin legt in Boys don’t cry sein Hauptaugenmerk auf Themen wie Emotionalität und appelliert an (heterosexuelle cis) Männer, mehr und offener über ihre Gefühle zu reden. Urwin ist der Ansicht, dass sich Männer gesundheitlich selbst gefährden, wenn sie ‒ aufgrund der Vorstellung, Männer dürften keine Schwäche zeigen ‒ einen Herzinfarkt verstecken oder ihre Depression verschweigen und schließlich den Suizid als Ausweg aus ihrer unglücklichen Lage wählen. Urwin ist es wichtig, auf dieses Thema aufmerksam zu machen, denn durch fehlende Kommunikation und das Bild des »starken, emotionslosen Mannes« verliere sich der Mann letztlich in sich selbst. Einer der bedeutendsten Punkte bei Urwin: Schwäche zuzugeben ist eine Stärke.

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 Jack Urwin
 Boys don’t cry

   Übers. von Elvira Willems
 Edition Nautilus: Hamburg 2017
232 Seiten, 17,00 €

Diese Argumentation ist fundamental für die Struktur beider Bücher, denn Kommunikation hat Auswirkungen auf Gesundheit, Psyche, Emotionen und auf zwischenmenschliche Beziehungen. In diesem Zusammenhang richten beide Bücher ihre Aufmerksamkeit auf die klischeebeladene Darstellung von Männlichkeit in der Popkultur. Diese reproduziere schädliche Vorstellungen, die von den Rezipienten nachgeahmt würden. Daher, so die Autoren, fördern diese Darstellungen toxische Verhaltensweisen.

Sensibilisierung für den anti-feministischen Backlash

Bolas Buch ist nicht von unglaublicher sprachlicher Virtuosität, aber stattdessen thematisch vielfältig. Dem Verfasser merkt man an, dass er ein Sozialarbeiter ist, da er mit und für die Jugend eine Art Hilfestellung schreibt. Er befasst sich mit Männlichkeitskonzepten, die in verschiedenen (sexuellen) Identitäten aufgehen, ob heterosexuell, homosexuell oder unter einem anderen queeren Label.

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JJ Bola
 Sei kein Mann

Übers. von Malcolm Ohanwe
 Hanser: München 2020
 176 Seiten, 16,00€

Zwischen der Veröffentlichung beider Bücher sind vier Jahre vergangen – so greift Bola aktuelle Diskurse auf:  Donald Trump bagatellisierte während seiner Amtszeit und bei seinen Wahlkampfauftritten häufig toxisches Verhalten weißer Männer. Bola setzt sich in Sei kein Mann auseinander, wie der Ex-US-Präsident den Fortschritt im Diskurs wie ein Kartenhaus zusammenbrechen ließ, denn dass Frauen sexualisierter Gewalt ausgeliefert sind und Angst haben, interessiere ihn und weiße amerikanische Männer nicht, so Bola. Was Trump stattdessen als beängstigend bezeichne, sei die Vorstellung, »dass Männer endlich für ihre Taten der Vergangenheit und Gegenwart zur Rechenschaft gezogen werden, mit denen sie sonst durchgekommen sind. […] Während junge Frauen in den USA verängstigt sind.«

Hinzu kommt, dass sich die Überzeugung, Sprache habe unterdrückende und simplifizierende Macht, in den letzten Jahren als feministische Position durchgesetzt hat. Der feministische Diskurs um Männlichkeit entfaltet gerade sein Spektrum an Dechiffrierungen von konservativen Gendervorstellungen und Bola setzt Redebeiträgen à la Trump sein Buch entgegen: Jetzt wird begonnen, über Männlichkeit zu reden und zu diskutieren, über falsches Verhalten von Männern, über irrenführende Zuschreibungen und über die Gleichstellung.

Männlichkeit in Bewegung

Die Bücher zeigen, dass der Diskurs um Männlichkeit einer Gefahr des Einvernehmens durch andere Meinungen ausgesetzt ist. Incels, Männerrechtsaktivisten und Rechtskonservativen versuchen, ein rückwärtsgewandtes Bild von Maskulinität für sich zurückzuerobern. Für die Protagonisten des anti-feministischen Diskurses ist die Gleichstellung der Tod der Maskulinität, was sie deutlich von den beiden hier besprochenen Autoren trennt. Die Gleichstellung stellen Urwin und Bola als nahezu überlebenswichtig heraus, auch für den Mann, gerade für ihn ‒ und das ist schlicht grandios.

Bei der Lektüre dieser Bücher kann der:die Leser:in feststellen, dass sich etwas verändert hat im Diskurs; das starre Konzept »einer« Männlichkeit ist Geschichte. Das Fluidum und das Fließende der Genderdebatte hat endlich auch beim männlichen Gender Einzug gehalten. Beide Lektüren sind der Anfang eines intensiven Diskurses, der schon lange überfällig ist. Die zunehmend größer werdende Aufmerksamkeit, welche die feministische Debatte bezüglich Männlichkeit inzwischen erfährt, ist schon daran abzulesen, dass Bolas Buch 2020 durch das große Haus Hanser veröffentlicht wurde statt in einem kleinen Verlag, der nicht über eine bestimmte exklusive Gruppe von Leser:innen hinauskommt.

Die Auseinandersetzung mit »Gender« kann Unbehagen auszulösen, vor allem, wenn aktuelle Zustände sozialer Normen hinterfragt werden, wie es Judith Butler ausdrückte. Die Texte von Urwin und Bola lesen sich wie ein Plädoyer dafür, dass Männlichkeit unglaublich viele Facetten besitzt: von toxischer bis hin zu einfühlsamer Männlichkeit, die das Zeigen von Emotionalität zulässt, ohne als »unmännlich« zu gelten. Die sozial-kulturellen Figuren, die Männlichkeit aufgezwungen werden, sollten aufgelöst werden, um weiter zu erforschen, was es bedeutet, ein Mann zu sein, jetzt und morgen. Männlichkeit ist als ständig im Wandel zu begreifen. Dies ist der Beginn der Reflexionsdebatte unserer Tage, in der die Zeichen der Zuschreibungen aufgelöst werden.

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