Queer Reading als Textkompetenz

Wie funktioniert eigentlich Queer Reading? Und was kann es leisten, Texte entgegen der in ihnen entworfenen heteronormativen Ordnungsvorstellungen zu lesen? Im Rahmen des Workshops versuchten sich die Teilnehmer*innen an einer Verortung der literaturwissenschaftlichen Queer Studies.

Von Anna-Lena Kühn

Bild: via wikimedia commons, gemeinfrei

Unsere Lebensrealität wird maßgeblich durch eine exklusive Gesellschafts-, Denk- und Zeichenordnung geprägt, die auf binären Strukturen basiert. Das bedeutet, dass sich Zuweisungen von Geschlechtlichkeit und Sexualität an einer Opposition orientieren, deren Pole ›männlich und weiblich‹ bzw. ›Homo- und Heterosexualität‹ heißen. Die Queer Theory zielt auf eine kritische Analyse und Dekonstruktion dieser durch geschlechtliche und sexuelle Dualität definierten Deutungsfolie. Ziel des von den Queer Studies angeregten literaturwissenschaftlichen Zugangs des Queer Reading ist es, Texte entgegen der in ihnen entworfenen Vorstellungen einer heterosexuellen Norm und binären Geschlechterordnung zu lesen. Die Methode erlaubt den Rezipierenden einen alternativen Zugang zur Bedeutung der jeweiligen Texte.

Die Vorträge im Rahmen des interdisziplinären Workshops gestalteten sich vielseitig. Die verschiedensten Primärquellen wurden auf ihr queeres Potential hin untersucht und Gedanken zu gender-hybriden Konzepten, Homosozialität und Begehrensdynamiken ausformuliert. Zudem wurden ständische Gesellschaftsstrukturen betrachtet und Wikinger*innen, Coming Outs und Cross-Dressing-Geschichten im Plenum diskutiert.

Workshop

Der Workshop Queer Reading als Textkompetenz. Überlegungen zur Neuperspektivierung eines Forschungsparadigmas wurde von Daniel Eder (Germanistische Mediävistik) initiiert und fand am 14. und 15. Juni 2019 am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität statt. Der Workshop wurde von Interessierten und Expert*innen aus ganz Deutschland angenommen.

Die zu Beginn des Workshops formulierten Fragen lauteten wie folgt:

• Welche Bedeutungen lassen sich durch Queer Reading aus den Texten extrahieren und wo macht eine Neuinterpretation Sinn?

• Welche Konsequenzen haben die Erkenntnisse für ein vormodernes ›Sexualitäts- und Identitätskonzept‹?

• Wo lassen sich Bezüge zu gegenwärtigen Entwicklungen in der Gender- und Intersektionalitätsforschung herstellen?

• Wo liegen die Grenzen des methodischen Ansatzes und wie kann eine Überinterpretation vermieden werden?

Mit einigen Grußworten, einer kurzen Einführung und einem Ausblick auf die Inhalte, die die Teilnehmer*innen in den kommenden zwei Tagen erwarteten, eröffnete Daniel Eder den Workshop, indem er die Relevanz queerer Lektüreverfahren sowohl hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Lage (z.B. Diskreditierung der Genderforschung durch rechte Strömungen) als auch von fachlicher Seite aus als ambiguitätssensible Hermeneutik betonte. Grundlegende Basistexte der Queer Studies wurden angeführt, sowie wichtige Vertreter*innen gewürdigt. Die methodischen Grundlagen des Queer Reading wurden vorgestellt und terminologische Unschärfen problematisiert.

Der Körper als Zeichensystem

Den ersten Redebeitrag leistete an diesem Tag Fabian David Scheidel von der Universität zu Köln. Sein Vortrag unter dem Titel Die weibliche Seite. Genderhybride Konzepte des Menschen bei Augustinus, Matthäus von Vendȏme und Konrad von Mengenberg diskutierte den identitätsstiftenden Aspekt physischer Schönheit in der vormodernen Literatur mit Bezug auf den naturkundlich-theologischen Diskurs und die mittellateinischen Poetiken.

Nach Scheidel fungiere der Körper als kultureller Bedeutungsträger, an dem zunächst stereotype Gender- und Rollenkonzepte durch semantisch aufgeladene Markierungen sichtbar gemacht werden. Die Schönheitsbeschreibungen unterliegen dabei einer binären Suborganisation, die den Mann meist anhand charakterlicher Stärke, die Frau hingegen über ihr äußeres Erscheinungsbild konzipiere, gleichwohl bieten sie aber auch den Raum zur Destabilisierung gegenderter Kategorien. Diesbezüglich führte Scheidel christliche Körperkonzepte sowie die makro- und mikrokosmischen Anthropologieentwürfe an, denen zufolge jeder Körper eine Projektionsfläche äußerer Umstände darstelle, durch welche das zugehörige Individuum eine entsprechende Formung erfahre. Daraufhin wurde vom Plenum die von Scheidel eingeführte Textstelle Von welhen sachen ain fraw swanger werde ains knäbleins aus dem Buch der Natur des Konrad von Megenberg (um 1350) auf die Konstruktionen einer pränatalen Festlegung des Geschlechts eines Kindes durch körperliche Positionierung bereits während des Koitus hin befragt, die vornehmlich biologistisch argumentieren und dennoch Möglichkeiten der Geschlechterhybridität eröffnen.

Konservative Denkordnungen dekonstruieren

Silke Winst (Georg-August-Universität Göttingen) stellte in einem Beitrag mit dem Titel Wikingerinnen. Zwischen DNA-Beweis und kultureller Evidenz die Forschungsmeinung in Frage, dass es sich bei Wikinger(*innen) ausschließlich um Männer handelte.

Als Einstieg bediente Silke Winst sich einer Referenz aus der Popkultur: Die TV-Serie Vikings bezieht sowohl Männer als auch Frauen in den Kriegskontext mit ein. Entgegen des populären Narrativs des kriegerisch aktiven, bewaffneten Mannes sind hier auch Frauen in Machtpositionen existent. Doch welches Bild lässt sich demgegenüber vom realhistorischen Kontext zeichnen? Die im skandinavischen Raum bei Ausgrabungen gefundenen und aus dem Ende des 8. Jahrhunderts bis Mitte des 11. Jahrhunderts stammenden Skelette und beigelegten Artefakte seien in der archäologischen Zuschreibungspraxis lange Zeit nach einer zweifelhaften dualen Geschlechterlogik interpretiert worden: Fanden sich bei den menschlichen Überresten Waffen und andere im Kriegskontext gebräuchliche Utensilien, sei auf ein männliches Individuum geschlossen worden, enthielten die Grabstätten Werkzeuge oder Schmuck, so habe dies als Beleg für einen weiblichen Skelettfund herhalten müssen. Winst problematisierte diese gender-normative Auslegung und verwies auf neuere DNA-Untersuchungen, die für eine Existenz von Wikingerinnen sprechen, wie sie ja auch in der Literatur durchaus begegnen (z.B. in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus).

Heteronormative Gesellschaftsordnungen in Frage stellen

Im Anschluss beschrieb Marie-Luise Musiol (Universität Paderborn) unter dem Titel Wo-/ Bromance im Mittelalter? Homosozialität und Begehren in kleinepischen Texten die Dynamiken homosozialer Strukturen in der vormodernen Literatur.

Den aktualisierenden Titel habe die Vortragende bewusst gewählt, um die aus homophoben Strukturen resultierende Opposition zwischen homosozialen und homoerotischen Verbindungen zu verdeutlichen. Insbesondere der Begriff der ›Bromance‹ würde in homosozialen männlichen Kollektiven mitunter verwendet, um die eigene Heterosexualität zu betonen und sich von gleichgeschlechtlicher Erotik zu distanzieren. An dieser Stelle legte Musiol mit Bezug auf Eve Kosofsky Sedgwick eine differenzierte Definition der Begriffe ›Homosozialität‹ und ›homosoziales Begehren‹ nahe, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Homosexualität ständen.

Als Untersuchungsgegenstand und Plenumslektüre wählte die Vortragende Das Nonnenturnier. Anhand dieses Märes aus dem 15. Jahrhundert beschrieb sie das dynamisierende Potenzial weiblichen Objektbegehrens und dessen Konsequenzen für das homosoziale Kollektiv. Als ein Objekt, welches sich außerhalb der homosozialen Gemeinschaft konstituiere (in diesem Fall: der Phallus), in diese übertritt, löse diese Grenzüberschreitung die interne Ordnung innerhalb der Klostermauern auf. Aus der Kloster- werde eine Turniergemeinschaft, deren destruktives Verhalten einen Bruch des Kollektivs provoziere. Erst durch den Ausschluss des Phallus und den performativen Akt des Schwurs, der vereinbart, kollektiv über den Vorfall zu schweigen, werde schließlich die interne Ordnung wiederhergestellt.

Sexualität als variables Konzept

Judith Klinger (Universität Potsdam) plädierte in ihrem Vortrag Kreuzungen und Que(e)rungen: vormoderne Begehrensdynamiken für eine differenzierte Definition des Terminus ›Begehren‹, die diesen nicht nur desexualisiert, sondern auch dessen dynamisches Potenzial erkennt. Die Vortragende betonte, dass das Begehren nicht zwangsläufig aus einem Mangelzustand erwachsen müsse, sondern vielmehr ein transformatives Moment generiere, indem es Imaginationen und Subjektivierungen freisetze und so dynamisch an der Herstellung von Identitätsfigurationen mitwirke. Die Strategien der Erotisierung beschrieb Klinger als literarische Form des Zusammenspiels von Assoziation und Dissoziation, die ein erotisches (nicht zwangsläufig in sexuelle Handlungen mündendes) Begehren provozieren würden. Dieses sei hier auch außerhalb der heteronormativen Matrix anzunehmen. Judith Klinger setzte ein dynamisches Kontinuum für die Ausformungen homosozialer Begehrensformen an. Dieses Kontinuum sei als ein Feld aus Knotenpunkten, Überlagerungen und Grenzverläufen politischer und erotischer Aspekte zu begreifen.

Zuletzt problematisierte die Vortragende den Sexualitätsbegriff. Die ›Sexualität‹ sei ein historisch variables Konzept und somit sei es nur begrenzt möglich vom gegenwärtigen Sexualitäts- und korrespondierenden Identitätsbegriff auf die Begehrensdynamiken in der Vormoderne zu schließen.

Das erste Coming Out?

Matthias Kirchhoff (Universität Stuttgart) begann den zweiten Tag des Workshops mit einem Vortrag unter dem Titel Das erste Coming Out der deutschen Literatur? ›Der Borte‹ Dietrichs von der Glezze und seine Relevanz für die Queer-Forschung.

Als Plenumslektüre und Untersuchungsgegenstand dienten Textausschnitte aus dem entsprechenden Märe aus dem 13. Jahrhundert. Die homoerotischen Elemente dieses Texts machen ihn zu einem Gegenstand der Queer-Forschung. Als Gegenleistung für materielle Güter zeigt sich der Ritter Konrad bereit, dem Ritter Heinrich, der nach eigener Aussage nur Männer liebt, zu Willen zu sein. Hinter dem vermeintlichen Ritter Heinrich sei jedoch Konrads verkleidete Ehefrau für die Rezipierenden erkennbar, die ihm eine Lektion erteilen will. Insofern und aufgrund der historischen Kategorie ›Sexualität‹ sei es schwierig, von einem ›homosexuellen‹ Coming Out des Ritters (so Andreas Kraß) zu sprechen, auch wenn der Text deutlich mit Konzepten von Homoerotik spiele.

In der Diskussion spielte daraufhin die Frage eine große Rolle, wie eine queere Lesart genau in den Raum zwischen substanzialistischen Zuspitzungen von Geschlecht (›verkleidete Frau‹ vs. ›Identitätswechsel zum Mann‹) vorstoßen könnte.

Zur Konstruktion von Wirklichkeit: Sprachlichkeit und Kontingenz

Unter dem Titel Mann in Frauenkleidern und/ oder ›phallische Frau‹? – Zur Verserzählung ›Irregang und Girregar‹ Rüdegers von Munre ging Andrea Moshövel (Georg-August-Universität Göttingen) in ihrem Redebeitrag auf den Handlungs- und Zuschreibungscharakter von Sprache ein. Der Sprachlichkeit seien Zuweisungsprozesse unvermeidlich inhärent, sie unterlägen dem Imperativ des binären Systems, so Moshövel. Unter Bezugnahme auf Judith Butler schloss die Vortragende die Existenz eines vordiskursiven Körpers bzw. einer vordiskursiven geschlechtlichen Identität aus und betonte, dass die Kategorien ›Sex‹ und ›Gender‹ nicht zu trennen seien, da sich beide durch ihren performativen Charakter auszeichneten. In der vormodernen Literatur sei eine Störung der Geschlechterverhältnisse gleichbedeutend mit der Störung der gottgegebenen Ordnung, die nur durch einen Konsens in der (Geschlechts-) Identität wiederhergestellt werden könne. Die Gender-Performativität der Individuen müsse sich entsprechend der binären heteronormativen Struktur fügen. Folglich beschrieb Andrea Moshövel ›Heterosexualität‹ (im Sinne einer geschlechtlichen Identität) als regulierendes und exklusives Phantasma.

Anhand von Rüdegers von Munre Schwankmäre Irregang und Girregar (um 1300) wurde der Einfluss der Sprachlichkeit auf die zentralen Aspekte ›Begehren, Identität und Körper‹ erläutert. Der Handlungscharakter von Sprache ergebe sich aus seinem Potenzial Wirklichkeit zu konstruieren. Innerhalb der Märe verschwimmen die Grenzen zwischen den tatsächlichen Geschehnissen und der durch Sprache vermittelten Lebensrealität der Figuren besonders deutlich.

Gesellschafts- und Zeichenordnungen verstehen

Von langen Schwertern, Eicheln und männlichen Bräuten. Ein Blick auf die Neidhart-Tradition lautete der Vortragstitel Daniel Eders (Georg-August-Universität Göttingen), der sich in seinem Beitrag mit der Metaphorik im Minnesang und (pseudo-)ständischen Gesellschaftsstrukturen in der Neidhart-Tradition auseinandersetzte. Eder setzte mit einer zeitlichen Periodisierung des Minnesangs ein und verwies auf die bis heute vorherrschende Forschungsansicht, dass dieser an einer Etablierung einer ›heterosexuellen‹ Begehrensnorm arbeite. Aus der Annahme, dass das Sänger-Ich der Lieder im Normalfall als ein männliches zu konzeptualisieren sei, sei eine besondere Markierungsbedürftigkeit der weiblichen Rede abgeleitet worden, die moderne Editor*innen z.B. durch Anführungsstriche vornehmen. Diese Auslegungen basieren aber sehr häufig auf einer heteronormativen Setzung, so dass zu überprüfen sei, ob durch ein Queer Reading nicht auch andere Interpretationen möglich seien.

Im Folgenden nahm Daniel Eder homosoziale Begehrensstrukturen in Neidharts Dörperliedern (13. Jahrhundert) und deren Überspitzung in der gedruckten Schwankreihe von Neithart Fuchs in den Blick.

Queer Reading als (Wieder-) Aneignungsverfahren?

Anna Bers (Georg-August-Universität Göttingen) stellte unter dem Titel Gedichte queer lesen? eine Auswahl von üblicherweise nicht als queer gelesener Lyrik vor, die im Plenum rezipiert und diskutiert wurde, um daran das Potential und die Grenzen der Lektüre ›Gegen den Strich‹ zu erproben. Eingehend beschäftigten sich die Teilnehmer*innen mit dem wohl bekanntesten Sonett William Shakespeares Shall I compare you to a Summers day?, mit Johann Wolfang von Goethes Fünfter Römischer Elegie und dem in jüngsten Debatten heftig kritisierten Avenidas von Eugen Gomringer. Der konzeptuellen Realisierung von ›Gender, Begehren und Erotik‹ kam besondere Aufmerksamkeit zuteil. Im Plenum wurde zunächst nach der geschlechtlichen Identität der in Shakespeares Sonetten adressierten Person gefragt. Anschließend versuchten die Teilnehmer*innen Gomringers Gedicht durch ein alternatives Lektüreverfahren zu dekonstruieren und die Rolle und Funktion des inkriminierten »admirador« zu untersuchen. Der Vorwurf des männlich-heteronormativen und objektivierenden Voyeurismus konnte und sollte dabei nicht gänzlich ausgeräumt werden, jedoch wurde auch der Blick auf gewisse Reibungspunkte in der sprachlichen Organisation des Gedichts gelenkt.

Bewusstsein für alternative Logiken schaffen

Henrike Manuwald (Georg-August-Universität Göttingen) fasste im Anschluss an den zweitägigen Workshop die relevantesten Diskussionspunkte und Ergebnisse zusammen. Insbesondere die Problematik im Gebrauch von Begrifflichkeiten wurde erneut aufgegriffen. Zudem stellte sich auch die Frage nach einer Differenzierung zwischen Queer Reading als hermeneutischem Verfahren und queerer Motivik als textinhärentem Gegenstand.

Manuwald legte abschließend nahe, im Bewusstsein der Queer Theory normativen Vorannahmen und Sinnzuschreibungen stets kritisch zu begegnen und diese auf alternative Deutungsansätze hin zu untersuchen. Ob diese Konzeptkritik und eine für Widerständiges im Text sensible Lektürehaltung gegebenenfalls auch in ein weiter gefasstes methodisches Label münden werden, bleibt abzuwarten – einen wichtigen Beitrag auf dem Weg dorthin können die Queer Studies in jedem Falle leisten.

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