Unter dem Boden der Stadt

29 Erzähler und Erzählerinnen kommen in Robert Seethalers neustem Roman Das Feld zu Wort. Durch die mal mehr, mal weniger zuverlässig erzählten Lebensgeschichten erschafft der Autor einen Eindruck des Miteinander- und Aneinander-Vorbei-Lebens zwischen den Fassaden einer fiktiven Kleinstadt.

Von Belinda Schantong

Bild: Vertrockneter Blumenkranz von Heiko Fischer via wikimedia / CC0

Vier Jahre nach seinem letzten Roman Ein ganzes Leben macht sich Robert Seethaler mit seinem neusten Werk Das Feld wieder auf die Suche nach der Essenz des Lebens. Auf knapp 240 Seiten erzählt der renommierte deutsch-österreichische Autor diesmal nicht nur eine, sondern knapp dreißig Lebensgeschichten. Dabei ähneln sich die Erzähler und Erzählerinnen dieser Geschichten eigentlich nur in einem: Sie liegen alle längst unter der Erde.

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Robert Seethaler
Das Feld

Hanser: Berlin 2018
240 Seiten, 22,00€

Jede Figur hat ein eigenes Kapitel und Seethaler schafft es, jeder von ihnen eine einzigartige Stimme zu verleihen. Die Verblichenen sind sich zwar darüber bewusst, dass sie tot sind, doch sie gehen ganz unterschiedlich mit dieser Tatsache um. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Geschichten, denn jede Figur entscheidet für sich selbst, was sie den Lesenden preisgeben möchte. Viele erzählen von ihrem Tod. Die meisten von ihrem Leben. Manche richten noch nachträgliche letzte Worte an ihre Hinterbliebenen. So entspinnt sich unter dem Blick der Lesenden ein Netz aus Einzelschicksalen, die nicht nur jedes für sich erzählenswert sind, sondern auch ein größeres Ganzes ergeben: Ein Abbild von Paulstadt, dem fiktiven Ort, an dem die Figuren alle gelebt haben.

Kapitel für Kapitel lässt sich dieses wie ein Mosaik freilegen, das aber kein abschließendes Gesamtbild ergeben will. Die einzelnen Geschichten kreuzen sich an manchen Stellen, verlaufen manchmal ein Stück weit parallel, zeigen manchmal dasselbe Ereignis aus verschiedenen Perspektiven, doch es gibt keinen Start- oder Endpunkt. Keine große, gemeinsame Geschichte. Stattdessen gibt Seethaler den Lesenden einige Orientierungspunkte: Großereignisse aus der jüngeren Geschichten Paulstadts, die über das Buch hinweg von verschiedenen Erzählern und Erzählerinnen immer wieder erwähnt werden. So gab es zum Beispiel einen Kirchenbrand, an den sich viele erinnern, oder ein tragisches Unglück im Paulstädter Freizeitzentrum. Nach und nach erfahren die Lesenden von den Ursachen und Konsequenzen dieser Katastrophen. Der Umstand, dass Paulstadts jüngere Geschichte auf einem Fundament aus tragischen Ereignissen ruht, trägt sicherlich weiter zu der allgemein traurigen und melancholischen Atmosphäre bei, die das Buch beherrscht. Diese Grundstimmung ist allerdings auch Voraussetzung dafür, dass die schönen, die warmen und die bittersüßen Momente hervorstechen, die sich immer wieder in den einzelnen Lebensgeschichten finden lassen. Etwa die zarte Freundschaft, die sich zwischen zwei krebskranken alten Frauen entspinnt oder die Erinnerungen einer Frau an ihren Mann, der ihr ganzes Leben lang ihre Hand gehalten hat.

Die Versuchung ist groß, an Seethalers neustes Werk mit Stift und Papier heranzugehen, sich einen Plan aus beschrifteten Strichmännchen zu erstellen und ihre Beziehungen zueinander festzuhalten. Denn bei der Fülle an Namen, die Das Feld einem vorlegt, läuft man nicht einfach nur Gefahr, etwas wieder zu vergessen, es ist quasi vorprogrammiert. Doch im Grunde spiegelt auch das nur die Realität wider: Während uns manche Verstorbene sehr lebhaft im Gedächtnis bleiben, verblasst die Erinnerung an andere nach und nach. Es lohnt sich dadurch aber auch, das Buch mehrfach in die Hand zu nehmen und die Geschichten Paulstadts mit einer neuen Perspektive ein weiteres Mal zu ergründen.

Das Feld ist ganz in der Art geschrieben, wie wir es von Robert Seethaler gewohnt sind: Schlicht, aber schön. Gewiss wird in dem bunten Mix an Erzählstilen, die die einzelnen Charaktere ausmachen, nicht jeder alles mögen, doch ist für jeden etwas mit dabei: Von dem alten Mann, der nur in Bildern zu denken scheint, zur unzuverlässigen Erzählerin, deren Geschichte im nächsten Kapitel aus der Perspektive ihres Mannes widerlegt wird, bis zu dem Kind, dessen Blick auf die Welt gänzlich surreal wirkt. Das Buch hinterlässt ein Gefühl der Wehmut und erweckt in dem ein oder anderen vielleicht auch ein Bedürfnis, den Lieben, die er verloren haben mag, ab und an eine frische Blume vorbeizubringen.

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