Was uns passiert

Die Kellerkultur verabschiedet sich fulminant aus dem Jahr 2018: Bettina Wilpert liest am Mittwoch, dem 12. Dezember aus ihrem vielbesprochenen Debüt nichts, was uns passiert. Im Gespräch mit Urte Schröder spricht sie über rape culture, Sprechverbote und die Frage, wie Vergewaltigung in unserer Gesellschaft begegnet wird.

Von Mara Becker

Bild: Schröder, Wilpert (Foto: Litlog, CC0)

Um kurz nach 19 Uhr ist jeder Stuhl, jeder Sessel belegt. Auch auf den Fensterbänken von Dabis Kaffeestube sitzt das Publikum der letzten Kellerkultur-Lesung des Jahres und lauscht den ersten Worten von Bettina Wilpert: »Ich sag’ das nochmal deutlich: es geht um sexualisierte Gewalt.« Eine Triggerwarnung am Anfang einer Lesung mag ungewöhnlich anmuten, ist in diesem Fall aber wenig überraschend: einerseits entspricht die Autorin damit der brenzligen Natur des Themas Vergewaltigung, andererseits unterstreicht sie so die Situiertheit ihres Romans, für den sie unter anderem den »aspekte«-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres 2018 erhalten hat, in die linke Debattenkultur. Mit Moderatorin Urte Schröder versteht Wilpert sich prächtig – gemeinsam bestreiten sie trotz des brisanten Themas einen kurzweiligen, höchst harmonischen Abend.

Eine Studie der linken Studierendenszene?

Anna, die sich in den letzten Zügen ihres Studiums in Leipzig befindet, wird vom Doktoranden Jonas nach einer Gartenparty gemeinsamer Freunde vergewaltigt – sagt sie Monate später, als sie Anzeige erstattet. Jonas hingegen bestreitet eine Vergewaltigung, spricht von einvernehmlichem Sex. Der Konflikt, um den sich Bettina Wilperts Debüt dreht, ist ein Beispielszenario der Auswirkungen, die der sogenannten rape culture – auch an Universitäten – angelastet werden. Die Forderung nach consent, nach Yes Means Yes, spricht deutlich aus diesem Buch. Umfassend zeichnet Wilpert sowohl die juristischen als auch, und das hauptsächlich, die sozialen Folgen nach, die Anna und Jonas erleben. Der gemeinsame Freundeskreis ergreift Partei, zieht Konsequenzen.

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Bettina Wilpert
nichts, was uns passiert

Verbrecher Verlag: Berlin 2018
168 Seiten, 19,00 €

Protokolliert von einer namenlosen Erzählinstanz werden die unterschiedlichen Perspektiven auf die Gartenparty, den Tathergang und die darauffolgenden Monate geschildert. Dabei wird immer wieder deutlich: Sowohl Anna als auch Jonas werden stigmatisiert. Wo Anna bei der Polizei Fragen nach ihrem Alkoholkonsum, ihrer Kleidung, ihrem Sexualverhalten beantworten muss, als sie Anzeige erstattet, da wird Jonas in der Kneipe, in der er sich ehrenamtlich engagiert, Hausverbot erteilt. Er wird von der Universität als wissenschaftlicher Mitarbeiter entlassen und von Bekannten gemieden.

Wilpert erzählt, dass sie in nichts, was uns passiert über ihr bekannte Dinge schreiben wollte. Zwar handele es sich nicht um einen autobiographischen Roman, dennoch habe sie das linke Studierendenleben bewusst als Setting gewählt. Und die Sicherheit, mit der sie diese Szene skizziert, meint man auch in den vier Textauszügen zu hören, aus denen Wilpert im Laufe des Abends liest.

Das Plenum der M16, besagter selbstverwalteter Kneipe (Marke VoKü, Punkband, kollektivbetrieben), erklärt Jonas seinen Ausschluss wie folgt:

Es war mutig und wichtig von Anna, Anzeige zu erstatten. Und deswegen, […] muss man Anna unterstützen, denn allein statistisch war es unwahrscheinlich, dass sie log. […] Vergewaltigung war ein strukturelles Problem – kein persönliches.

Anna wird von einer dort extra für sie gegründeten Support-Awareness-Group angesprochen, die ihr anbietet, sich für sie einzusetzen – und den Leser*innen drängt sich der Eindruck auf, dass die überforderte Anna selbst nicht genau weiß, was sie davon halten soll. Der betroffenen Person unbedingt glauben – das ist einer der Grundsätze der #metoo-Bewegung. Und obwohl Wilpert betont, dass sie diesem zustimmt, übt sie Kritik an den Sprechverboten, die schnell in den Debatten um sexualisierte Gewalt herrschen: Sie warnt davor, Menschen kategorisch aus Diskursen auszuschließen und die Namen einzelner Individuen zu veröffentlichen.

Das Bedürfnis, der Sache aus dem Weg zu gehen

Hannes, ein gemeinsamer Freund, schlägt sich mit Schuldgefühlen herum – denn er hat Anna und Jonas einander vorgestellt. Er hat Jonas geholfen, die betrunkene Anna auf dessen Zimmer zu bringen, und ist danach gegangen. Er kennt beide gut. Und so hadert er, ist unsicher, spricht von »einer Art Brain Freeze«, die ihm das weitere Nachdenken über die Situation erschwert:

Wer wollte schon mit einem Vergewaltiger befreundet sein, sagte Hannes. Natürlich war es für ihn und die anderen Leute, das Einfachste zu sagen: Anna lügt. […] Weil es einfacher war, sich vorzustellen, Anna würde lügen, als sich vorzustellen, Jonas sei ein böser Vergewaltiger. Es war in dieser Gesellschaft schlimmer, ein Vergewaltiger als ein Mörder zu sein. Nur Pädophile waren noch schlimmer.

Neben Expert*inneninterviews mit einer Polizeihauptkommissarin für Ermittlungen in Sexualdelikten und einer Opferanwältin nennt Wilpert auch Mithu Sanyals Vergewaltigung als Einfluss. Der Täter, der zum Monster wird – gegen dieses Bild sträubt sich die Autorin. Man sei nicht nur Täter, sondern auch Mensch, und deswegen sei Jonas auch so dezidiert sympathisch gezeichnet: eine Identifikation mit ihm ist möglich, stellenweise vielleicht sogar möglicher als eine Identifikation mit Anna.

Das Bedürfnis, sich zu positionieren

Die Schlüsselszene des Romans besteht für Moderatorin Urte Schröder aus einem einzigen Satz: »Sie kam erst wieder in Jonas’ Bett zu sich, als Jonas ihr die Hose auszog« Ganz klar: hier sei eine Vergewaltigung vorgefallen, so Schröder. Wilpert freut das sichtlich, sie stimmt zu – so würde sie das, was Anna passiert, auch klassifizieren, und verzichte deswegen bei Lesungen darauf, vom »vermeintlichen Täter« zu sprechen. Nichtsdestotrotz sei der Roman bewusst offen angelegt, und genau diese Tatsache macht ihn zum »Debattenbuch«. Denn gleichzeitig ist die Schlüsselszene des Buchs eine Leerstelle für die Leser*innen, die Anna und Jonas so grundlegend unterschiedlich wiedergeben, dass es schwerfallen kann, eine Entscheidung zu treffen. Und trotzdem ist das Thema Vergewaltigung so brisant, dass es genauso schwer fällt, keine Entscheidung zu treffen.

Die rege Publikumsbeteiligung in der Fragerunde, mit der die Kellerkultur-Lesung endet, zeigt dies ganz deutlich. In Göttingen sieht das Publikum einer Wilpert-Lesung vorhersehbar studentisch aus – im Kontrast zu der Lesereise, die die Autorin jüngst durch verschiedene Stadtbibliotheken in eher ruralen Gebieten Sachsens geführt hat. Dort seien die Urteile ungewohnt krude gewesen: Anna sei selbst schuld, wenn sie so viel Alkohol konsumiert habe. Diese Meinung höre Wilpert nicht oft, so die Autorin selbst. Dennoch habe sie auch mit solchen Aussagen gerechnet, da die Offenheit des Romans sie ermögliche. Der Diskurs um Wilperts Debüt verdeutlicht, dass die #metoo-Debatte noch lange nicht ausgehandelt ist – und dass nichts, was uns passiert einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion leistet.

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