Mit dem Aufstieg der AfD in Deutschland und der Bundestagswahl 2025 gibt es ein Thema, das überall omnipräsent diskutiert wird: Migration. Für Tahsim Durgun fehlt in der Migrationspolitik aber eine Gruppe am Verhandlungstisch: Die Migrant:innen selber. In seinem ersten Buch Mama, Bitte Lern Deutsch erzählt er Aufwachsen in einer kurdischen Migrationsfamilie zwischen Alltagsrassismus und Ausländerbehörde.
Von Lea Stockmann
Bild: via Pixabay
Tahsim Durgun ist in Deutschland geboren – trotzdem bekommt er als Kind keinen deutschen Pass. Seine Eltern sind Êzîden (häufig auch Jesiden genannt) und vor über 30 Jahren nach Deutschland geflüchtet. Seitdem haben sie lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung. So findet Durguns Kindheit und Jugend zwischen Terminen in der Ausländerbehörde und dem Übersetzen der Aldi Prospekte statt. Während Durgun und seine drei Geschwister Deutsch lernen und bald fließend sprechen, haben seine Eltern Probleme, Deutsch zu lernen. Besonders für seine Mutter, die in ihrem Alltag als Putz- und Hausfrau kaum in Berührung mit der deutschen Sprache kommt, muss Durgun im Alltag immer wieder übersetzen: sei es im Supermarkt, beim Arzt oder bei der Ausländerbehörde.
Das »Ihr« und das »Wir«
In acht Kapiteln rekapituliert Durgun die ersten 16 Jahre seines Lebens und erzählt von seiner Zeit in der Schule, den deutschen Behörden und seinem Aufwachsen in der »Gerüstlandschaft«, einer heruntergekommenen Siedlung in Oldenburg mit vorrangig ausländischen Familien. Fünf Minuten von dieser Siedlung entfernt gibt es eine Nachbarschaft mit fast ausschließlich deutschen Familien: modern und wie eine andere Welt. Es gibt für Durgun immer ein »Ihr« und ein »Wir«. »Ihr«, die Deutschen, die in ihren Einfamilienhäusern wohnen, am Gardasee Urlaub machen und in die Schule Kuchen mitbringen. Und »Wir«, Menschen wie Durgun, die sich mit ihren Geschwistern die Zimmer teilen müssen, in den Ferien nach Hannover zur Familie fahren, in der Schule zum Deutsch-Förderunterricht geschickt werden und die Mitschüler:innen mit Ritualen ihrer Familien, wie das Schlachten von Schafen, irritieren.
Trotzdem spricht Durgun positiv von seiner Heimat: »Meine Kindheit in der Gerüstlandschaft war schön und ausgelassen […] [und] unsere Leben waren stets umgeben von den Häuserblocks, die uns wie eine Mauer schützten«. Innerhalb seines Wohnblocks führten Durgun und seine Familie ein Leben zwischen Spielplätzen, Familienalltag, Sorgen und schönen Momenten – wie viele andere auch. Trotzdem endet Durguns Normalität an der Grenze der »Gerüstlandschaft«. Im Supermarkt werden er und seine Mutter zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt, in der Schule bekommt er ungewollt eine Sonderbehandlung und in der Neubausiedlung gehen seine deutschen Nachbar:innen davon aus, dass er nicht »von hier« sei. Durgun ist in Oldenburg in der »Gerüstlandschaft« zuhause und trotzdem gibt es eine spürbare Grenze zu dem »Ihr«, die für ihn nur fünf Minuten von der eigenen Haustür entfernt liegt.
Sprache als Gegenangriff
Der Alltagsrassismus hört nicht in der Schule oder im Supermarkt auf. Schon als Kind weiß Durgun, was die Ausländerbehörde ist, übersetzt offizielle Dokumente und bekommt mit fünf seinen ersten Abschiebebrief, obwohl er in Deutschland geboren wurde:
»Ich war fünf Jahre alt, als mir auf einem Stück Papier mitgeteilt wurde: Du gehörst nicht in das Land, in dem du geboren wurdest.«
Nur mühsam erkämpft sich Durguns Familie immer neue Aufenthaltsgenehmigungen und heute besitzt Durgun den deutschen Pass. Dennoch legt die Bürokratie der deutschen Ausländerbehörde Durguns Familie immer wieder Steine in den Weg. Sei es durch komplizierte Gesetzesparagraphen oder durch Mitarbeiter:innen, die ohne jeglichen Grund den Sicherheitsdienst wegen ihnen alarmieren und deutlich machen: Menschen wie Durgun sind hier nicht erwünscht. Die Benachteiligung findet nicht nur in Behörden statt, auch von Ärzt:innen werden Durgun und seine Familie weniger ernst genommen und es wird sich weniger gründlich um ihre gesundheitlichen Probleme gekümmert als bei anderen. Durgun spornt diese Respektlosigkeit und Chancenungleichheit an: »Auf meinem Bildungsweg eignete ich mir das Werkzeug der Unterdrücker an, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ich bin aufgrund dieses rassistischen Systems ein Nerd der Fachbegriffe geworden.«
Auch in diesem Buch spielt die Sprache eine große Rolle: Jedes Kapitel stellt die Frage nach einem sprachlichen Mittel, wie zum Beispiel »Mama, was ist eine Metapher?« und verbindet so Durguns Sprachgewandtheit mit der Liebe zu seiner Mutter, die von ihm als eine sehr intelligente Frau beschrieben wird, die auf Kurdisch die schönsten Metaphern nutzt und malerisch erzählen kann, aber auf Deutsch sprachlich eingeschränkt ist, da sie die Sprache nie richtig lernen konnte. Nicht nur als Lesende fragt man sich, wie es sein kann, dass Durguns Mutter nach über 30 Jahren in Deutschland kaum Deutsch spricht, sondern auch Durgun selbst fragt sich genau das. Aber die Erklärung ist mehr als bedrückend und einleuchtend: Seine Mutter hat in ihrem Alltag als Haus- und Putzfrau kaum Interaktionen auf Deutsch und wenn sie versucht hat, zu lernen, wurde sie von deutschsprechenden Personen abgewiesen. Sie hat sich über die Jahre immer wieder zu Deutschkursen angemeldet. Dort haben jedoch unzählige Stunden nicht stattgefunden. So lernte sie mehr von ihrem Sohn, wenn er ihr den Unterschied zwischen Nomen und Verben erklärte, als von der »dumme[n] Lehrerin, die angeblich jedes Mal krank war.« Die sprachliche Barriere und die mangelnde Förderung schränkt die Leben der Familienmitglieder ein und es macht sprachlos, wenn Durguns Mutter zugibt: »Ich traue mich nicht zu träumen. Ich wurde nicht dafür gemacht.«
Lichtblicke
Trotz der Stolpersteine und Barrieren spricht Durgun von Wohlstand: seine Familie hat ihr Ziel erreicht, mit dem sie damals nach Deutschland gekommen sind: Seine Eltern konnten ihm und seinen Geschwistern ein besseres Leben bieten als in den Bergen der Osttürkei, wo sie als Êzîden verfolgt wurden. Und auch Durgun wurde in der Schule nicht nur von Lehrer:innen und Mitschüler:innen ausgegrenzt, sondern auch in der Gesamtschule aufgenommen und gefördert. So ist Durgun heute 29 und hat Deutsch und Geschichte auf Lehramt studiert. Zurzeit verdient er sein Geld mit Tiktok und Instagram und träumt von einer eigenen Fernsehshow. Dennoch schließt er es nicht aus, irgendwann mal als Lehrer zu arbeiten und die Vorbildsfigur zu sein, die ihm im deutschen Schulsystem so oft gefehlt hat.

Mama, bitte lern Deutsch
Droemer Knaur: 2025
208 Seiten, 18 €
Zwischen all den Schwierigkeiten und dem Gefühl des Anderssein wird eine Sache deutlich: Deutschland legt Familien wie Durguns viele Steine in den Weg und trotzdem findet zumindest er Glück und gute Beziehungen in seiner Familie. Im Buch ist trotz der Schwere immer wieder Zeit für Humor, Sarkasmus und die Alltagsbeschreibungen einer Kindheit auf dem Spielplatz und einer Jugend mit Partys und ersten Erfahrungen.
Pflichtlektüre für alle
Durgun schafft es mit seinem trocknen Humor, bedrückende Schilderungen immer wieder zu heben und die Lesenden zum Lachen zu bringen. Im nächsten Moment wird einem aber zum Weinen zumute, wenn Durgun die unfaire und rassistische Behandlung seiner Familie beschreibt. Dieser schmale Grad zwischen Lachen und Weinen zieht sich durch die 200 Seiten und in seiner mitreißenden und nahbaren Narration gibt Durgun nebenbei tiefe Einblicke in seine Kindheit und Jugend.
Mama, Bitte Lern Deutsch ist nicht nur ein Liebesbrief an Durguns Mutter, die ihre Träume für ihre Kinder geopfert hat, sondern ein Appell an die deutsche Gesellschaft: »Dieses Buch ist die AfD – aber eine echte.« Es ist ein Spiegel für die Lesenden, die sich bei diesem Buch fragen sollten, wie in Deutschland eigentlich Integration definiert wird und ob der jetzige Umgang mit Migrant:innen eher zu Integration oder zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen führt. Es ist ein Buch, welches zum Nachdenken anregt und das von allen gelesen werden sollte, die die zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Debatten rund um das Thema Migration mitverfolgen und von allen Seiten betrachten möchten. Denn wenn dieses Buch eines zeigt, dann, dass das Thema Migration nicht ohne die Migrant:innen angegangen werden kann.

