Der Buchpreis beim Herbst

Fünf Tage nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises macht Saša Stanišić mit seinem prämierten Buch Herkunft Halt in Göttingen. Mit Stephan Lohr spricht er vor restlos ausverkauftem Saal über Erinnerung, Erfindung und Tatsachen – auch aufgrund des diesjährigen Literaturnobelpreises.

Von Mara Becker

Bild: Von MabelAmber via Pixabay, Pixabay Licence

»Das ist jetzt der erste Termin, auf den ich mich wirklich gefreut habe«, lächelt Stanišić in die Runde, nachdem er sich unter tosendem, fast übermütigem Applaus auf die hell erleuchtete Bühne des Alten Rathauses gesetzt hat. Er sieht deutlich fitter aus als noch am vergangenen Montag, als er den Deutschen Buchpreis 2019 verliehen bekam – und gleich zu Beginn seiner Dankesrede auf seine Schilddrüsenentzündung verwies, wegen derer er möglichen Gratulant*innen empfahl, in sicherer »Spuck-Distanz« zu bleiben. Stephan Lohr, der den Abend moderiert, verzichtet auf eine umfassende Einführung zum Autor und steigt stattdessen mit der Frage ein, ob Stanišić denn damit gerechnet habe, den Preis zu gewinnen. Die Antwort folgt sofort und sehr zum Amüsement des Publikums: »Ja, selbstverständlich«.

»Ein autofiktionales Buch mit Romangedanke«

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Reihe

Vom 18.-28. Oktober fand der 28. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlicht Litlog ab jetzt bis 15. November jeden Werktag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick.

Stanišić ist schon lange kein Geheimtipp mehr in der deutschen Literatur – erst dieses Jahr gehörte sein Roman Vor dem Fest, für den er 2014 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden war, zur Abiturlektüre in Hamburg. Jetzt also der Deutsche Buchpreis 2019 für Herkunft, ein Buch, das er selbst als »Selbstportrait mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits« bezeichnet. In ihrer Rezension hinterfragte Miriam Weinrich unlängst, ob Herkunft überhaupt ein Roman sei – schließlich bewege der Autor sich zwischen Autobiographie, Reisebericht, Politischem Essay und sogar Choose-Your-Own-Adventure. Auch der Verlag entschied sich dafür, entgegen dem aktuellen Trend darauf zu verzichten, die Etikette »Roman« auf das Cover zu drucken. Dass die Jury des Buchpreises sich davon nicht abbringen ließ, Herkunft zu berücksichtigen, gefällt Stanišić natürlich sehr: Es sei eben »ein autofiktionales Buch mit Romangedanke.«

Er sei »ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraue«, zitiert Lohr das Juryurteil – und wird prompt unterbrochen:

Und das freut mich so richtig. Wie super ist das denn!

platzt es aus Stanišić heraus. Diese Nahbarkeit greift auf den vollbesetzten Saal im Alten Rathaus über. Es wirkt, als habe er sich mit 300 seiner engsten Freunde verabredet, um über sein frisch prämiertes Werk zu reden. Wohin man blickt: stolzes Lächeln, zustimmendes Nicken, Gelächter und Gekicher, es ist eine einzige Inside-Joke-Veranstaltung, die hier stattfindet. Es scheint, als verstehe man sich blind. Die Grenze liegt im Anstand

Doch das ist gar nicht so selbstverständlich. Denn Stanišić positioniert sich deutlich in der aktuellen Debatte um die Verleihung des Literaturnobelpreises 2019 an Peter Handke – und nutzte auch seine Dankesrede beim Buchpreis, um die Handke-Ehrung zu kritisieren. Doch warum die vielleicht wichtigsten Minuten der eigene Karriere nutzen, um über einen anderen Preis zu sprechen? Für Stanišić wird mit Handke ein Autor mit dem wichtigsten Literaturpreis der Welt prämiert, der die Grade des menschlichen Umgangs überschreitet, der sich der Verantwortung desder Schriftstellersin entzieht »Das ist komisch, finde ich, dass man sich die Wirklichkeit, indem man behauptet, Gerechtigkeit für jemanden zu suchen, so zurechtlegt, dass dort nur noch Lüge besteht. Das soll Literatur eigentlich nicht«, sagte er im Frankfurter Römer am Montag. 

Der Vorwurf: Peter Handke, der seit den 1960er Jahren mehr als 30 Erzählungen und Prosawerke verfasst hat, relativiere in seinem Werk Kriegsverbrechen. Vor allem in einem Text, der 1996 unter dem Titel Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien im Suhrkamp Verlag erschien, mache Handke den Genozid an Bosniak*innen und Kroat*innen zur Auslegungssache und verteidige verurteilte Kriegsverbrecher. »Dass ich hier heute vor ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat«, so Stanišić weiter in seiner Dankesrede.

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Saša Stanisić
Herkunft

Luchterhand: München 2019
368 Seiten, 22,00€

Im Gespräch mit Stephan Lohr erklärt er, dass er als Betroffener spricht: Als er von Handkes Prämierung hörte, habe er »gezittert vor Wut«, weil diese einem Werk Absolution erteile, in dem »Genozid in Sprache weitergehe«. Einen angemessenen Umgang mit Tatsachen, mit historischen Wahrheiten, die zweifelsfrei dokumentiert seien, halte er für eine wichtige Verantwortung der Literatur, und Handke entziehe sich ihr. Gleichzeitig betont Stanišić aber auch, dass er das Gespräch über ästhetische Verfahren in der Literatur, über die Trennung von Autor und Werk und das Spannungsfeld zwischen Haltungen und Wahrheiten begrüße, das durch die Kritik am diesjährigen Literaturnobelpreis ausgelöst wurde.

Die Lesung und: Staunen über Balanceakte

Auch Herkunft thematisiert die Jugoslawienkriege. Stanišić, der in Jugoslawien geboren wurde, liest an diesem Abend fünf Auszüge am Stehpult – weil er beim Lesen lieber steht, wie er selbst sagt. Man merkt das: Sitzend wäre wohl kaum so viel Gestik, so viel Hin- und Hergedrehe möglich. Im Publikum murmelt es: »Kann der denn das ganze Buch auswendig?«, weil es tatsächlich mehr von einem Vortrag als von einer Lesung hat, was er da liefert. Er liest von seinem Großvater Muhamed, vom Tag der Jugend, an dem er zum Stafetten-Träger ausgewählt wurde, von der Liste, die kurz vorm Krieg heimlich in seiner Klasse herumging und in der man sich in einer Spalte eintragen sollte: Moslem / Serbe / Kroate. Er liest auch von den ersten Erfahrungen in Deutschland 1992, kurz nach der Flucht vor bosnisch-serbischen Truppen, die seine Heimatstadt Višegrad besetzt hatten.

Dezidiert erzählt er den Krieg aber nicht – seinem Literaturverständnis entspreche es, die »Grenzen des Anstands« zu wahren. Dazu gehöre es unbedingt, Menschen und Umständen den nötigen Respekt zu zollen: Er vertraue darauf, dass er einen Schuss nicht hören lassen müsse, damit dieser von den Leser*innen wahrgenommen werde – so habe er es schon in seinem Debüt Wie der Soldat das Grammophon repariert gehalten. Der Witz, der in seinen Texten stets mitschwingt, sei dabei genauso bedacht platziert wie die Distanz der Erzählung zu Gewaltbeschreibungen. In einem Buch, das auch ein Abschied von seiner eigenen dementen Großmutter ist, schafft Stanišić es, lustig zu sein ohne vom eigentlichen Kern der Aussage abzulenken. Dieser Balanceakt ist es, der Herkunft auszeichnet.

Saša Stanisić auf der betretbaren Bühne des Alten Rathauses (©Literaturherbst, Fotograf: Dietrich Kühne)

Diese Kunst beherrscht er aber nicht nur im Schreiben: der Autor gestaltet auch einen Abend über Wut, Peter Handke und das Erinnern leichtfüßig und humorvoll. Es wird viel gelacht, und gegen Ende der Veranstaltung – Stanišić hat gerade die letzte Passage gelesen, steht noch am Pult, dreht sich zum Moderator um – eilt eine Zuschauerin auf die Bühne und flüstert ihm ins Ohr, er solle doch davon erzählen, wie er anonymisiert die Abiturprüfung zum eigenen Buch mitgeschrieben habe. Kurz darauf – Lohr erwähnt in der Abmoderation gerade, der Autor signiere auch gerne im Anschluss – stürmt eine weitere Zuschauerin die Bühne, das Buch schon in der Hand. Es passiert nicht oft, dass die Bühne bei einer Lesung im Alten Rathaus so betretbar wirkt. Während Lohr das Publikum verabschiedet, steht Stanišić längst im Dunkel abseits der Scheinwerfer und signiert die ersten Exemplare.

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