Garderobe zum Verlieben

Ferdinand Hardekopf ist als Schriftsteller heute kaum noch bekannt. Die Berliner Briefe zeigen eindrucksvoll: zu Unrecht! Litlog Autor Philip Flacke führt uns in das Werk ein, das schon Hesse und Tucholsky zu begeistern wusste.

Von Philip Flacke

Bild: Von John Höxter via Wikimedia Commons, gemeinfrei

Es tut weh, dass Harry Rowohlt nicht mehr schreibt; zungestreichelnd, synapsenkitzelnd, pulspumpend – was Feuilleton alles kann! –, der für jeden Gedankenstrich und jedes Sternchen Grabenkämpfe ficht, der Trinklied-Übersetzungen vergleicht und immer mal wieder ›fürbass‹ benutzt, damit es im Duden bleibt. Denn Stil zählt was. Findet auch der hier:

Ich habe nur noch sehr wenig Wünsche; ich bin ein sehr resignirter Schreiber Berliner Briefe; aber das Eine wünsche ich doch zu erleben: daß wir guten Deutschen in Kunstsachen ein bißchen weniger auf die Zufälligkeit des stofflichen Inhalts und etwas mehr auf die künstlerische Form, die Technik des Stils achten lernen.

Autor dieser Sätze ist Ferdinand Hardekopf (1876–1954), der dem Gedankenstrich gleich eine Novelle widmet und außerdem mit Harry Rowohlt die Vorliebe zum Wort ›Tingeltangeln‹ teilt. Beide gehören sie zu den wenigen Schreibern, die sich unter anderem als Übersetzer einen Namen gemacht haben. Wenngleich Thomas Mann auch mal empfahl, ohne gelesen zu haben, schreibt er 1929 mit vollem Recht: »Hardekopf ist, glaube ich, unser bester Übersetzer aus dem Französischen.« (Genauso zitierwürdig: wie jener sich weiter über dessen Kommasetzung echauffiert – »›Seine, stets wache Empfindlichkeit.‹ Das ist ja eine Schrulle.«)

Die übrige Fürsprecher-Liste mögen Arno-Schmidt-Publikum und andere Autoritätsneugierige selbst nachschlagen – sie ist lang genug. Das bessere Argument, warum man eine*n Autor*in schätzen sollte, gibt ›Hardy‹ selbst (in der Besprechung eines Otto-Erich-Hartleben-Dramas): »seine Sätze sind wie Herren in tadelloser Wäsche. … Deshalb müssen wir ihn lieben, wie Alles, was Stil hat.« Also: Wie sitzt die Garderobe seiner eigenen Sätze? – Ferdinand Hardekopf schreibt gewitzt (»In München zu leben, erscheint mir verächtlicher, als die meisten anderen Todesarten.«), genau (allein ›Weißbierphilistertum‹ oder ›Geistreicheln‹), geziert (»und ein gedämpftes elektrisches Licht gießt über alles den Zauber des Rembrandt’schen Hell-Dunkel aus«), gewinnend (»Ich, wir Anderen, die wir nicht russische Millionäre sind«). Seine Gedichte gehören zum Delikatesten deutschsprachiger Lyrik und seine Prosa ist so fein wie Kleist:

Auch an Messerstechereien hat es nicht gefehlt, und eine tragische Note brachte in dies tolle, alkoholisch-wilde Treiben die furchtbare Mordthat, die sich eben um die Zeit der Jahreswende, da von allen Thürmen Berlins die Glocken feierlich läuteten und in seligen Purpurräuschen Tausende verliebter Augenpaare sich entgegenglänzten, im Südosten der Reichshauptstadt, in der Oranienstraße, abgespielt hat.

Auf einen Spaziergang?

Diese wundergrauenvolle Hypotaxe steht in einem sonst bandwurmarmen Büchlein mit Feuilletons, das im letzten Jahr und Schweizer Nimbus-Verlag erschienen ist. Allein das gereicht zur Euphorie: Mit den Berliner Briefen steigt die Zahl der lieferbaren Titel des Autors auf zwei. Die Publikationsgeschichte Hardekopf ist ohnehin so traurig, als wenn sie von Victor Hugo geschrieben und 120 Jahre später zum Drei-Stunden-Musical umgemodelt worden wäre. Auf der Flucht vor den Nazis geht ein Koffer mit sämtlichen Manuskripten verloren, darunter das opus magnum mit dem gustiösen Titel Die Dekadenz der deutschen Sprache. Zu Lebzeiten veröffentlicht Hardekopf drei schmale Bücher. Daneben aber, wie Bernhard Echte im Nachwort zu den Berliner Briefen zurecht anmerkt, außer gut vierzig Übersetzungen aus dem Französischen zahllose verstreute Texte in Zeitungen und Zeitschriften: »Ein schmales Werk? Mitnichten – nur eben eines, dessen Zentrum in jenen Bereichen liegt, in denen die Literaturgeschichte traditionell ihre blinden Flecken hat.«

Von diesen Texten erhalten wir die erste Kostprobe in Buchform. (… Und nicht mehr lange: Der Verlag meldet schon, dass die Bestände allmählich zur Neige gehen.) Nimbus bewirbt die Berliner Briefe als Hors d’œuvre zur umfassenden Werk- und Briefedition. Die hat auch der Arche-Verlag schon immer mal wieder angekündigt – man darf hoffen?

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Ferdinand Hardekopf
Berliner Briefe 1899–1902

Mit zwei Zugaben aus Handschriften
Hg. von Bernhard Echte Nimbus: Zürich 2015
224 Seiten, 28,00€

Die Berliner Briefe, in denen Hardekopf von April 1899 bis Ende 1902 monatlich aus dem künstlerischen Herzen der Reichshauptstadt berichtet, schickt er of all places ins 30.000 Einwohner starke Eisenach, wo sie in der linksliberalen Eisenacher Tagespost veröffentlicht werden. Ganz Walther von der Vogelweide – saisonaler Eingang (so schön kann auch nicht jeder übers Wetter reden) und dann mir nichts dir nichts politisch werden: Um Zensur geht es da, um Presse, Verkehr, Mode, Romane, Bühnenstücke, Gassenhauer … Angeregt plaudernd nimmt uns unser Hardekopf an der Hand und spaziert mit uns durch Parks und Straßen, führt uns in Bars und Destillen, ins Varieté, ins Theater, in Salons und Cafés. (Der Brief zur Kaffeehaustauglichkeit von Goethe und Schopenhauer ist einer der Besten.) Auf Reise in Hamburg, München, Paris sucht Hardekopf sogleich die Gesellschaft der jungen Kunstschaffenden (in Hamburg freilich vergeblich).

Bei der anderen Hand nimmt uns Bernhard Echte, der die Lektüre mit allem bereichert, was man sich nur wünschen kann (und dabei seinen Namen bescheiden weder auf Umschlag noch Titelseite setzt): Die Schreibweise blieb unverändert, das Nachwort ist nicht nur interessant, sondern auch angenehm kurz, es gibt ein Register (sieben Seiten!), dann und wann ein Bild, zwei Texte aus anderen Zusammenhängen und einen vierzigseitigen Stellenkommentar, der jede Hilfe bietet, die man braucht (selbst dort Formulierungen wie diese bezüglich Hardekopfs Verhältnis zur bayrischen Hauptstadt: »ihren epikuräischen Qualitäten einerseits durchaus zugeneigt, andererseits vom Mangel an zerebralem Raffinement befremdet«).

Nur einen Wermutstropfen gibt es: Um die Berliner Briefe nicht deutlich teurer verkaufen zu müssen als angekündigt, wurden aus Umfangsgründen fünf Texte weggelassen. Und wirklich muss man dem Verlag zugestehen, dass an Anfang und Ende des Buches nicht eine Vakatseite mehr als nötig blank geblieben ist.

Sympathie statt Pathos

Paul Raabe hat Ferdinand Hardekopf als ›König des Expressionismus‹ gleichzeitig zum europäischen Literatenadel erhoben und zum Expressionisten gemacht. Immerhin die Blaublut-Verwandtschaft zu Mallarmé (dem ›Prince des poètes‹) hätte ihm vielleicht gefallen; in Kurt Pinthus’ ›Dokument des Expressionismus‹ Menschheitsdämmerung sucht man (Thomas Kling et al.) ihn aber vergeblich. Hardekopf, der für Eleganz schwärmt und als Bohemien kokettiert, ging einer ganz bürgerlichen Arbeit nach:

Ich war ein mit klebriger Hektographentinte violett beschmierter Stenograph auf der Journalistentribüne des Reichstags und nebenbei Bewunderer der damals heraufkommenden modernen Literatur, die den trotzig-pessimistischen Namen ›décadence‹ auf ihre düstere Fahne geschrieben hatte.

Aus der Mitte der Berliner Boheme berichtet Hardekopf, trotzdem ist seine Perspektive individuell-überparteilich. Seine Sympathie gilt dem Kränklichen, Schwächlichen, Nervösen. Über französische Kunst schreibt er: »Ich liebe diese hinsterbenden Blüthen.« Dem Tod entgegen tanzen verspielt Ästhetik und Menschenliebe Hand in Hand. Hardekopf-Lesen ist Labsal nach der Lektüre von Nietzsche-Vitalismus, expressionistischem Oh-Mensch-Pathos und Kriegsschwärmerei: »Das sei eine kranke Kunst. Als wenn das ein Vorwurf wäre. Und als ob man das nicht längst gewußt hätte. –«

Als Abschluss dieser Rezension wollte ich eine Leseliste mit Titeln von Hardekopfs Übersetzungen liefern – um Lektüre-Lechzenden das Warten auf die Gesamtausgabe zu verkürzen und weil ich keine vollständige finden konnte. Für Harry Rowohlt steht sowas ja sogar bei Wikipedia. Inzwischen habe ich doch eine gefunden (natürlich nach Stunden des Kataloge-Durchforstens): im Deutschen Literatur-Lexikon, das 20. Jahrhundert, begr. von Wilhelm Kosch, hg. von Lutz Hagestedt, Berlin 2010, 14. Band, S. 174f. (auch online zugänglich). Und dann machte ich noch eine zweite Entdeckung: Eine Auswahl Übersetzungen steht inzwischen auch im Wikipedia-Artikel ›Ferdinand Hardekopf‹! Wenn das kein Zeichen ist – vielleicht erleben wir gerade den Beginn einer Hardekopf-Renaissance …

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