Distanzierte Nähe

Einen Roman mit dem Satz »Meine Mutter starb diesen Sommer« zu beginnen, zeugt von Mut und Wagnis. In trotzig-selbstbewusstem Ton präsentiert sich der Debütroman Paradise Garden von Elena Fischer. Wer eine emotional-traurige Lektüre vermutet, wird von der Abgeklärtheit und unnahbaren Art der Protagonistin überrascht.

Von Laura Sill

Bild: via Pixabay, CC0

Es sollte ihr Sommer werden, ein Sommer mit Palmen und Sandstrand, vielleicht Florida, aber mindestens Frankreich, mit einem zitronengelben Kleid im Gepäck. Doch den Plänen der Protagonistin Billie und ihrer Mutter Marika wird jäh das Fundament entrissen. Durch einen Unfall kommt Marika ums Leben und Billie steht vor der Herausforderung, als 14-jähriges Mädchen mit der Welt klarzukommen. Hinzu kommen die Streitigkeiten mit der kranken Großmutter, die kurz vor dem Tod Marikas aus Ungarn angereist war und sich im Zuhause von Billie ausbreitet.

Nagymama

Da waren immer nur Billie und Marika, eine Tochter und eine Mutter, die zusammen die Krisen des Alltags bewältigen – mit wenig Geld, aber viel Fantasie und Lebensfreude. Doch auf einmal drängt sich die erkrankte Großmutter dazwischen, nimmt eine Position ein, mit der sowohl Billie als auch Marika sich zunächst arrangieren müssen. Zwischen der Protagonistin und ihrer Nagymama (ungar.: Großmutter) steht nicht nur ein Generationskonflikt, sondern auch die Tatsache, dass über die Jahre durch Marikas strikten Bruch mit ihrem früheren Leben in Ungarn kein Kontakt bestand. Für Billie bleibt Nagymama »eine Fremde, über die ich kaum etwas wusste. Für mich war meine Großmutter von meinem Leben so weit entfernt wie die Erde vom Mond.«

Elena Fischer
Paradise Garden

Diogenes Verlag: Zürich 2023
352 Seiten,
23,00 €

Verschiedene Lebenswelten treffen in Paradise Garden (Diogenes 2023) aufeinander, zwischen denen zumindest keine Sprachbarriere das Miteinander erschwert, da Billie seit klein auf Ungarisch spricht. So findet sich die Protagonistin gezwungenermaßen in der Rolle der vermittelnden Instanz zwischen den Figuren wieder. Sie übersetzt für die Großmutter und überträgt deren ungarischen Antworten ins Deutsche. Immer auch in der Absicht zu schlichten, werden die harschen Worte der Großmutter dabei in neutrale, für Billie angemessen erscheinende Form gebracht. Spannungsgeladene Situationen verwandeln sich dank Billie in von Komik durchbrochene Szenen. Die Anstrengungen der Vermittlung bleiben für die beteiligten Figuren verborgen, lediglich die Leser:innen – und zu Lebzeiten Marika – erhalten einen kleinen Einblick:

»Ich ersetzte alle peinlichen Fragen durch harmlose. Und gab meiner Großmutter die liebenswürdigsten Antworten. Meine Mutter hielt den Mund. Nur ein einziges Mal konnte sie sich nicht zusammenreißen und verschluckte sich vor Lachen.«

Die Distanz zwischen Großmutter und Enkelin löst sich im Verlauf der Romanhandlung nie ganz auf. Vieles bleibt ungesagt, und vielleicht ist es gerade die Stille, die die Beziehung der beiden zueinander beschreibt.

Beziehungslücken

Für die Leser:innen des Romans erweist sich diese Stille jedoch als durchaus hinderlich, da die Figuren in ihrer psychologischen Motivation lückenhaft wirken. Billies Perspektive genügt nicht, um die Leser:innen ausreichend an die Hand zu nehmen und die Beziehung zwischen Billie und der Großmutter nachvollziehbar werden zu lassen.

Auch Billies Ersatzfamilie, die Nachbar:innenschaft aus ihrem Wohnblock der Hochhaussiedlung, nimmt zwar Gestalt an, wie diese Gemeinschaft letztlich zustande kam und was sie zusammenhält, bleibt jedoch unbekannt. Lediglich kurze Passagen lassen die Beziehungen der Figuren zueinander durchscheinen, die Ersatzfamilienkonstellation wird als Selbstverständlichkeit gesetzt. Da ist die in manchen Momenten so lebensfrohe, an anderen Tagen depressive Luna, die Billie wie eine große Schwester betrachtet. Und Ahmed, »offiziell Israeli, aber eigentlich Palästinenser«, der stets hilfsbereit und aufmerksam auf der Bildfläche erscheint. Beide mit Zukunftsträumen, für beide das am Stadtrand liegende, »in einem kraftlosen Gelb« gestrichene Hochhaus, in dem sie zurzeit leben, vielleicht nur eine Zwischenstation.

Anhand der Schicksale dieser Figuren wird ersichtlich, wie wenig Billie den Dingen außerhalb ihrer eigenen Welt Bedeutung zuschreibt: Politische Einstellungen und soziale wie gesellschaftliche Probleme (wie etwa Arbeitslosigkeit, Depression, Alkoholismus und Diskriminierung aufgrund des islamischen Glaubens) werden zwar erwähnt bzw. für die Leser:innen erkennbar, Billie weiß damit aber nichts weiter anzufangen. Besonders an Stellen wie diesen wird den Leser:innen in Erinnerung gerufen, dass Billie eben ein 14-jähriges Mädchen ist, das auch nur über die Lebenserfahrung einer 14-Jährigen verfügen kann.

Spurensuche – Identitätssuche

Bereits durch die Wahl der Ich-Erzählerin Billie erhält Paradise Garden eine nur bedingte Nahbarkeit, die besonders in den Momenten festzustellen ist, wenn komplexe Situationen ausschließlich aus der Sicht des jungen Mädchens erzählt werden. Für die Leser:innen des Romans kann die Handlung nur aus ihrer Perspektive nachvollzogen werden – oder eben auch nicht. Zugleich erweist sich diese Leseerfahrung als vergleichbar mit der Identitätssuche der Protagonistin nach dem Tod der Mutter Marika. Erst mit Mühe lassen sich bestimmte Elemente der Handlung einordnen, erst durch Zufälle und Begegnungen mit anderen Figuren kann Billie ihren Weg finden.

So erscheint beispielsweise Billies Freundschaft zur gleichaltrigen Mitschülerin Lea, die sie um deren als intakt wahrgenommene Familie beneidet, zunächst unspektakulär. Die letztliche Abwendung von Lea verdeutlicht dann ein sich entwickelndes Selbstbewusstsein. Billie tritt für sich selbst ein und der neidvolle Blick auf Lea schwächt sich.

»Lea hatte eine richtige Familie: eine Mutter, zwei Brüder und einen Vater. Keinen, der zu Hause rumhing und Bier trank, sondern einen, der bei einer Bank arbeitete und nach Feierabend mit seinem Mercedes Benz einkaufen fuhr.«

Stattdessen macht sich die Protagonistin auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater, über den sie von ihrer Mutter kaum etwas erfahren hat. Billie hat stets an der Vorstellung festgehalten, ihrem Vater eines Tages gegenüberzustehen. Auch aus diesem Grund ist sie bemüht, über gute ungarische Sprachkenntnisse zu verfügen, möglicherweise ihre »Vatersprache«. Der Tod von Marika erweist sich als Anstoß, aktiv nach ihm zu suchen.

Elena Fischer entscheidet sich für das Motiv des Road-Trips, in dem die Protagonistin auf sich allein gestellt ist, zu sich selbst findet und – so viel sei verraten – ankommt. Dabei geht es Fischer weniger um die Frage, wie realistisch es ist, eine 14-Jährige eine lange Autofahrt bewältigen zu lassen, sondern »darum, eine innere Entwicklung abzubilden«, wie sie in einem zdf heute-Interview erklärt.

Schlichte Worte, starke Wirkung

Während Billie ihren Vater sucht, erfährt sie auch vieles über das Leben ihrer Mutter. Zunächst ist es die Großmutter, die bruchstückhaft über Marikas Leben in Bukarest erzählt, von deren damaligen Traum, Tänzerin zu werden, von Billies früh an Krebs verstorbenem Großvater. Auch der resolute, beim Lesen etwas schwer nachzuvollziehende Kontaktabbruch zur Familie in Ungarn nach Marikas Ankunft in Deutschland kommt zur Sprache.

Trotz dieser teils dramatischen Lebenswege und Schicksalsschläge verliert sich die Handlung sprachlich nie im Tragischen oder Überzogenen. Als würde die Erzählweise den Charakter von Billies Mutter spiegeln, die auch in prekären Situationen – etwa wenn wenig Geld zum Leben zur Verfügung steht – immer ihren pragmatischen Optimismus bewahrt hat. So lebt in der Sprache des Romans etwas von Marika weiter, die nach ihrem Tod keine eigene Stimme mehr hat.

Sprachlich-stilistisch sind es zuweilen die ungeschönten einfachen Worte, die umso mehr auf die Leser:innen wirken. Zum Beispiel sind es die schlichte Antworten Billies, die aufdecken, welche Leerstelle der Tod hinterlassen hat:

»›Hast du auch Probleme mit deiner Mutter?‹ ›Nein‹, sagte ich. ›Es gibt nichts, was dich an ihr aufregt?‹ Ich dachte nach. ›Nein‹, sagte ich noch einmal […]. ›Vielleicht, dass sie mich alleingelassen hat‹, sagte ich.«

Nähe durch ein Notizheft

Und doch ist es auch genau diese Schlichtheit, die irritiert und einen eigentümlichen Eindruck von Distanziertheit vermittelt. Die Gefühlswelt der Protagonistin bleibt in ähnlicher Weise wie auch schon die der Nachbar:innen Luna und Ahmed unscharf und in Teilen schwer bestimmbar. Billies Abgeklärtheit nach außen und ihr Umgang mit dem Tod der Mutter als 14-jähriges Mädchen beeindrucken, erschrecken aber auch.

Die einzige Möglichkeit sich ihr als Leser:in auf emotionaler Ebene anzunähern, besteht durch ihr Notizheft, das Billie stets bei sich trägt. Darin hält sie fest, was sie bewegt und ihr begegnet. Zugleich nutzt sie es als Übung für ihren Traumberuf Schriftstellerin.

»Mein Notizheft war voller Geschichten, und alle hatten ein gutes Ende. Manche Geschichten waren wirklich so passiert, beinahe jedenfalls. Wenn mir das Ende nicht passte, schrieb ich es einfach um. Ich schrieb einfach so lange weiter, bis alles gut wurde.«

Die Worte und Sätze, die den Leser:innen aus dem Notizbuch mitgeteilt werden, überraschen durch ihren aufgeklärten Ton und zuweilen philosophischen Gehalt – ein Kontrast zu Billies eher unreflektiertem Verhalten im Umgang mit anderen Figuren. Die kurzen niedergeschriebenen Sequenzen, in denen die Protagonistin über ihre Lebenssituation sinniert, verleihen dem häufig mit viel emotionaler Distanz erzählten Plot von Paradise Garden einen interessanten Touch. In ihrem Notizheft bekennt sich Billie zu »einer, die ihre Mutter verloren hat«, vergleicht sich mit einem »Astronaut, aber ohne Ausbildung«. Hier erhalten die Leser:innen Einblicke in Billies Gefühlswelt, die sich auf diese Weise gar nicht mehr so unantastbar darstellt. Elena Fischers Roman Paradise Garden setzt sich vom ersten, den Tod Marikas beinhaltenden Satz mit einer herausfordernden thematischen Tragik auseinander. Dabei wagt er zugleich die Loslösung vom erwartbaren Bild einer hilflos verwaisten Tochter in einer aussichtslosen Situation. Die Protagonistin verfügt stattdessen über eine unvermutete Stärke, weiterzumachen und ihren Weg zu gehen. Leider lässt der Roman eine etwas transparentere Ausgestaltung insbesondere der Beziehungen zwischen den Figuren vermissen. Dazu trägt auch die Wahl der Erzählperspektive bei. Äußert sich Billie in manchen Momenten unverhofft reflektiert und klug, bleiben (zu) viele Szenen, die an die Unsicherheiten und die Unbeholfenheit eines 14-jährigen Mädchens geknüpft sind – zu Lasten des Leser:innen-Verständnisses.

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