»Ich hoffe, du hältst dich aufrecht«

Wenn Verletzlichkeit zur Schwäche ausgewiesen wird, verändert sich das Verhalten gegenüber anderen, wird distanziert, unnahbar. So zumindest ergeht es Lisbeth, Protagonistin im Roman Die Kriegerin von Helene Bukowski. So lange, bis sie feststellen muss, dass Weglaufen keine Option mehr ist.

Von Laura Sill

Bild: Via Pixabay, CC0

Unabhängig! Stark! Zeige dich niemandem gegenüber schwach und klein! Wie eine unausgesprochene Beschwörungsformel durchziehen diese Worte seit jeher das Leben der Protagonistin Lisbeth, und ebenso das von ihrer engen Vertrauten und Verbündeten Florentine, »die Kriegerin« genannt. Im Roman Die Kriegerin von Helene Bukowski verfolgen die Leser:innen Lisbeths Geschichte, die von Trauer, Wiederaufstehen, Weitermachen und letztlich vom dringenden Wunsch nach Vertrauen und Verständnis geprägt ist. Doch der lange Weg dahin erweist sich als – im wahrsten Sinne des Wortes – steinig.

Und weg

Die Handlung beginnt an einem Punkt, der für die Floristin Lisbeth ein Ende markiert. Mit den Worten »Ich habe etwas im Laden vergessen« ist sie weg, fort von allem über die Jahre vertraut Gewordenen, raus aus der Berliner Wohnung, weg von ihrem Freund Malik und der gemeinsamen zweijährigen Tochter Eden. Geradezu manisch zieht es Lisbeth zunächst an den Rückzugsort ihrer Kindheit: an die Ostsee, einen Ort der Ruhe und Regeneration. Danach heuert sie direkt für mehrere Monate auf einem Kreuzfahrtschiff als Floristin an. Oberflächlich wird durch Lisbeths ausgeprägte Neurodermitis sichtbar, wie sehr ihr Körper durch unterdrückte Emotionen und das Großstadtleben unter Stress steht. Je weiter sich Lisbeth von ihrer vertrauten Umgebung wegbewegt, desto weniger muss sie sich mit sich selbst konfrontieren und desto weniger schlägt ihre Haut Alarm.

Wegen ihrer sensiblen Haut entsteht der Eindruck, als müsse die Protagonistin doppelt so starke, energiezerrende Mauern um sich bauen – als Schutzfunktion für sich und ihr Umfeld. Sobald Lisbeths Haut Risse bekommt, wird sie angreifbar, verletzlich,  impulsiv. Ein Umstand, den sie tunlichst vermeidet, nach außen zu zeigen.

Salz, Wasser, Tränen

Es ist eine faszinierende Distanz, die zwischen den Romanfiguren und Leser:innen entsteht, und die dazu verleitet, sich auf Lisbeth und ihr Schicksal einzulassen. Bereits in ihrem Debütroman Milchzähne (2019) wendet Bukowski eine nicht-lineare Erzählweise an, die die Handlung in »Erinnerungsbruchstücke« teilt, wie es die Rezensentin Isabel Barragán formuliert. Nun in Die Kriegerin fügen sich seitenlange Briefe von Florentine, Erinnerungen an Lisbeths Kindheit und Flashbacks von Lisbeths und Florentines gemeinsamen Bundeswehr-Zeit zu einem sich immer weiter zusammensetzenden Bild.

Aber weißt du, wer sagt denn, dass das hier nicht auch passieren könnte? Schließlich kann doch auch hier alles kippen und plötzlich ist der Krieg dann nicht mehr weit entfernt.

Ein Bild durchzogen von Furcht, Schmerz und nur wenigen Ruhepolen, nur durch Absätze oder eine Buchseite voneinander getrennt. Das hat zum einen den Effekt eines sehr intensiven Leseerlebnisses. Zum anderen sorgt es beim Übergang von einer Sequenz zur nächsten zuweilen aber für einen kurzzeitigen Orientierungsverlust. Sicher auch dem geschuldet, dass erst im Laufe jedes neuen Abschnitts erkennbar ist, um welche Zeit und welchen Ort es sich handelt. Bukowski lässt die Leser:innen auf einem schmalen Grat zwischen Distanz und Nähe balancieren, zwischen Nachvollziehbarkeit und zu geringem Wissen, um der Handlung und den Ereignissen folgen zu können.

Drei Steine

Lisbeth und Florentine verbindet mehr als nur die Ausbildungszeit bei der Bundeswehr. Ein unsichtbares Band schweißt sie zusammen, dessen Existenz sich – wie so vieles in Die Kriegerin – durch Leid und Unverständnis anderer erklären lässt. Jenes Band hat eine solche Stärke, dass Lisbeth die Fähigkeit besitzt, Gedanken und Träume von Florentine zu empfangen.

Und während ich laufe, mustere ich die ganze Zeit den Boden, suche nach Steinen. Erst wenn ich drei gefunden habe und sie in meiner Tasche verstaut habe, werde ich ruhiger. Aber dieser Zustand hält nie lange an, denn kurze Zeit später merke ich immer, dass meine Tasche ein Loch hatte, dass ich nicht mehr drei Steine bei mir trage.

Solange Lisbeth Florentines Träume träumt, weiß sie, dass Florentine bei ihren Einsätzen in Kriegsgebieten in Sicherheit und am Leben ist. Jeder Traum gleicht dem vorherigen und nachfolgenden in der Form, dass sie eine zwanghafte Suche nach drei Steinen beinhalten. Bis in die Wirklichkeit wird Florentine von diesen drei Steinen verfolgt, die sie reflexartig an jedem erdenklichen Ort vom Boden in ihre Manteltasche verschwinden lässt. Eine Angewohnheit, die sie noch von ihrer Großmutter kennengelernt und scheinbar unbewusst übernommen hat, und die ihr ein Stück Routine und die Gewissheit, sich zu Wehr setzen zu können, verschafft.

Interessant ist die Tatsache, dass lediglich einmal im gesamten Roman im Zusammenhang mit einem Reservisten, den Lisbeth in ihrer Zeit auf dem Kreuzfahrtschiff kennenlernt, die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) erwähnt wird. In ihren geradezu verbissenen Bemühungen, keine Schwächen zu zeigen, passt dies aber wiederum zu den beiden Protagonistinnen Lisbeth und Florentine – es wird keine Zeit gewährt, sich mit den Traumata und deren Begleiterscheinungen auseinanderzusetzen, die beide erlebt haben.

Mutterbild – Frauenbild

Erstaunlich bleibt die (Nicht-)Reaktion von Lisbeths Freund Malik und auch von ihrer Mutter, als sie ihre Flucht realisieren. Als hätten beide schon länger gewusst, dass es irgendwann dazu kommt. Aus den kurzen Telefonaten zwischen ihnen und Lisbeth spricht Sorge, aber auch Verständnis sowie das Wissen, dass es niemandem gelingen würde, Lisbeth umzustimmen, ihr Leben in Berlin als angestellte Floristin und Mutter anstandslos fortzuführen. Das Geständnis, dass Lisbeth nicht für die »Rolle der Mutter« geschaffen sei, kann sie erst zum Ende hin laut aussprechen.

macbook

Helene Bukowski
Die Kriegerin

Blumenbar: München 2022
256 Seiten, 23,00€

Bukowski schafft Raum für das in der Gesellschaft weitgehend tabuisierte Thema der fehlenden Mutterliebe. Zugleich greift sie damit die Thematik der Bewegung #regrettingmotherhood auf. Bis zum Ende des Romans bleibt diese gewisse Unsicherheit, vielleicht sogar Gleichgültigkeit in der Mutter-Tochter-Beziehung. Lisbeth wirkt unbeholfen mit ihrer Tochter Eden und kann sich erst etwas fangen, nachdem Eden von sich aus auf sie zugeht.

Einen ähnlichen gesellschaftlichen Druck, wie ihn Lisbeth in ihrer Mutterrolle verspürt, erkennen sie und Florentine auch im gesellschaftlichen Bild von Frauen.

Ich glaube, Männer sind nur deshalb mehr dafür gemacht, Soldaten zu sein, weil sie von klein auf lernen, ihre Verletzungen zu verstecken. Frauen dagegen tragen sie zur Schau, als würde es sich um Schmuckstücke handeln.

Sie machen es sich zu ihrem Ziel, genau dieser in der Gesellschaft verankerten Erwartung der mit Verletzung »geschmückten« Frau nicht gerecht zu werden und zeigen in ihrer Ausbildung bei der Bundeswehr, wie viel Stärke – sowohl physisch als auch mental – Frauen in sich haben. Solange bis Lisbeth ihre gesellschaftlich bedingte Ohnmacht auf grausamste Weise vor Augen geführt bekommt, indem sie sexuellen Missbrauch erfährt.  

Tränen, Geborgenheit, Vertrauen

Die letzten 50 Seiten entpuppen sich als erzählerisch sehr dicht. Das, was zwischenzeitlich an Handlung in Teilen nur vor sich hindümpelt, gewinnt mit dem Wiedersehen von Malik, der Tochter Eden und Lisbeth nach vier Jahren an Fahrt. Lisbeth versteht, wie wichtig und heilend es sein kann, sich anderen anzuvertrauen. Dies erlebt sie bei Malik – auch wenn es dafür eine Zeit auf Distanz brauchte – ebenso wie bei Florentine, bei der Lisbeth sich zunächst eingestehen muss, dass es keine Schwäche ist, über Gefühle zu sprechen.

Denkst du, du bist wie einer dieser Türme aus Kiefernholzblöcken? Aus diesem Spiel, das man als Kind gespielt hat, bei dem man die Steine herausziehen muss, ohne dass der Turm zusammenfällt. Du scheinst zu glauben, dass du einstürzt, solltest du auch nur etwas von dir hergeben.

Als Lisbeth Florentine nach einer verzweifelten Fahrt durch Deutschland erblickt, ist da stilles Einvernehmen, Vergebung, Vertrauen, ein unglaublich rührender Moment, der keiner Worte bedarf. Auch entweist sich dieser Moment als merkwürdig surreal-kitschig, als wären Lisbeth und Florentine in ihrer eigenen Welt, ihren Träumen angekommen, die auf einmal so friedlich geworden sind. Wo es vorher explodierende Wüstengebiete gab, sind nun rosafarbene Papageien und Tränen der Heilung.

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