Kafka in Kroatien

Mit unverblümter Ehrlichkeit bringt Maša Kolanović die Leser:innen zum Lachen, Verzweifeln und Kopfschütteln. Die Geschichten in ihrem Buch Werte Käfer und andere Gruselgeschichten haben keinen einheitlichen Gemütszustand und keine erkennbare Chronologie. Die einzige Verbindung zwischen ihnen wird durch die Kakerlaken und Käfer hergestellt, die immer wieder auftauchen.

Von Thea Genkinger

Bild: Via Pixabay, CC0

Eine Welt, die einem Fiebertraum gleicht: Zwischen Kafka, Burton und Postsozialismus finden schnell aufeinander folgende Ereignisse statt, verpackt in zwölf packende Kurzgeschichten. In Maša Kolanovićs Werte Käfer und andere Gruselgeschichten gibt es zwölf Held:innen des Alltags, die alle in der gleichen Zeit des Postsozialismus in Kroatien leben. Sie haben zwölf alltägliche Probleme, die jeweils einen gewissen Gruselfaktor mitbringen und zusätzlich krabbeln sie überall: Käfer. Diese verwandeln sich, ähnlich wie bei Kafka, sie vollziehen eine Metamorphose. So findet sich das Käfermotiv in einer Kurzgeschichte in Form einer kleinen, tatsächlichen Kakerlake wieder, die durch die Gegend huscht. An anderer Stelle verwandelt sich ein kleiner Junge in dieses Insekt und in einer weiteren Kurzgeschichte werden das Aussehen und die Eigenschaften eines Mannes mit einer Kakerlake verglichen. Das Motiv kann als eine postsozialistische Kafka-Anspielung verstanden werden.

In den Kurzgeschichten werden die Absurditäten des Alltags gekonnt herausgestellt, wodurch auf Rezeptionsseite ein Wechselbad der Gefühle entsteht. So kämpft man sich einmal mit der Protagonistin durch die überfüllte Innenstadt Dubrovniks, um einen abstrusen letzten Willen einer Verstorbenen, sie im Grabe anzurufen, zu erfüllen. Ein andermal fiebert man mit einer Tochter mit, die den Telefongesellschaften und deren Vertragsfallen den Kampf angesagt hat. Die Geschichten bauen nicht aufeinander auf, dennoch verbindet sie thematisch neben dem Käfermotiv eine Kapitalismuskritik.

Die Käfer schleichen sich langsam an. Erst ist es nur ein Gefühl, später ein Hören und schließlich ein Sehen, wenn die Metamorphose beginnt: Die Knochen knirschen, die Gelenke knacken und die Fühler brechen sich einen Weg durch den Schädel, bis eine winzige Kakerlake verwirrt durch einen Laden rennt. Doch ist das Motiv der Käfer nicht bloß eine stumpfe Repetitio, welche in jeder einzelnen Kurzgeschichte vorkommt. Man findet Käferanspielungen ebenfalls in Form von Namen. Schon der Titel lässt erahnen, dass die Käfer nicht das Einzige sind, was gruselig ist.

Ein romantisches Urlaubsland?

All diese Geschichten spielen in dem postsozialistischen Kroatien. Der Jugoslawienkrieg ist wie auch heute in der Realität noch sehr präsent in den Köpfen der Menschen. Das Buch erschien erstmals 2019 in kroatischer Sprache und wurde 2023 von Marie Alpermann in die deutsche Sprache übersetzt. Auch in der Übersetzung kommt die ernüchternde, kalte Realität des Lebens gruselig gut raus – die romantische Vorstellung eines perfekten Urlaubslandes mit freundlichen, wohlwollenden Bewohner:innen und glasklarem blauen Meer platzt. Die einzelnen Schicksale und Erlebnisse der Figuren kommen sehr nah an die Realität von vielen dort lebenden Menschen ran. Gruselig ist, dass diese Realität der kroatischen Bevölkerung größtenteils ignoriert wird. Gruselig ist es außerdem, weil Verhaltensmuster von physischer Gewalt, psychischer Gewalt und Skrupellosigkeit gezeigt werden und für Lesende nicht nachvollziehbar sind.

Maša Kolanović
Werte Käfer und andere Gruselgeschichten
eta Verlag: 2023
212 Seiten, 19,90 €

Ist man der kroatischen Sprache mächtig, so empfiehlt es sich, das Original zu lesen, da in der Übersetzung der Witz mancher dialektaler Spielereien abhandenkommt. So wird in der ersten Kurzgeschichte Živi zakopani im Dubrovnik Dialekt gesprochen. Um den dialektalen Witz verstehen zu können, sollte man zumindest rudimentär mit der kroatischen Dialektologie vertraut sein.

Zwischen Milchfabrik und Sonnenbrillen

Die Geschichten behandeln nicht nur Konflikte und alltägliche Probleme wie schmerzende Brüste in der Stillzeit, Terror von Telefonanbietern, schlechte Vorgesetzte und das Suchen der eigenen Mutter im Einkaufszentrum. Sie bringen Themen wie die Normalisierung und Relativierung häuslicher Gewalt sowie die Überforderung einer Mutter von Zwillingen in den Vordergrund. Es wird eindrücklich dargestellt, wie die Zwillingsmutter allein gelassen wird und sich nur noch als eine Art »Fabrik« wahrnimmt, nicht mehr als Frau. Die resignierende Selbstverständlichkeit, sich um alles kümmern zu müssen, die den Müttern entgegenkommt, nachdem sie entbunden und das Wochenbett überstanden haben, bekommt einen Platz in dem Buch. Gesellschaftlich wird erwartet, dass alles wie von allein und ohne große Mühen funktioniert. Schmerzende Brustwarzen? Vor Milch fast platzende und schmerzende Brüste? Im Buch wird deutlich: Es wird sich nicht beschwert, das Mutterglück ist doch das größte Glück. So lebt die Protagonistin überfordert zwischen Milch abpumpen, Zwillinge füttern und Windeln kaufen. Mit einem dauerhaften schlechten Gewissen, dass sie in ihrer Situation nicht glücklich ist. Auch das Narrativ, dass man doch dankbar sein sollte, Mutter sein zu dürfen, wird kritisch herausgestellt.

Das Problem von häuslicher Gewalt und das gesellschaftliche Wegschauen wird von Maša Kolanović in einer Kurzgeschichte thematisiert. Eine Frau mit einem blauen Auge? Da sollte sich nicht eingemischt werden. Es gehe doch niemanden was an. Kolanović beschreibt die auch real verbreitete Reaktion: Die betroffene Frau setzt sich eine Sonnenbrille auf, sodass die häusliche Gewalt nicht direkt sichtbar wird.

Wie viel ist ein Mensch wert?

Maša Kolanović fängt gekonnt das Denken der Menschen ein, die sich an die von Konsum und Profit getriebene Welt gewöhnen und anpassen müssen. Sie macht in Bezug auf die Realität deutlich: Der sozialistische Gedanke einer verbundenen Gemeinschaft, bei der alle mit Wohlwollen gegenüber anderen handeln – das, was noch in den Köpfen der ehemaligen Jugoslaw:innen herumspukt, transformiert sich. Heute sind die Menschen dort viel mehr von Profitgier getrieben und es steht weniger das Menschliche im Vordergrund, dafür: das Geld. Der einzelne Mensch wird nicht vorrangig als dieser gesehen, sondern als potenzieller Kreditnehmer oder Mobilfunkvertragskunde. In der Kurzgeschichte Revolution sieht die Telefongesellschaft nicht einen hilflosen Rentner, der Geldsorgen hat, sondern einen Menschen, der zu zahlen hat, egal was komme. Diese Diskrepanz zwischen dem noch sozialistischen und dem schon kapitalistischen Denken beschreibt Maša Kolanović in einer solchen ernüchternden und ungeschönten Art und Weise, dass es einem fast das Blut in den Adern gefrieren lässt. Und man, mal wieder, an der Menschlichkeit von Großkonzernen zweifelt.

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