Das Programm für den 34. Literaturherbst ist da und lässt Profil erkennen: Viele große Namen, viele Inhalte für die politische Mitte, manchmal etwas zu vorsichtig in der Themenwahl – und mit neuem Festivalquartier im Kunsthaus.
Von Sophie-Marie Ahnefeld
Bild: Sophie-Marie Ahnefeld, v.l.n.r.: Rebecca Claßen, Gesa Husemann, Hans-Peter Herberhold, Maria von Estorff, Maya Waßmann, Maria Jähde
»Literaturherbst first« – so könne das Motto des 34. Göttinger Literaturherbstes auch lauten, wenn man sich denn den grassierenden Binsenweisheiten eines international erstarkenden Populismus ergeben wolle, so Geschäftsführer Johannes-Peter Herberhold. Gegen Selbstzentriertheit und Verrohung wolle man daher dezidiert ein Zeichen setzen, womit das tatsächliche Motto des Festivals benannt ist. Dem Selbstverständnis entsprechend ist das Programm ein politisches, nur dass bei all den Krisenherden weltweit ein einzelner Leitspruch, ein sich durchziehender roter Faden gar nicht so leicht zu bestimmen ist. Zwar nicht ganz so profilstark, aber ohne Zweifel von großer Wichtigkeit rücken die Veranstalter:innen daher Menschlichkeit und Demokratie als Grundpfeiler in den Vordergrund.
What do we want? Demokratiebildung!
Große Prominenz erwartet das Göttinger Publikum bereits vor der offiziellen Programmeröffnung: Am 8. Oktober stellt Altkanzlerin Angela Merkel ihre Autobiografie Freiheit vor. Was die unerträglichen Nachrichten über die Hungerkatastrophe und den andauernden Kriegszustand gegen die Zivilbevölkerung in Gaza mit den Menschen, insbesondere mit den Kindern machen, weiß die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk aus eigener Erfahrung. Sie liest am 19. Oktober aus ihrem Tagebuch aus Gaza. Militärdiktatur, Drogenkrieg, Demokratieprüfung – diese länderübergreifenden Themen werden von den Autorinnen Katrina Tuvera und Patricia Evangelista am 21. und 22. Oktober aus der Erfahrung und Geschichte der Philippinen, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, heraus behandelt.
Am 24. Oktober ist dann offizieller Festivalbeginn, unter anderem mit Michel Friedmann und Eva Menasse, die ausgehend von Friedmanns Buch Mensch! Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten über den Zustand beziehungsweise Zerfall von Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechten diskutieren werden. Die Vergleiche von Gegenwart und Weimarer Republik sind längst in aller Munde, ein genauerer Blick auf historische Ähnlichkeiten lohnt also: Götz Aly stellt daher am 27. Oktober für sein Buch mit Blick auf die NS-Zeit die zentrale Frage: Wie konnte das geschehen? Dies möchte man auch beinahe täglich mit Blick auf den politischen Umbau in den USA fragen. Eine der verstörenden Nachrichten Anfang des Jahres: Trump plant, Zehntausende Migranten in Guantánamo zu inhaftieren. Welche grausame Bedeutung dieser Ort tatsächlich für seine Gefangenen hatte, hält der von Sebastian Köthe herausgegebene Band Gedichte aus Guantánamo fest, der am 30. Oktober besprochen wird.
Große Namen sollen ziehen
Eine der großen literarischen Stimmen, die bei der Lesung des Deutschen Buchpreises am 18. Oktober unmittelbar nach der Verleihung in Frankfurt auftreten wird, ist – so will es die Tradition – noch nicht bekannt. Während die Spannung für diese Veranstaltung also noch anhält, fällt sie in den Gesichtern der Pressestimmen mit jedem weiteren genannten Namen zusehends ab und weicht einer vorfreudigen Aufregung: Am 25. Oktober präsentiert Marlene Streeruwitz ihren zwischen New York und Wien schwenkenden Roman Auflösungen.
Auch bei der nächsten Ankündigung geht ein Raunen durch die Reihen der Presse: Keine geringere als Sibylle Berg kommt nach Göttingen! Da die Vereinbarung erst nach dem Druck des Programmheftes zustande gekommen ist, findet sie sich dort nicht wieder. Feststeht: Am 31. Oktober tritt sie um 17 Uhr in der Sheddachhalle mit dem an GRM und RCE anschließenden Roman PNR: La Bella Vita auf, worin der Neoliberalismus endlich überwunden wird.
Eine weitere Fackelträgerin der Literatur ist die diesjährige Preisträgerin des Edith-Stein-Preises Nora Bossong, die am 26. Oktober von Heinrich Detering und Heiner J. Willen für ihren Roman Reichskanzlerplatz geehrt wird. Außerdem kehrt die selbstbezeichnete »Romanmaus« Christoph Kramer, der nebenbei bemerkt ganz okay Fußball spielt, mit seinem Bestseller Das Leben fing im Sommer an am 30. Oktober in die Sheddachhalle ein. Auch von der Partie: Bela B. mit seinem Roman Fun am 1. November über die drei großen M’s: Männer, Macht und Missbrauch.
Die ›Randgruppe Männer‹
So viele helle Stimmen der Gegenwartsliteratur und noch längst sind nicht alle aufgezählt. Da ist zum einen der »Lange Abend der jungen Literatur« am 29. Oktober, diesmal mit Nora Osagiobare, Anne Sauer und Dorothee Elmiger, der erfahrungsgemäß besonders anregend ist. Mit Miku Sophie Kühmel und Anselm Oelze rücken außerdem direkt zur Eröffnung am 24. Oktober zwei queere Romane ins Rampenlicht. Die diesjährige Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur hat der Kulturjournalist Alexandru Bulucz inne, der am 3. November seine Antrittsvorlesung mit Titel »Penelopes Weben« im Literaturhaus halten wird. Am 15. November findet zum Abschluss des Festivals noch die Verleihung des Samuel-Bogumił-Linde-Preises statt, die die Texte der Preisträger Daniel Kehlmann und Jacek Dehnel zu Gehör bringen wird.
Während sich die Veranstalter:innen mit demokratievermittelnden Lesungen und Themen für die ›gesellschaftliche Mitte‹ nur so überbieten, bleibt das Angebot für ein jüngeres oder progressiveres Publikum etwas dünn. Am 29. Oktober stellen Florian Werner und Franziska Hauser die von ihnen herausgegebene Anthologie Ost*West*frau* vor – spannend! Am 27. Oktober sprechen außerdem Caroline Rosales und Anna Clauß über Familie, Feminismus und Gin Tonic – wahrscheinlich nicht ganz so bahnbrechend. Das war’s dann aber leider auch schon an explizit feministischen Sachveranstaltungen, dabei ist die Mehrheit der Besucher:innen des Festivals weiblich, wie Johannes-Peter Herberhold augenzwinkernd erzählt: »Wir versuchen seit Jahren der Randgruppe ›Männer‹ Kultur näherzubringen.« Auch das ließe sich übrigens zum Thema machen, Stichwort männliche Einsamkeit. Also bitte, da geht mehr, es geht jünger und vor allem: mutiger.
Literarische und sachliche Warte
Dem Anspruch, »die Dinge von der literarischen, aber auch von der sachlichen Warte aus zu beleuchten«, wie Johannes-Peter Herberhold es ausdrückt, wird das Festival auch in diesem Jahr dennoch an vielen Stellen gerecht: In der Wissenschaftsreihe finden sich Veranstaltungen mit der Biologin Sarah Darwin, die außerdem Ururenkelin von Charles Darwin ist, im Gespräch über Evolutionsbiologie am 28. Oktober, mit Giulia Enders, die für ihr Sachbuch Darm mit Charme bekannt wurde, sowie über Astrophysik mit Jason Steffen und René Heller. Ein weiteres vielversprechendes Sachbuch stellt am 28. Oktober Heinrich Detering vor: In Die Revolte der Erde werden Verbindungslinien zwischen Karl Marx und ökologischer Sensibilität gezogen.
Es wird Filmvorführungen geben, Live-Musik mit verschiedenen Ensembles, Live-Podcasts, den Science Slam, Veranstaltungen im Großraum Göttingen wie zum Beispiel im Grenzmuseum Eichsfeld zum Thema Ost*West*frau* am 29. Oktober. Außerdem findet am 6. November die Verleihung des NDR-Sachbuchpreises und des LifeScienceXplained-Sartoriuspreises statt. Viele Veranstaltungen werden simultan in Deutsche Gebärdensprache übersetzt, einige Lesungen finden in einfacher Sprache statt, wie George Orwells 1984 am 28. Oktober. Per ›On Air‹ sind die meisten Veranstaltungen auch per Stream abrufbar. Der Ticketpreis wurde in diesem Jahr gegenüber zum Vorjahr leicht angehoben, Studierende haben mit Kulturticket freien Eintritt.
Inhaltlich wenig kontrovers
So vielfältig und zweifelsohne namhaft besetzt das Programm auch ist, zeigt sich dennoch an manchen Stellen eine dezente Zurückhaltung, eine gewisse Vorsicht. Natürlich, auf etwas Abstraktes wie Demokratie und Menschlichkeit können wir uns alle verständigen, aber was ist mit ganz konkreten Themen, die im vergangenen Jahr in Gesellschaft und Politik intensiv diskutiert wurden, für die noch kein Konsens gefunden wurde? Da wäre beispielsweise die Wehrpflicht, die in direktem Zusammenhang zur Demokratie steht. Hier gäbe es durchaus interessante Autoren wie Ole Nymoen. Auch der Krieg zwischen Israel und Palästina wird durch eine einzige, vermutlich wenig kontroverse Veranstaltung abgedeckt, die kaum Potential für eine gepflegte Debatte hat. Besonders erstaunlich jedoch ist die Aussparung des Themas Künstliche Intelligenz. Ehemalige Mitarbeiter:innen von großen KI-Unternehmen haben in diesem Jahr ein Paper veröffentlicht, das bislang unvorstellbare Szenarien für die Zukunft der Menschheit entwirft – die kann man für einen Marketingtrick halten, dafür gibt es gute Argumente. Doch in jedem Fall scheint eine Debatte, für die der Literaturherbst eine gute Bühne wäre, angemessen, immerhin betrifft Künstliche Intelligenz inzwischen jeden Lebensbereich und besonders für kreative Berufsfelder hat sich die Lage verschärft. Schade!
So klingt an einem viel zu heißen – Stichwort Klimakrise – Augusttag im dritten Stock des Göttinger Kunsthauses die Pressekonferenz aus, die Besucher:innen und Pressevertreter:innen verlassen nach einem letzten Fotoshooting den Saal und es bleibt etwas Zeit, sich den Raum mit seinen hohen Decken als diesjähriges Festivalzentrum vorzustellen. Es ist seit Eröffnung des Literaturhauses das erste Mal, dass sich das Hauptquartier des Festivals an diesem Ort, dem Kunsthaus, befindet. Richtung Osten eröffnet sich eine Fensterfront mit anschließender Dachterrasse, von der aus laut Veranstalter:innen der Vierkirchenblick möglich sei – das will noch einmal selbst ausgetestet werden! Sobald der Raum sich leert, fällt der Blick auf einen Tisch direkt vor der Glasfront. Dort sind die Bücher aus dem neuen Herbstprogramm aufgereiht, die geprägt von unserer Zeit sind und wiederum uns Zuschauer:innen und Leser:innen prägen werden. Noch zwei Monate sind es bis dahin, und man darf sich freuen!