Abhilfe für Ulrikelose

Gut und schön, Facebook und Twitter sind schon was für kritische Geister. Aber war es das wirklich schon? Warum das Schreiben von Kolumnen das Zeug zum Sommertrend hat, lässt sich trefflich unter Bezugnahme auf Heinrich von Kleists Beziehung zu seiner Schwester erklären.

Von Philip Flacke

Bild: Heinrich von Kleist, gemeinfrei

Seit Heinrich von Kleist wissen wir: Twitter und Facebook sind die Suppe und das Brot des Intellekts. Ihn hungert nach dem Gegenüber, dem er sich mitteilen kann. Denn manchmal muss man seine Gedanken erst aussprechen, um sich bewusst zu werden, was man überhaupt sagen will. Und falls nun im entscheidenden Moment die Schwester – vielleicht Ulrike von Kleist – nicht im Raum ist, macht es nichts. Freund*innen und Follower haben immer ein offenes Ohr. 280 Zeichen Platz und los:

so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist.

– Na gut, das mit den 280 Zeichen könnte man noch üben.

Oder eben nicht üben! So schwer es auch ist, die zivilisatorische Signifikanz der Social Media zu überschätzen, so ist doch die Benutzung mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden und eine falsche Anwendung weitverbreitet. Manche Nutzer*innen missverstehen das Kleistische Programm von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden und veröffentlichen nicht nur den mühsam allmählich verfertigten Gedanken, sondern die ganze allmähliche Verfertigung gleich mit, ohne nochmal Hand anzulegen. Andere gar vergessen darüber noch den Gedanken. Apropos: In welche Gesellschaft entlasse ich meine Gedanken dann da? Es ist ja nicht nur Stefanie Sargnagel auf Facebook und Twitter (Stefanie Sargnagel: für das digitale Zeitalter, was François de La Rochefoucauld der Adelswelt des französischen Absolutismus war), sondern auch Farmville, Hans-Georg Maaßen und Co versehen den Feed mit »Inhalt«.

Reihe

Sommerferien sind nichts fürs Feuilleton. Falls unsere Autor*innen dieser Tage am Leineufer oder im Straßencafé verweilen sollten, dann nur zum Zweck der Recherche. Für unsere neue Kolumne nämlich, die den studentischen Sommer unter die Lupe nimmt. Alle Artikel in Übersicht gibt’s hier.   

»Gibt es nicht eine sichere Alternative«, höre ich die Ulrikelosen schreien, »wo wir Gedanken über unseren Alltag für eine kritische Öffentlichkeit formulieren können, betreut durch eine Redaktion, in sympathischer Gesellschaft und statt mit nur 280 mit 4000 Zeichen Spielraum?« Es gibt sie: die Litlog-Sommerkolumne. Und gerade zur rechten Zeit – das Kolumnenlesen ist das perfekte Sommervergnügen: Die Kolumne ist kurzweilig und zum Prokrastinieren ebenso geeignet wie für den späten Start in einen freien Tag, sie schmilzt nicht in der Sonne, qualmt nicht im Wind und schmeckt nicht nach Sonnencreme, sie ist klimafreundlich und vegan. Das Verfassen von Kolumnen verdient diesen Sommer einen Platz im Alltag wie Tweeten, Posten, Zähneputzen. Beim Schreiben verfertige ich meine Gedanken, um sie dann einer Welt von Ulriken mitzuteilen. Das Speiseeis im Supermarkt ist alle und ich beginne, über Essgewohnheiten in den Hitzemonaten zu grübeln? Das könnte ich doch in einer Litlog-Kolumne entwickeln! Meine Nichte will im Zoo die Pinguine besuchen? Ein Thema für eine Litlog-Kolumne! Schon wieder eine Toilette wird zur sterilen High-Tech-Facility umgebaut und ich komme mir mit meinem schnöden Stoffwechsel zunehmend fehl am Platz vor? Litlog-Kolumne! Das Kolumnenschreiben ist die vielversprechende Kulturtechnik der Ulrikelosen. Die Kolumne ist das Facebook des 21. Jahrhunderts!

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