Babylon im Stillstand

Kenah Cusanit schreibt in ihrem Debütroman Babel über die Grabungsarbeiten 1913 in Babylon. Der Roman bietet Einblicke in die Tagesabläufe des Grabungsleiters Robert Koldewey und setzt sich zudem kritisch mit dem Sinn hinter den Grabungen auseinander.

Von Denise Frerichs

Bild: by Osama Shukir Muhammed Amin via Wikimedia Commons, CC BYSA 4.0, cropped

In Berlin wisse man letztendlich mehr über die babylonische Geschichte als in Babylon selbst. Diese Kritik wird in Kenah Cusanits Debütroman Babel geäußert, in dessen Zentrum die Ausgrabungsarbeiten in Babylon im Jahre 1913 stehen. Im Laufe des Buchs wirft Cusanit diverse Fragen auf: Was geschieht mit den Ergebnissen der Grabungsarbeiten? Müssen diese wirklich an anderen Orten ausgestellt werden? Wird die babylonische Geschichte in Berlin somit mehr aufgearbeitet als dies von den Einheimischen selbst getan werden kann? Welchen praktischen Nutzen haben Konservendosen?

Orientiert an den historischen Fakten macht Cusanit Grabungsleiter Robert Koldewey zum Protagonisten des Romans. Koldewey, der von seinem Assistenten durchweg genervt ist, zeichnet sich durch diverse Eigenarten aus: Er zitiert sich selbst, korrigiert Rechtschreibfehler in Briefen und weiß genau, wie er einmal begraben werden möchte. Schließlich hat er ausreichend Zeit zum Nachdenken, denn viel Bewegung hat seine Handlung nicht. Am Fenster sitzend, ohne das Ziel, sich in naher Zukunft von dort wegzubewegen, kann er sich in Gedanken ausgiebig aufregen: »Bewegen sollte man sich nicht […], aber beschweren konnte man sich.«

Bewegen, nicht stehenbleiben

Wer auf mehr Handlung hofft, wird enttäuscht. An einer Blinddarmentzündung erkrankt sitzt Koldewey die erste Hälfte des Romans tatsächlich durchgehend wie eingefroren am Fenster und betrachtet die Landschaft – selbst während er Gespräche mit Anwesenden führt –, liest Briefe und denkt nach. Seine Gedankengänge führen leider oftmals ins Leere. Die meiste Erzählzeit wird für die Beschreibung von Flüssen und Vögeln oder Gedanken über Konservendosen (unendlich lang haltbar und laut Koldeweys Kollegen vielleicht sogar eine sinnvollere Kriegsausstattung als moderne Waffen) verwendet. Seitenweise werden mehrere kurze Briefe hintereinander aufgereiht, sodass die Leser*innen das Gefühl bekommen, nun plötzlich einen Briefroman zu lesen. Als Koldewey schließlich doch aufstehen muss, stellt sich die Frage: Kann er das überhaupt? Er kann, doch es wird deutlich, wie schwer ihm dies fällt. Die ganze Zeit muss er sich daran erinnern, weiterzugehen. »Bewegen, nicht stehenbleiben«, sagt er sich selbst.

Cusanit gelingt es, Koldeweys Naturbeobachtungen auf eine so bildliche Art zu beschreiben, als säße sie selbst mit ihrem Protagonisten am Fenster und betrachte die Flüsse und Vögel. Obgleich diese Passagen wenig bis nichts zur Handlung beitragen, wird an den aufmerksamen Beschreibungen deutlich, dass die Autorin ihre schriftstellerischen Anfänge in der Lyrik gemacht hat. So kreiert sie wunderbar eindrucksvolle Momentaufnahmen, die ihren Schreibstil auszeichnen:

Schlamm als Impression, Lehm, der sich durch das Wasser bewegte, indem er sich drehte. […] Das Haus bestand aus Lehmziegeln, die gebrannt waren, damit sie Feuchtigkeit und Wind und Sand standhielten. Damit die Wände sich nicht, nachdem sie witterungsbedingt allmählich zusammengefallen wären, wieder mit dem Boden verbanden und, wenn auch erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, zurück in den Fluss glitten.

Allerdings erschweren ihre häufigen Schachtelsätze die Aufmerksamkeit beim Lesen. Erst recht dann, wenn am Ende eines langgesponnenen Satzes wieder einmal nichts passiert.

Berlin ≠ Babylon

macbook

Kenah Cusanit
Babel

Hanser: München 2019
267 Seiten, 23,00 €

Zwischendurch erhalten die Leser*innen immer wieder Einblicke in die Grabungsvorgänge sowie die Geschichte Babylons. Zu Beginn der Kapitel sind Schwarzweißfotos oder Zeichnungen der Grabungsarbeiten abgedruckt. Dies, wie auch die Anführung der Briefe, zeugt von einem hohen Maß an Recherchearbeit, die Cusanit betrieben hat. Sie gibt Informationen, die durchaus interessant, jedoch in Geschichtsbüchern weit ausführlicher nachzulesen sind. Die Einbettung der historischen Informationen erscheint misslungen, denn die Handlung kommt zu kurz.

Der Roman greift immer wieder das Problem einer verschleppten Kolonialismusaufarbeitung auf. Bezüglich der eingangs erwähnten Frage, ob man Fundstücke nicht einfach an ihrem Platz lassen und darauf zukünftig aufbauen kann, zeigt er auf, welch absurdes Privileg es ist, Bruchstücke einer Kultur an davon unabhängigen Orten zu präsentieren. Wieso stellt man in westlichen Museen Kulturen aus, die – wie Cusanit anführt – selbst weniger über ihre Vergangenheit wissen als die Forscher in Berlin? Wie weit geht der Wunsch danach, sich andere Kulturen anzueignen und diese zum eigenen Profit zu nutzen? Letztendlich folgt die Handlung aber eben diesem privilegierten Grabungsvorgang, dessen Sinn bezweifelt wird. Am Ende bleibt unklar, was davon zu halten ist: Dienen die aufgeworfenen Fragen dazu, ein negatives Bild zu vermitteln? Weshalb erzählt Cusanit die Geschichte dann überhaupt? Lag es ihr als Altorientalistin und Ethnologin schlichtweg daran, Historie nachzuerzählen und die Grabungsarbeiten mit einem Namen zu verknüpfen – dem des heutzutage kaum bekannten Grabungsleiters Robert Koldewey?

Obwohl der Roman mit seinen 267 Seiten kurz wirkt, ist er nicht in jedem Fall schnell zu lesen. Zu leicht fällt es, das Buch beiseite zu legen – und zu groß ist der Wunsch, der Roman würde sich ebenso wie Koldewey das eine oder andere Mal selbst daran erinnern, sich voran zu bewegen, anstatt stehen zu bleiben.

Geschrieben von
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert