Klangzauber und Wortakrobatik

Aufgepasst und aufgetraklt! Beim diesjährigen Poetree-Lyrikfestival präsentierten kreative Köpfe wieder auf der Bühne des atmosphärischen Innenhofs des DOTS’, was Wortkunst alles leisten kann. Von Lyrikrezitation über eigene Gedichte bis hin zu Poetry-Slam war für jeden Geschmack etwas dabei.

Von Amelie May

Bilder: Wir danken dem Literarischen Zentrum für das Bildmaterial.

Wenn in Göttingen wieder etliche WortkünstlerInnen aufeinandertreffen, um ihrer Spraches- und Dichtlust zu frönen und ihr Publikum zu poetisieren, dann heißt das Poetree. Zum vierten Mal schon fand das Lyrik-Festival in Göttingen statt, das ein abwechslungsreiches Programm in petto hatte und wieder zeigte, wie vielfältig Lyrik auf einer Bühne dargeboten werden kann. Auch eine besondere Premiere gab es: Das erste Poetree ohne Regen – die Vorzeichen für ein gelungenes Literaturfestival konnten also nicht besser sein!

Von Tauben und Populismus

Julian Heun und David Friedrich als »Heun & Söhne«

Den Auftakt auf der Poetree-Bühne machten Julian Heun und David Friedrich, die unter dem Pseudonym »Heun & Söhne« zahlreiche Preise in der Slam-Poetry-Szene gewannen und sich auch darüber hinaus einen Namen gemacht haben. Mit ihrer »Team-Slamedy« erfüllten sie genau das, was man sich unter gelungenem Poetry-Slam vorstellt: eine abwechslungsreiche Mischung aus freier Rezitation ihrer Texte und mit das Publikum einbindenden Comedy-Elementen. David Friedrich startete den Act mit einem Text über Tauben und einer Kampfansage gegen den #healthy-#cleaneating-lifestyle, während es sich Julian Heun auf einem Sessel auf der Bühne bequem machte. Aber Moment mal, was haben denn Tauben mit gesunder Ernährung zu tun? Erst einmal gar nichts, jedoch zeigte Friedrich in unterhaltsamer Art eine Kausalkette auf, die vorher nicht existierte und plötzlich Sinn ergab, immer schneller drehte sich das Wortkarussell, aus dem man trotzdem nicht geschleudert wurde; zu prägnant war seine spitzfindige Symptomatisierung eines Phänomens seiner Generation: Etwas verändern, ja, sich optimieren zu wollen, und man blickte dabei nicht nur in viele lachende, sondern fast ertappt dreinschauende Gesichter. Wenn Heun und Friedrich auch einzeln die Bühne ausfüllten, so war das im Vergleich zu ihren gemeinsam vorgetragenen Texten noch ein überschaubares Spektakel. Darunter eröffnete sich nämlich eine besondere Dynamik, die sich vor allem durch ein gesteigertes Tempo und dialogische Elemente auszeichnete. Die Form des Gesprächs, angereichert durch satirische Elemente, war tragend für die Verhandlung gesellschaftskritischer Themen. So zum Beispiel bei ihrem Text Alles lässt sich einfach sagen: die Tendenz einer scheinbar immer populistischeren Gesellschaft, in der komplexe Zusammenhänge auf angebliche Tatsachen heruntergebrochen werden, die in eine bestimmte Agenda hineinpassen. Eine Zeit, in der immer mehr sagbarer und in der »Othering«1»Othering« beschreibt die Abgrenzung einzelner Gruppen mithilfe konstruierter Attribute und bedient eine identitätsstiftende und -sichernde Funktion. betrieben wird, um die angeblichen Stärken der eigenen Kultur hervorzuheben. Was hier so trocken und ernst klingt, wurde von den beiden auf spielerische Art vermittelt, mit hör- und sichtbarer Freude an der abgestimmten Vortragsweise. Dadurch, dass der Text in angeregte gesprächsähnliche Teile und einen gemeinsamen, stark rhythmisierten Refrain unterteilt war, wurden die dargestellten Problematiken umso verständlicher:
»Moslems schlagen ihre Frauen, ich schlage meine Frau nicht!«
»Warum hat sich deine Frau nochmal scheiden lassen?«
»Häusliche Gewalt. Aber ich hab’ damals als Christ zugeschlagen, das ist was völlig anderes!«
Nichts also lässt sich einfach sagen – außer, dass nichts sich einfach sagen lässt.
Das Talent, gesellschaftliche Themen gekonnt auf die Spitze zu treiben, bewiesen sie auch, als sie ins Varieté des Jahres 2018 einluden, wo sich die »Freaks« unserer Gegenwart herumtreiben würden: Internet-Trolle, FDP-PolitikerInnen, die Arbeitslose durch Feuerringe springen lassen, der große Relativini, der jedes realpolitische Problem durch ein größeres zunichte macht und so fort. Julian Heun und David Friedrich bewiesen mit diesen Texten, dass sie in der Lage sind, auch komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge und Probleme mittels ihres virtuosen Umgangs mit Sprache verständlich zu vermitteln.

Polyphone Klangdichtung

Eine ganz andere Stimmung brachte die flämische Lyrikerin Charlotte van den Broeck auf die Bühne. 2015 wurde ihr erster Lyrikband Kameleon mit dem »Herman De Coninck«-Preis ausgezeichnet; es handelt sich dabei um Gedichte, die in bildhafter Sprache in Lebensepisoden aus Kindheit und Jugend entführen. Zunächst auf Deutsch und sich aufgrund der Fremdsprachigkeit sehr am Text orientierend, erzählte sie mit ruhiger, samtweicher Stimme und charmantem Akzent eine anachronistische Liebesgeschichte, beginnend bei der Trennung und einer Wohnung, die in »Bananenboxen und Possessivpronomen« eingeteilt ist. Van den Broecks besondere Stärke liegt darin, bei aller Bildhaftigkeit trotzdem direkt und unverblümt zu schreiben, Sätze, die nachdenklich stimmen. Mit ihrer niederländischen Muttersprache fühlte sie sich sichtbar wohler. Völlig vom Text auf Papier befreit, trug sie ihre Gedichte vor, die Worte durch zarte Gesten unterstützt. Trotz der Sprachbarriere fiel es leicht, sich in die Stimmung hineinfallen zu lassen, zumal die deutsche Übersetzung der Gedichte im Anschluss von Birte Müchler vorgetragen wurde. Ein besonderes klangliches Highlight ergab sich, als beide eines der Gedichte polyphon vortrugen, als sich Sprachen und Aussagen überlappten und eine neue poetische Ebene eröffneten – kein Wettstreit von Original und Übersetzung, mehr ein harmonisches Miteinander von Texten, die beide das gleiche meinen, aber unterschiedlich ausdrücken.

Des Trakls neue Kleider

»Aufgetraklt«, wie es im Programm angekündigt wurde, haben sich die Lyrikerinnen Nadja Küchenmeister und Kerstin Preiwuß. Anlässlich des 100. Todesjahres des österreichischen Lyrikers Georg Trakl erschien 2014 der Band Trakl und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal (Stiftung Lyrik Kabinett), in dem sich LyrikerInnen aus verschiedenen Perspektiven ihrem persönlichen Trakl und seinem Werk annähern, indem sie in Anlehnung an ihn beispielsweise eigene Gedichte verfassen oder auch Parallelen zu ihren eigenen Dichtungen aufspüren und diese reflektieren. Darüber, dass diese Verarbeitung sehr unterschiedlich erfolgen kann und wie sie mit seinen Texten in Berührung kamen, sprachen Küchenmeister und Preiwuß. Das Leben und Schaffen Trakls hätte schon viel Anlass zur Spekulation gegeben, ebenso wie die verhandelten Topoi, die in vielerlei Hinsicht an die Naturmotivik Josephs von Eichendorff erinnerten. Wie eine Neuinterpretation eines Gedichts klingen kann, präsentierte Preiwuß, die sich bei Trakls Gedicht Sommersneige an der »überbordenden Farbsymbolik« stieß und das Gedicht dementsprechend transformierte: »Weniger metaphorisieren, mehr sagen«, wie sie ihr Vorgehen in der grüne sommer ist so leise… beschrieb.
Bei Küchenmeister handelte es sich um eine andere Art der Begegnung mit der Lyrik Trakls. Sie habe nach der Entstehung ihres Gedichts Morgenschauer Parallelen zu Trakls Der Schatten festgestellt, hätte sich »gegrüßt gefühlt«. Beide Lyrikerinnen eröffneten mit ihren Gedichten und im Gespräch erörterten Annäherungsversuchen nicht nur neue Perspektiven auf das lyrische Schaffen Trakls, sondern evozierten ebenfalls ein Empfinden für die Überzeitlichkeit von Poesie, die transportierten Gedanken und die damit einhergehende rezeptionelle Offenheit.

Level-Literatur

Futuristisch ging es bei dem Klangkünstler und Literaturveranstalter Christian Schloyer zu, der eine musikalische und literarische Ebene zu einer interaktiven Geschichte zusammenführte, deren Verlauf das Publikum steuern konnte. Das Konzept ist ebenso simpel wie spannend: Zu einem zuvor komponierten elektronischen Klangteppich schrieb Schloyer Kurzgeschichten, deren einzelne Sätze, auf den ersten Blick zusammenhangslos, auf der Leinwand zu erkennen waren. Die Fragmente der Geschichte waren verbunden durch verschiedene Elemente, die die Navigation durch den Handlungsverlauf bestimmten. Leitern beispielsweise, die den Schritt zum nächsten Erzählungs-Teil nur in eine Richtung ermöglichten. Diese Art der Interaktion verleitete nicht nur Spielkinder dazu, einen Laserpointer in die Hand zu nehmen, um die nächstfolgenden Elemente herauszupicken; auch das passive Publikum lauschte gebannt dem Fortgang der Geschichte, als Schloyer dem wandernden roten Punkt auf der Leinwand folgend in andere Sphären entführte. Seine ruhige, fast hypnotisierende Stimme verschmolz mit der unheimlich und fremdartig anmutenden Klangkulisse zu einem besonderen Hörerlebnis. Die Handlung der Geschichte war hierbei ziemlich nebensächlich. Die einzelnen Level wirkten eher wie ein Bewusstseinsstrom in verschiedenen beklemmenden Umgebungen, im All, in der Großstadt und schließlich im tierischen Mikrokosmos einer dystopisch bebilderten Welt. Der individuelle Verlauf der Level und Wiederholungen einzelner Fragmente führte zu einer besonderen Rhythmik der Geschichte, die dadurch zusätzlich an Atmosphäre gewann – futuristische Poesie.

Während des sechsstündigen Festivals war nicht nur der Laserpointer in Bewegung, auch abseits der Bühne herrschte emsiges Treiben. Gäste kamen und gingen, holten sich Getränke oder erprobten sich beim Litlog-Stand selbst als LyrikerInnen, indem sie aus den verschiedensten Zitaten und Wortbausteinen eigene Gedichte an die Magnetwand pinnten, die allesamt photographisch festgehalten wurden.
Mit dem letzten Sonnenstrahl endete auch das diesjährige Poetree-Festival, gerade rechtzeitig, bevor der Platzregen auch über dem DOTS einsetzte – dass auch das Wetter die Acts nicht stören wollte, interpretieren wir mal als gutes Zeichen für das nächste Mal!

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