Wer bist du, Kouplan?

Ein Detektiv mit geheimnisvoller Identität, eine Mutter ohne Erinnerungsvermögen und ein verschwundenes Mädchen, das niemand kennt: Sara Lövestam entwirft mit Die Wahrheit hinter der Lüge einen Krimi, der Genregrenzen überschreitet.

Von Pia Rohrig

Bild: Historische Aufnahme des Freilichtmuseums Skansen in Stockholm via Wikimedia / CCO

Die Angst, jeden Tag entdeckt und abgeschoben zu werden, das knapp werdende Geld, der bevorstehende Winter, wenn man eine neue Jacke braucht, und die Einsamkeit in einem fremden Land: Kouplan ist ein Flüchtling aus dem Iran und ist nicht in Schweden registriert, somit hat er auch keine Personennummer. Die braucht man in Schweden allerdings, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Er wohnt illegal zur Untermiete und aus finanziellen Nöten heraus bleibt ihm nur die Möglichkeit, eine Annonce im Internet zu veröffentlichen: »Privatdetektiv. Wenn Ihnen die Polizei nicht helfen kann, wenden Sie sich an mich.«
Einsam sitzt er nun in seinem Zimmer vor dem alten Computer aus dem Sperrmüll und hofft, dass sich jemand bei ihm meldet. Eines Tages erhält er eine Nachricht von Pernilla Svensson. Sie ist alleinerziehende Mutter einer Tochter namens Julia, die direkt aus einer Menschenmasse entführt worden ist. Gleich am Anfang wird Kouplan klar, dass sein erster Fall kein normaler Fall ist, denn Pernilla selbst ist sehr erpicht darauf, nicht die Polizei mit einzubeziehen. Fast alle Beweise von Julias Leben, wie Bilder, sind nicht mehr aufzufinden, und selbst Pernillas Erinnerung an Julia wird immer schwächer.

»Kinder unter sechs Jahren haben in Skansen freien Eintritt. Nächsten Sommer hätte sie eine Eintrittskarte gebraucht.«

Schnell bildet sich für Kouplan ein erster Kreis von Verdächtigen: Der Vater von Julia, Patrick, der kein Interesse am Verschwinden seiner Tochter zeigt. Tor, ein mysteriöser Priester im Ruhestand, dem sich Pernilla anvertraut hat. MB, der mutmaßliche Chef eines Mädchenhandels. Und Pernilla selbst, deren Aussagen auf Dauer immer widersprüchlicher werden. Und wer ist eigentlich Julia? Warum ist sie immer so ruhig, nie wütend oder trotzig? Warum hat sie keine Personennummer?

Bruch mit der schwedischen Tradition

Der schwedische Krimi boomt, aber Lövestams Roman passt nicht so recht in das Schema ihrer Landsleute. Die meisten Bücher handeln von einem herausragenden Ermittler, doch Kouplan hat noch keine Erfahrung mit dem Beruf des Detektivs und fähige Helfer hat er auch nicht. Seine Geschichte ist vielmehr die eines einsamen Ermittlers, wie z.B. in der amerikanischen Hardboiled-Tradition. Indem Kouplan eher dem Typus des einsamen Großstadtwolfs entspricht und diesen zugleich persifliert, unterscheidet er sich von prominenten Ermittler-Duos der schwedischen Krimiliteratur: Schon Sjöwall und Wahlöö stellten ihrem Kommissar Beck ein Team an die Seite und nicht zuletzt machte Stieg Larsson sein Team Mikael Blomqvist und Lisbeth Salander als Ermittlerduo weltberühmt. Kouplan weicht dann auch noch so weit vom typischen Schema ab, dass er in jeder Situation, sei es bei Zeugenbefragungen oder Ermittlungen, immer seine Identität verändert, indem er einen falschen Namen oder ein anderes Alter angibt. Zwischenzeitlich fragt der Leser sich, wer überhaupt Kouplan wirklich ist und warum er ein so großes Geheimnis um seine Herkunft macht.

»Ich heiße jetzt Kouplan […] Du sollst am Telefon nicht mehr nach dem anderen Namen fragen, frag nach Kouplan.«

Der schwedische Titel des Buches lautet Sanning med modifikation, was wortgenau übersetzt »Wahrheit mit Modifikation« bedeutet. Kouplan modifiziert die Wahrheit seiner Identität immer so, wie es ihm in einer Situation gerade nützlich erscheint. Diese »Modifikationen« führen schließlich soweit, dass der Leser sich zwischenzeitlich fragt, ob man sich der Identität Kouplans überhaupt selbst sicher sein kann. Während der Handlung wird dabei immer wieder über die Langwierigkeit und Einsamkeit des Ermittelns berichtet, beispielsweise während seiner stundenlangen Observationen.

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Sara Lövestam
Die Wahrheit hinter der Lüge

Rowohlt 2016
288 Seiten, 9,99€

Krimi ohne Gattungsgrenzen

Obwohl der Roman ein Verbrechen behandelt, das zum Schluss auch gelöst wird, werden auch andere, aktuelle Themen zum Stoff des Romans erhoben, wie die Immigrantengeschichte Kouplans. Hier vermischt Lövestam also zwei Gattungsrichtungen, die des Krimis und der Migrationsliteratur, und überwindet enge Gattungsgrenzen. Am Ende verblüfft die Autorin ihre Leserschaft, indem sie ihrem Roman eine völlig unerwartete Wendung einschreibt, die viele Fragen offen lässt. Es ist deswegen nicht verwunderlich, dass bereits zwei weitere Fälle über Kouplan erschienen sind, die jedoch bisher nur den schwedischsprachigen Lesern vorbehalten sind.

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