»Zufälle gibt es nie« 

Wenn dich die Gesellschaft zu jemanden macht, der du eigentlich nie sein wolltest… Felicitas Korns Drei Leben lang thematisiert die Probleme der postmodernen Gesellschaft. Drei Charaktere, von Hilflosigkeit und Verzweiflung geprägt, geraten in Abwärtsspiralen nach unten.

Von Katharina Gläßer

Bild: Via Pixabay, Pixabay Lizenz

Drei Protagonisten, drei Charaktere, drei Leben – und eine Geschichte. Doch wie fügt sich alles zusammen? Felicitas Korn veröffentlicht einen neuen Roman, der die Geschichten von Michi, King und Loosi erzählt und die Leser*innen durch seinen Bildreichtum in den Bann zieht. Der Roman fesselt, und das liegt nicht nur daran, dass er an ein Drehbuch erinnert, wenn er ganz präzise Momentaufnahmen und einzelne Regungen der spielenden Figuren detailreich beschreibt. Je mehr man liest, desto größer und mächtiger wird die Bilderabfolge vor dem inneren Auge und wandelt sich schließlich zu einem kohärenten Film – und der hat es in sich.

Macht, das ist es, worum es den Protagonisten geht – über sich selbst und ihr Leben. Jeder von ihnen versucht sie auf seine ganz eigene Art und Weise zu erlangen. Während der 14-jährige Michi nach dem Tod seiner Eltern darum kämpft, eine Adoptivfamilie für sich und seine Schwester zu finden und dabei immer weiter in die Schlingen der komplizierten Welt des Erwachsenwerdens gerät, ist King schon längst ganz oben. Nicht umsonst nennt er sich so. Drogen, allen voran Kokain, haben ihn zu dem gemacht, der er heute ist – und er liebt es. Koks macht ihn zum Gott, und das ist alles, was er will. Immer mehr Macht ist sein Ziel und vor allem vergessen, wie es sich anfühlt, ohnmächtig zu sein:

Bloß nicht nachdenken, die Bilder nicht zulassen, weiter verdrängen, wie skrupellos er war, ihn der Weg nach oben gemacht hat.

Und dann ist da noch Loosi, Mitte 40 und Alkoholiker. Er hat sich schon längst aufgegeben, hat mit sich und seinem Leben abgeschlossen und ist damit auch ganz zufrieden. Sein Motto: »Immer nur die nächsten vierundzwanzig Stunden.« Und wenn er die überlebt, ist er selbst über sich erstaunt, denn medizinisch geben ihm die Ärzte bei seinem Lebensstil keinen Monat mehr.

Was alle drei Charaktere verbindet, ist nicht nur der sehnliche Wunsch nach Macht, sondern vor allem das Bedürfnis, endlich nichts mehr zu fühlen. Sie sind es leid, immer neue Schicksalsschläge verkraften zu müssen, sich immer wieder aufzubäumen und von Neuem zu kämpfen. Innerlich sind sie leer und vertrocknet, allen voran Loosi:

Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Hauptsache, keinen Schmerz mehr fühlen, denn der ist es, der selbst die Mächtigsten plötzlich in hilflose Häufchen Elend verwandelt – und das muss um jeden Preis verhindert werden.

Drei Leben – ein Roman

Felicitas Korn nimmt den/die Leser*in mit auf diese Reise der drei männlichen Charaktere, die so spannungsgeladen erzählt ist, dass man das Buch gar nicht mehr weglegen will. Die einzelnen Kapitel (38 plus Pro- und Epilog) sind jeweils einem der drei Charaktere gewidmet und erzählen so versetzt die einzelnen Geschichten. Das erzeugt nicht nur noch mehr Neugier und Dramatik, sondern fördert auch den Spannungsbogen, insbesondere wenn es den Anschein macht, dass alle drei irgendwie doch zusammengehören und eine bestimmte Verbindung haben. Da ist zum Beispiel ein plötzlich aus dem Nichts auftauchender Mofafahrer, der die Protagonisten immer wieder aus ihren Gedanken reißt und den eigentlichen Ereignissen mit seinen riskanten Überholmanövern Einhalt gebietet. Diese Hinweise streut Korn ganz unauffällig in die verschiedenen Kapitel, und es ist an den Leser*innen, bis zum Ende auszuharren und das Rätsel zu lösen – denn »Zufälle gibt es nie«, wie King es so schön formuliert.

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Felicitas Korn
Drei Leben lang

Kampa Verlag: Zürich 2020
304 Seiten, 22,00€

Bereits das Buchcover lässt vermuten, dass die Charaktere irgendwie miteinander verbunden sind. Es zeigt ein Schwimmbecken von oben, komplett in Blau mit drei aufgezeichneten Bahnen, die parallel zueinander verlaufen und wohl auf die drei Leben der Protagonisten verweisen. Das Becken an sich zeigt symbolisch die große unbeständige Welt der Erwachsenen. Es gibt nur eine Leiter am Rand, die den Ausstieg ermöglichen würde und den die Protagonisten, wie die Leserinnen später sehen werden, auch immer wieder wagen. Doch alle bleiben im selben Becken und müssen versuchen, weiterhin oben zu schwimmen, denn Rücksicht nimmt längst keiner mehr auf sie. «.

Sie alle gehören zum »Abschaum der Gesellschaft«, wie Loosi sich selbst bezeichnet. Das einzige was zählt ist der endlose Wettkampf um das Siegertreppchen. Einmal ganz oben zu sein, das ist das Ziel. Vor allem Michi muss schnell begreifen, dass sich die Welt nicht länger um ihn dreht, sondern es nur um Eines geht: »Sink or Swim

Realistisches Setting und packende Dramatik

Ein weiterer Faktor, der den Roman äußerst aufregend für die Leser*innen macht, ist das Setting. Die Geschichte spielt im Taunus rund um Frankfurt, was sie gleich noch viel realistischer erscheinen lässt, da es sich um eine geografisch verortbare Region in Deutschland handelt. Damit werden die Leben der drei Charaktere direkt in die Alltagswelt der Leser*innen eingebettet und wirken wie eine Geschichte, die allen passieren könnte. Auch die atmosphärische Stimmung zwischen Apathie (durch Drogen oder Hilfslosigkeit) und Action (Kings Drogenpartys, Michis Flucht aus dem Heim oder Loosis Wutausbrüche) erzeugt den typischen, packenden Nervenkitzel eines Actionthrillers, in dem jede Minute etwas Unvorhersehbares passieren kann – und trotzdem bleibt das Buch in jeder Sekunde komplett nachvollziehbar; die Leser*innen können sich leicht in die Protagonisten einfühlen. Wenn die Gedanken der Protagonisten nur noch in Form einzelner Wörter oder Wortgruppen geäußert werden, unterstreicht das die Stimmung stilistisch. Dabei spitzen sich die Sätze meist zu und werden immer kürzer, wie die ansteigende Euphorie bis zum Höhepunkt des Rausches. Die Leser*innen erleben so haargenau die aufgeladene Atmosphäre und fiebern umso mehr mit den Protagonisten mit. Und auch deren Erlebnisse werden nie abgeschlossen. Die Kapitel enden so, dass sie immer wieder mit offenen Fragen locken und neugierig machen. Das führt dazu, dass sich das Buch nicht aus der Hand legen lässt und die Handlung nie an Spannung verliert.

Felicitas Korn zeigt mit Bravour drei unterschiedliche Lebensläufe in verschiedenen Altersgruppen, die deutlich machen, dass jeder Mensch Halt und Geborgenheit im Leben braucht und durch die Suche danach geprägt ist. Dadurch werden alle drei Charaktere für die Leser*innen zu Sympathieträgern, wenn auch ihre Handlungen moralisch nicht immer vertretbar sind. Trotz allem bleiben sie Menschen. Menschen, die alles verloren haben und um die niemand mehr kämpft (auch sie selbst nicht). Sie befinden sich in einer Abwärtsspirale, die dem Ende immer und immer näherkommt und aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Dabei spielen auch klar skizzierte Nebenfiguren eine wichtige Rolle, wie Loosis Kurzzeit-Große-Liebe Sanni oder Kings bester Freund Jingo.

Sex, Drogen und innere Leere – das Bild einer Gesellschaft

Drei Leben lang präsentiert die wichtige Rolle der Jugendzeit und vor allem die Probleme, die dann auftauchen, wenn man keine*n Vertraute*n mehr hat. Eine falsche Entscheidung, die sich in dem Moment aber vielleicht so verdammt richtig angefühlt hat, kann alles zu Fall bringen. Plötzlich ist man ganz allein mit großen Problemen, denen man nicht gewachsen ist und die mit zunehmendem Alter nicht kleiner werden. Korn beschreibt mit ihrem neuen Roman nicht nur eine Seite der Frankfurter Drogenszene, sondern vor allem das Problem einer ganzen Gesellschaft. Das 21. Jahrhundert ist ein Luxus-Jahrhundert – eine Party reiht sich an die nächste, Konsum und Kapital regieren die Welt. Solange du ganz oben bist, wirst du von allen bewundert und geliebt, doch triffst du eine falsche Wahl, driftest du ab und landest ganz schnell ganz unten – und dann kümmert sich niemand mehr um dich, nicht einmal die vom Staat zuständige Beamtin. Denn du bist allen total egal. Und in dir drin spürst du nur eine innere Leere und Einsamkeit, die schmerzt und die du nur vergessen willst. Also beginnst du wieder von vorn mit den schlechten Entscheidungen – und die Spirale dreht sich weiter. Es ist eine unendliche Suche nach Halt, die sich immer wiederholt, weil es in einer postmodernen Gesellschaft so schwer ist, jemanden zu finden, dem du wirklich etwas wert bist.

Felicitas Korns Debütroman ist es definitiv wert, gelesen zu werden, und trotz seines schweren Themas liest er sich leicht und flüssig. Die packende Erzählweise sorgt dafür, dass die Leser*innen nie das Interesse verlieren und sich die erzählten Ereignisse wie ein Film vor dem inneren Auge abspielen – ein Muss für alle, die Actionfilme mögen und trotzdem gern auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Drei Leben, eine Geschichte – es gilt, das Rätsel zu lösen!

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