Jetzt ist endlich mal das Leben dran

Liv Strömquist schafft es mit ihrer neuesten Graphic Novel Das Orakel spricht die Social Media Orakel unserer heutigen Gesellschaft mit unverblümtem Witz, bunter Skurrilität und fundierter Recherche zu enttarnen und wirbelt die Sicht auf die eigene Normalität gehörig auf.

Von Paula Schwarz

Bild: Via Pixabay, CC0

Das Orakel spricht wendet sich einem der absurdesten Phänomene unserer Gesellschaft zu: Den makellosen Influencer:innen, allwissenden Ratgebern und der allwöchentlich-schweißtreibenden Suche nach dem eigenen Ich, welches stets noch gesünder, noch glücklicher und noch attraktiver sein könnte. In sieben Kapiteln und mithilfe von ausgewählten Soziolog:innen und Philosoph:innen zeigt Strömquist auf, wieso Self Care für viele zum Sinn des Lebens geworden ist, unser authentisches Matrjoschka-Puppen-Ich zu nichts als Eintönigkeit führt und wieso es völlig egal ist, dass wir nur ein Leben haben.

»Den elektrischen Massagestab gibt es nur jetzt für 389€!« 

Die Ansammlung sehr vieler, sehr kleiner, sehr gelber Bananen auf der ersten Seite stechen sofort ins Auge und auch die kaligrafisch anmutenden Schriftzüge der Kapitelnamen wie  »Verlier die Kontrolle über deinen Körper« und »Folge keinem Rat« lassen innehalten, weil darin altbekannte Themen überraschend neuartig ausgerichtet sind. Und doch, eine gewisse Resignation über diese altbekannten Themen setzt schnell ein. Ist dieses Buch schon wieder einer dieser überteuerten Ratgeber, die dir genau das sagen, was du sowieso schon weißt? Das Gegenteil ist der Fall. Liv Strömquist redet über die inzwischen erschöpften Themenfelder auf erfrischend eigene Art und scheut sich weder vor Provokation noch vor bunten Zeichnungen, die vor augenzwinkernden Zuspitzungen nur so strotzen.

Mit einer Influencerin, die wie ein gebrochener Kassettenrekorder die immer gleichen Produkte ihrer immer gleichen Abendroutine bewirbt, beginnt das Buch. »So. Jetzt bin ich bettfertig!« schließt sie mit erstarrtem Gesichtsausdruck und sagt dann: »Den elektrischen Massagestab gibt es nur jetzt für 389€!« Dieser Einstieg genügt, um die Lesenden auf den Geschmack dessen zu bringen, was folgt: Eine bissig-belebende Graphic Novel über Menschen der Spätmoderne im Zeitalter von Social Media, Selbstoptimierungswahn und beispielloser Paradoxität. Strömquist sieht diese Paradoxität in vielen Bereichen unseres Lebens: Beispielsweise in dem heutzutage tiefverwurzelten Anspruch, das Leben durchweg in vollen Zügen zu genießen und jeden Moment auszukosten, während gleichzeitig mit zwickenden Gewissensbissen festgestellt werden muss, dass das Taucherlebnis auf Teneriffa doch nicht die lang ersehnte, pure Glückseligkeit gebracht hat. Der innere Druck aufgrund dieses Anspruches verhindert nach Strömquist »die Erfahrung von Lebendigkeit« und führt dazu, dass das Leben weiterhin schnell an einem vorbeizieht.

Normalität ist das, was wir daraus machen

Die penetrante Überpräsenz der Social Media-Welt ist von Menschen wie der bereits erwähnten Influencerin geprägt und wird von dem Großteil der resignierten Gesellschaft einfach hingenommen. Doch Strömquist gelingt es Schritt für Schritt und mit schwungvoller Originalität die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und gefühlten Ansprüchen tiefgehend aufzudröseln und lässt die Lesenden realisieren: Ihre gegenwärtige Normalität ist nur eine Normalität unter all den anderen, die sich durch wandelnde Wertesysteme und Moralvorstellungen seit jeher stetig verändern.

Strömquist zieht also den Vergleich zwischen den Menschen, die sich einst als untrennbarer Teil einer tiefreligiösen, dörflichen Bauernfamilie mit unerschütterlichen Prinzipien ansahen und den zart besaiteten, einsam umherschwebenden Individuen der heutigen Zeit, die ihre inneren Wahrheiten über jegliche Moralvorstellungen stellen.

Liv Strömquist
Das Orakel spricht
Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben
avant-verlag: 2024
248 Seiten, 25 €

Die Autorin stellt  einleuchtende Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart her und regt dazu an, aus der Resignationsstarre zu erwachen und zu erkennen, dass der Normalzustand der Gegenwart nicht bloß stillschweigend erduldet werden muss. Nein: Er darf hinterfragt, geformt und verstanden werden, denn wenn er sich schon stetig verändert, dann doch bitte mit unserer tatkräftigen Unterstützung.

Recherchieren muss gelernt sein und Strömquist hat‘s gelernt

Neben diesen Rückblicken in die Vergangenheit holt sich Strömquist auch einige Soziolog:innen und Philosoph:innen zu Hilfe und schafft es, deren Ansichten zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen sowohl anschaulich als auch sehr unterhaltsam darzustellen. Die Denker:innen werden mit charakteristischen Zeichnungen zum Leben erweckt und wirken in ihrer reduzierten Zeichenart umso charmanter. Spätestens beim Betrachten des Quellenverzeichnisses wird den Lesenden dann schlagartig bewusst, was sie aufgrund von Strömquists Einfallsreichtum beinahe vergessen hätten: Die beeindruckend ausführliche Recherche, die in dieses Buch geflossen ist und die dem Inhalt Tiefe verleiht. Strömquist überführt dabei verschiedene Theorieansätze mühelos in ihre unbeschwerte Sprache, in ihre Zeichnungen und bereitet sie mit klugen und humorvollen Beispielen plastisch auf. So überzeugt beispielsweise die Erläuterung zu Eva Illouz’ Theorie über die Identität des modernen Subjekts in einer durchpsychologisierten Gesellschaft mit einleuchtenden Passagen. Strömquists auflockernde Kommentare und eine angenehme Dosis von strukturgebenden Sprechblasen lassen Lesende beinahe die Komplexität des Themas vergessen.

Die ausgewählten Denker:innen überzeugen durch ihre Vielseitigkeit und es entsteht eine prägnante Mischung aus vergangenen und gegenwärtigen Theorien. So erstrecken sich diese von dem 19. Jahrhundert bis in unsere unmittelbare Gegenwart und behandeln Verschiedenstes: von Ausführungen des Soziologen Max Webers über Theorien des Theodor Adornos bis hin zu Ansätzen zeitgenössischer Denker:innen. Das Nebeneinander dieser vielfältigen Sichtweisen auf Gesellschaft und die Gegenwart eröffnet den Lesenden die Muster ihrer eigenen Denkweisen und macht ihnen bewusst, dass auch ihre Ansichten nur Abfärbungen vorherrschender gesellschaftlicher Wertvorstellungen sind und somit weder als exklusiv noch als absolut gelten können.

Gott darf auch mal eine spitzbärtige Wolke sein

Abgesehen von der inhaltlichen Qualität sticht insbesondere eines hervor: Strömquists Humor. Ihre unverwechselbaren Zeichnungen und unbefangen-lebhafte Sprache bilden ein Zusammenspiel, das schon auf den ersten Seiten verblüfft auflachen lässt. Beispielsweise entzückt ihre pointierte Darstellung des amerikanischen Promi-Astrologen Carroll Righter ebenso sehr, wie es besagtem Righter selbst zeitlebens Freude bereitet haben soll, übergewichtigen Frauen ›schelmisch‹ in die Taille zu zwicken. Angeblich rief er dabei ein begeistertes »Whee!« aus und spreizte die restlichen Finger dabei wohlerzogen in die Höhe. Diese abgespreizten Finger sind ein Beispiel eben jener Details, die Strömquists Zeichnungen zu ihrer durchweg entwaffnenden Komik verhelfen.

Ihre Zeichnungen wollen herausfordern, spielen mit Klischees und diejenigen, die andernfalls problematisch anmuten könnten, verpackt Strömquist in ihre ganz eigene Sorglosigkeit: So kann herzlich über Gott geschmunzelt werden, der als kleine blaue Wolke mit Spitzbart wirkt, als dürfte er nur in konkret diesem Buch, als kleine blaue Wolke mit Spitzbart, existieren. Denn Strömquist schafft es, Klischees beinahe liebevoll zum Leben zu erwecken und ihr negatives Image zu entschärfen.

Das Orakel spricht ist konfrontativ, inspirierend und balanciert gekonnt seine farbenfrohe Schrägheit mit eindringlichen Erkenntnissen über die Absurdität unserer Gegenwart. Zurück bleiben die Lesenden, die in staunender Sprachlosigkeit das Buch zuklappen und das Gefühl nicht loswerden, dass sich ein Nebel gelichtet hat, von dem sie zuvor nicht einmal wussten, dass er existierte.

Geschrieben von
Mehr von Paula Schwarz
»Welcome Home Darling«
Joana Osman und Sara Klatt begegnen ihren Familiengeschichten. Eine Reise hinein in...
Mehr lesen
Join the Conversation

1 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert