Die Heide birgt ein Geheimnis

Markus Thielemann hat es mit seinem zweiten Roman Von Norden rollt ein Donner zu Recht auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024 geschafft. Es ist ein schmerzhaft ehrlicher Roman über Heimat, Familie und eine ungewisse Zukunft.

Von Kevin Schneider

Bild: via Pixabay, CCO

Es sollte ein entspannter Abend auf einer Party mit Freund:innen werden, doch Jannes bemerkt – allein und angetrunken – etwas Sonderbares im Wald. Er geht der Sache auf den Grund und trifft auf eine mysteriöse Frau. Bildet er sich das bloß ein oder gibt es sie wirklich? Für den Protagonisten von Markus Thielemanns Roman Von Norden rollt ein Donner beginnt eine Phase der Probleme und des Zweifels.

Auch in einer Idylle gibt es Probleme

Jannes Kohlmeyer ist noch nicht lange volljährig, doch schon längst mit dem Arbeitsalltag eines Erwachsenen konfrontiert worden. Zusammen mit seiner Mutter Sibylle, seinem Stiefvater Friedrich und Großvater Wilhelm wohnt er auf einem Bauernhof auf der Lüneburger Heide. Sie sind vor allem Schäfer:innen und meistens ist es Jannes, der die Schafe durch die Natur treibt. Seine Großmutter Erika wohnt schon länger nicht mehr zuhause, sie leidet an Demenz und verbringt ihren Lebensabend in einer Pflegeeinrichtung. Die scheinbar unendliche Landschaft bedeutet für Jannes Heimat und er ist gerne Schäfer, auch wenn er nicht wirklich eine Wahl hatte. Seine Freund:innen studieren in der Stadt und genießen das Partyleben, während er die meiste Zeit allein auf der Heide verbringt. Die Tourist:innen bewundern ihn und klagen über ihren Alltag im Büro, sehnen sich nach solch einer Idylle. Thielemann greift hier auf den uralten Arkadientopos zurück – ein ganz offenbar zeitloses Sehnsuchtsbild, das bis heute fortlebt. Unbedacht bleiben die zahlreichen Probleme dieses Lebens, denn es gibt jede Menge Arbeit, doch das Geld ist knapp.

Der Wolf ist zurück

Zudem wird über die Wiederkehr des Wolfes gemunkelt. Die Landwirte sorgen sich um ihre Tiere, fühlen sich bedroht und von der Politik im Stich gelassen. Der Unmut wächst auch bei Familie Kohlmeyer, und während sie über Lösungen nachdenken, bemerkt Jannes, dass sein Stiefvater Friedrich sich verändert. Er ist vergesslich geworden, unsortiert und zerstreut. Jannes fürchtet, er wird ganz bald sein nächstes Familienmitglied an die Demenz verlieren.

Auch er selbst traut seinem Verstand nicht mehr, denn immer wieder sieht er eine gespenstische Frau auf der Heide umherwandern und er verliert sich in Tagalbträumen. Er fragt sich, ob seine Oma wirklich ‘nur’ dement ist, oder ob seine Familie verflucht wurde – und stößt so auf dunkle Familiengeheimnisse, über welchen schon lange das Schweigen liegt. Die Situation mit dem Wolf spitzt sich zu, die Bewohner:innen wollen ihre Gegend verteidigen, gegen etwas, was ihrer Meinung nach hier einfach nicht hingehört. Die familiäre Harmonie droht zu zerbrechen, ebenso wie der idyllische Frieden der Heide.

Von Heimatliebe bis rechte Ideologie

Im Zentrum des Buches steht nicht nur der Alltag eines Schäfers und ein neugieriger Wolf. Die Probleme liegen tiefer: Großvater Wilhelm verkörpert die Gemeinde, er ist altmodisch und konservativ, spricht von den »guten alten Zeiten«. Dabei schafft es Thielemann, die ältere Generation nicht bloß zu verurteilen und nur stereotypisch darzustellen, sondern gewährt Einblicke in das frühere Leben des Familienoberhauptes und lässt ihn so menschlich wirken, sodass die Leser:innenschaft ihn nicht schlicht als ‘alten weißen Mann’ abtun, sondern verstehen möchte. Zur Nostalgie gesellt sich in Gestalt der neuen Nachbar:innen völkisches Gedankengut. Diese zeigen sich hilfsbereit im Kampf gegen den Wolf und können sich so schnell in die Dorfgemeinschaft integrieren. Dies erweckt den Eindruck, dass die rechte Ideologie bei dieser Rückwärtsgewandtheit auf fruchtbaren Boden fällt. Thielemann deutet so eine Problematisierung des Begriffs Heimat an, denn durch den Einfluss der Zuzügler droht die Grenze zwischen eher harmlosem Konservatismus, beziehungsweise Engstirnigkeit, und einem intoleranten Weltbild zu verschwimmen.

Markus Thielemann
Von Norden rollt ein Donner
C.H.Beck: 2024
287 Seiten, 23 €

Der Autor schafft es an dieser Stelle, Strategien zur Tarnung von Fremdenfeindlichkeit aufzuzeigen. Man fragt sich während des Lesens, ob es tatsächlich um näherkommende Wölfe geht. Es wird darüber gesprochen, dass man das Fremde aufhalten müsse, dass sowas hier nichts verloren habe: »Und der größte Witz ist doch, dass man sich am Ende gegen das verteidigen muss, was uns die Politik erst eingeschleppt hat. In vollem Wissen und in voller Absicht hat man sich den Wolf nach Deutschland geholt«, sagt Röder. »Aber wir sollen bloß alle schön brav bleiben. Bloß alles abnicken. Und dann wundern die sich, wenn es am Ende knallt.« Darüber, dass der Wolf im Grunde noch keinen großen Schaden angerichtet hat, scheint niemand nachzudenken. Es ist ein gelungener Vergleich, im Grunde eine Allegorie.

Auch die Darstellung der schrecklichen Vergangenheit der Gegend ist eindrücklich. Ganz in der Nähe ist das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die darin Gefangenen mussten teilweise auf den Feldern der örtlichen Landwirte arbeiten. Diese politische Dimension wirkt beim Lesen beinahe störend, ist sie doch sehr direkt und durchbricht die Vorstellung des unbeschwerten Landlebens. Dabei ist diese schonungslose Ehrlichkeit wichtig, es gibt nichts zu beschönigen, die grausame Vergangenheit gehört ebenso wie die duftenden Blumen im Frühling zu dieser Heide. Thielemann schafft somit ein Gefühl von Authentizität, es wird nichts verschwiegen oder schöngeredet.

Zwischen blutigen Tierkadavern und muffigen Stallgerüchen

Mindestens ebenso schonungslos ist die Sprache des Buches. Die Szenen werden nüchtern geschildert, beinahe berichtend, aber niemals langweilig. Die Dinge werden beim Namen genannt, Jannes Hände stinken nach Handschuhschweiß und während der Geburt der Lämmer werden die deformierten Totgeburten genau beschrieben.

»Immer wieder wischt sie heraustretendes Blut mit Tüchern beiseite. Es riecht nach Antiseptika und Eisen. Sie tastet, lässt ihre behandschuhte Hand hineingleiten, fühlt, ordnet, öffnet, Fruchtwasser fließt, dann zieht sie das erste Lamm heraus und bettet es neben sich ins Stroh, greift tiefer hinein in den blutenden, bebenden Körper und holt den Zwilling.«

Auf der anderen Seite werden auch die schönen Seiten der Heide präsentiert, etwa die scheinbar unendlichen Weiten der grünen Landschaft. Das erzeugt ein unheimlich unverfälschtes Bild der Natur, aber auch der Beziehungen innerhalb der Familie. Es herrscht ein Klima des unausgesprochenen Misstrauens. Jannes befürchtet, dass sein Vater immer unzurechnungsfähiger wird, während seine Mutter versucht, zu vermitteln. Sein Großvater Wilhelm ist zu stur, um sich auf Lösungsvorschläge von Jannes einzulassen.

Ein Buch wie ein grauer Herbsttag

Von Norden rollt ein Donner ist ein Buch für verregnete Tage, es passt zum rauen Wetter wie Kevin – Allein zu Haus zur Weihnachtszeit. Die ehrlichen, greifbaren Formulierungen lassen eine:n nicht mehr los und auch auf inhaltlicher Ebene weiß das Buch durch Tiefe zu überzeugen. Es wirft die Fragen auf, was Heimat eigentlich bedeutet, wie man mit bedrohlichen Veränderungen umgehen sollte und ob man fremde Lebensentwürfe mehr hinterfragen sollte, anstatt sie bloß zu idealisieren. Auch wenn Thielemann den Deutschen Buchpreis 2024 nicht gewinnen konnte, ist es sehr gut nachvollziehbar, dass er es mit diesem Roman bis auf die Shortlist geschafft hat.

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