Res stirbt. In Julia Frieses neuem Roman delulu werden die letzten Gedankenfetzen der 36-jährigen Protagonistin dargeboten, welche als fragmentarische Bilder und abstrakte Szenen an uns vorbei rauschen. Es sind Einblicke in das Unterbewusstsein einer Person, welche bis zuletzt an die nie eingelösten Versprechungen und ewigen Sehnsüchte der post-politischen Popkultur der 90er-Jahre festhält.
Von Irina Lefevre
Bild: via Pixabay, CC0
Die Erzählweise in delulu folgt keiner linearen Struktur, vielmehr lesen sich die Ereignisse, welche eine wilde Mischung aus Res Erinnerungen und Wunschvorstellungen sind, als bruchstückhafte Traumsequenzen, die einer surrealen Traumlogik folgen. Der Text gleicht einem rauschenden Bewusstseinsstrom, welcher gefüllt ist mit sich überschneidenden Bildern, wechselnden Erzählinstanzen sowie Zeilen- und Zeitsprüngen. Zwischendurch tauchen auch immer wieder subtile Anspielungen auf, die auf Res eigentliche Realität hinweisen, nämlich die der Steckdose, in die sie aus Versehen mit feuchten Fingern gefasst hat.
Obwohl unsere Protagonistin keine Amerikanerin ist, spielen sich die meisten Geschehnisse des Romans in New York ab. Das selbsternannte ›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹ ist nicht nur für Res Heimat und Ursprung von enormer Zukunftserwartungen, sondern auch Ort, sich seine lebensfernsten Träume auszumalen. Die unzähligen Verweise auf damals beworbene Produkte, Einrichtungen und kulturrelevante Filme finden oft in ihrer Originalsprache Englisch Erwähnung, da sie so von Res Unterbewusstsein aufgesaugt wurden und es bis zuletzt nährten. Von knallroter Cola und gesund wirkender grüner Sprite in feuchten Aluminiumdosen, über Barbie Puppen und anderem Spielzeug in Babyblau und Babyrosa, bis zu berühmten Slogans wie Nikes »Just do it« oder »It’s suntory time« aus Sofia Coppolas Lost in Translation, häufen sich die kulturellen Referenzen.
Obwohl der Roman keinem eindeutigen roten Faden folgt, drehen sich Res letzte Momente signifikant oft um die Mission, ihr Idol Frances Scott zu interviewen. Frances, die man sich als eine Art Britney Spears oder Christina Aguilera vorstellen kann, verkörpert für Res alles, was diese werden möchte, in ihrem ganzen Sein als stereotyper Teen-Popstar der 90er- und 2000er-Jahre. Doch es bleibt nicht bei einem Interview: Res surreale Fantasien projizieren die (in Wirklichkeit parasoziale) Beziehung zwischen den beiden als eine tiefgehende Freundschaft, obwohl diese in der realen Welt wohl kaum zustande kommen würde. Da die Autorin Kulturjournalistin ist, kann man davon ausgehen, dass sie aus eigener Interview-Erfahrung berichten kann, was Prominente tatsächlich über sich selbst und ihre Anhängerschaft denken. Geschickt baut Julia Friese Sequenzen ein, die, konträr zu Res Vorstellungen, ein realistischeres Bild auf die Geschehnisse werfen. Denn im Grunde genommen dreht es sich in Res Delirium immer nur darum, dass sie sich endlich selbst verwirklichen kann, indem sie das selbe Leben wie ihr Idol Frances lebt.
Glamour und ein Glanz sein
Bereits als Kind drehte sich bei Res alles darum, Anerkennung und Applaus zu generieren. Nach einem gelungenen Auftritt an ihrer Schule verfällt sie regelrecht in eine Ruhmsucht, die sie von da an nicht mehr ablegen kann. Der Erfolg fühlt sich zum Greifen nahe an – und dieses Gefühl konsumiert Res, so wie sie all die Produkte konsumiert, welche vorgeben, sie in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Jeden Tag ein Stückchen näher am Ziel, aber eigentlich nicht wirklich. Die Fantasie allein reicht, um ihr Lebensenergie einzuflößen, macht sie gleichzeitig aber auch wahnsinnig (man könnte sagen »delulu«). Res kann ihre Vorstellungen nicht als unrealistische Szenarien einordnen, sondern hält unterbewusst an dem Glauben fest, dass sie irgendwann wirklich berühmt werden wird. Dabei lassen sich keine Textstellen finden, in denen Res einer Leidenschaft oder einem Talent nachgeht, die ihr zur erwünschten Popularität verhelfen könnten. Und dennoch, die Vorstellung berühmt zu sein, ist zugleich ihre einzige Motivation und Leidenschaft.
Mit der Behauptung, dass Res ein »Glanz« sein wollte, stellt die Autorin einen unmissverständlichen Bezug zu Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen her. In diesem Buch träumt die Protagonistin Doris ebenfalls von Berühmtheit, die verbunden mit sozialem Aufstieg ist, und definiert sich selbst ikonisch als einen Glanz. Die zeitlichen und sozialen Verhältnisse der Figuren unterscheiden sich zwar deutlich, dennoch träumen beide denselben Traum. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Res und Doris liegt allerdings in dem Altersunterschied der beiden. Doris ist 18 Jahre alt und wird im Titel sogar noch als »Mädchen« bezeichnet während Res ist mit ihren 36 Jahren doppelt so alt wie sie, also in einem Alter, indem man gemeinhin als erwachsen gilt.

delulu
Wallstein Verlag: 2025
247 Seiten, 22 €
Trotzdem scheint Res sich noch im Machen ihres Seins zu verstehen. Wie in der Zeit steckengeblieben, spürt sie ihr noch unausgeschöpftes Popstar-Potential in sich schlummern, eine »Schülerin forever« im Bühnenoutfit. Res biologisches Alter steht somit in einen Kontrast zu ihrem inneren Zustand. Ironischerweise erreicht Res den Zustand eines »Glanzes« erst, als sie ihren tödlichen Stromschlag erfährt und der Schweiß ihren Körper zum Glänzen bringt.
Mit der Behauptung, dass Res ein »Glanz« sein wollte, stellt die Autorin einen unmissverständlichen Bezug zu Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen her. In diesem Buch träumt die Protagonistin Doris ebenfalls von Berühmtheit, die verbunden mit sozialem Aufstieg ist, und definiert sich selbst ikonisch als einen Glanz. Die zeitlichen und sozialen Verhältnisse der Figuren unterscheiden sich zwar deutlich, dennoch träumen beide denselben Traum. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Res und Doris liegt allerdings in dem Altersunterschied der beiden. Doris ist 18 Jahre alt und wird im Titel sogar noch als »Mädchen« bezeichnet während Res ist mit ihren 36 Jahren doppelt so alt wie sie, also in einem Alter, indem man gemeinhin als erwachsen gilt. Trotzdem scheint Res sich noch im Machen ihres Seins zu verstehen. Wie in der Zeit steckengeblieben, spürt sie ihr noch unausgeschöpftes Popstar-Potential in sich schlummern, eine »Schülerin forever« im Bühnenoutfit. Res biologisches Alter steht somit in einen Kontrast zu ihrem inneren Zustand. Ironischerweise erreicht Res den Zustand eines »Glanzes« erst, als sie ihren tödlichen Stromschlag erfährt und der Schweiß ihren Körper zum Glänzen bringt.
Unterbewusste Tiefen
Doch was genau verspricht sich Res von ihrer Träumerei? Das uneinlösbare Versprechen der Popkultur der 90er-Jahre scheint eine Zukunft mit endlosem Genuss zu suggerieren. Doch dieser Genuss stehe einem nicht nur zu, sondern werde auch Realität, solange man die richtigen Produkte konsumiere, und den richtigen Lifestyle führe. Doch dieses Versprechen beinhaltet für Res noch viel mehr als das; ein Glanz zu sein bedeutet eine Existenz ohne Scham, überall erkannt zu werden, gewollt und gebraucht zu sein. Nur wenn man auch beneidet wird, scheint das Leben erträglich. Doch Res wartet vergebens darauf, dass ein Showmaster sie entdeckt, wartet darauf, abgeholt zu werden, damit das Leben endlich losgehen kann. Hierin liegt die Tragik ihrer Geschichte: Alles, was Res wollte, war, dieses Versprechen wahr werden zu lassen. Sie stirbt nicht nur, bevor sie ihr Ziel erreichen kann, sondern auch, bevor sie sich selbst und ihre Ambitionen hinterfragen kann. Im Gegensatz zu ihr stellt der Popstar Frances Scott ihr Sein in Frage: Ist sie wirklich glücklich oder sollte sie nur glücklich sein, weil jeder an ihrer Stelle glücklich wäre? Und ist all der Neid überhaupt etwas wert? Res würde dies bejahen:
»Enviable, das ist Französisch für beneidenswert.
Und was meint viable? Lebensfähig.
Beneidet werden heißt lebensfähig sein.«
Dabei ist Frances für ihre Bewunderer kaum ein Lebewesen, sondern vielmehr ein Objekt, durch welches sie ihre eigenen Träume ausleben können. Es ist ihr nackter Bauch, durch den sich die feuchten Aluminiumdosen verkaufen lassen. Der körperliche Kontakt täuscht eine vermeintliche Nähe vor, die sinnbildlich für die parasoziale Beziehung zwischen Star und Fan steht. Gegen Ende des Romans beginnt Res immer mehr zu begreifen, worin ihre Probleme begründet liegen: Alle wollen dasselbe. Wenn jedoch alle berühmt und gesehen werden möchten, dann gibt es kein Publikum mehr. Keine Zeit mehr nur noch zu konsumieren, Zeit, um selbst ein glanzvolles Produkt zu werden! Das einzige Interesse gilt dem eigenen Selbst.
Hinzu kommen neue Fragen, welche Christie, die Mutter von Frances Scott, in Res’ Delirium aufwirft: Was möchte Res wirklich von ihrer Tochter? Und warum ist Res nicht bei ihrer eigenen Familie zu Hause? Eine Frage, die weh tut, wenn man bedenkt, dass sich die meisten Fantasien unserer Protagonistin um Frances drehen, und nur vereinzelt um ihre eigene Familie. Warum wollte Res den Ruhm so sehr und, noch wichtiger, womit habe sie diesen Ruhm verdient? Christie spiegelt Res die harte Realität wider: Sie ist Zuschauerin, keine Protagonistin. Selbst in diesem Roman steht Frances Scott im Mittelpunkt. Ihr rennt Res hinterher. Sie ist alles, was Res sein wollte. Also wer war Res nun?
Letztendlich kommt sie zu dem Schluss, dass es das Selbst nicht gibt, sondern lediglich eine Interpretation des Selbst, die immerzu lügen muss, um sich zu erhalten. Es sind die Dinge, die man konsumiert, mit allen sieben Sinnen, was prägend für das eigene Selbstverständnis wird. Und so formt sich in ihren letzten Momenten auf Erden ein neuer Wunsch: Res möchte ihre eigene Hand halten, zu ihr stehen und akzeptieren, wer sie ist – und wichtiger noch, wer sie nicht ist.
Hinterfragt euch
Man muss wahrhaftig delulu sein, das heißt wahnhaft oder verklärt, um seine illusorischen Ambitionen und Träume niemals zu hinterfragen. Es sind Träume, die aus beworbenen Bildern entstehen, die vom Unterbewusstsein aufgesaugt werden und dort ein ganzes Leben lang verweilen. Sie formen eine Idee von der Person, ohne dass diese sich jemals selbst gespürt hat. »Wer könnte ich sein?« statt »Wer bin ich?«. Julia Fiese schafft mit delulu ein Werk, das seine Leserschaft zum Hinterfragen der eigenen Ziele und des eigenen Konsums anregt. Was möchte ich vor meinem geistigen Auge sehen, bevor ich gehe? Träume ich davon, mit meiner Leidenschaft berühmt zu werden, oder ist Ruhm selbst meine einzige Leidenschaft? Und ist dieses Ansehen wirklich erstrebenswert, oder ist nicht alles Gold, was glänzt?

