Der Weg ins Offene

Robert Menasses Hauptstadt und »die Gender-Frage« in Was ihr wollt. Das Deutsche Theater setzt in der neuen Spielzeit auf Themen, mit denen sich der Diskurs schon seit zwei Jahren rumschlägt. Neben Unterhaltung und Debatte auf der Bühne positioniert sich das Stadttheater auch auf der Straße.

Von Tanita Kraaz

Bilder: mit freundl. Genehmigung d. DT

Vor der Verheißung des Neuen heißt es für den Intendanten Erich Sidler Bilanz zu ziehen: Zahlen und Fakten lassen sich recht schnell abhandeln. Denn Resonanz und Fortschritt hielten Einzug im Theater. Damit meint er die offenkundige Öffnung. Während die Kunst selbstverständlich das Hauptgeschäft bliebe, müsse sie sogleich auch der Ausgangspunkt für die Öffnung sein. Die vielfachen Vernetzungen und Initiativen tragen dabei Früchte: Der Begriff des Stadttheaters werde breit interpretiert. Das sei gut so, denn es könne nie nur darum gehen, die Welt zu verändern, es sei genauso legitimes Ziel, zu unterhalten und Geschichten zu erzählen. Das umfassende Credo laute, die Kernkompetenzen auszubauen und in »neuen Gefäßen« unterzubringen, sodass das Publikum Einfluss nehmen könne und die Schwelle gesenkt werde. Im Klartext bedeutet das: Schwerpunkt Theaterpädagogik, aktive Spielclubs fördern und auch einfach »nur mal zusammen feiern«.

Teilhabe kann das Publikum auch über eine Aktion nehmen, die bereits in der vergangenen Spielzeit vom Deutschen Theater Göttingen ausging: Die Theater in Niedersachsen sehen sich aktuell durch eine Kulturpolitik des Landes bedroht, die nicht mit den bundespolitischen Versprechungen einhergeht, Kultur und besonders Theater verstärkt zu fördern. Bei einer Kundgebung und einer Social Media-Aktion konnten unter dem Motto #rettedeintheater im Oktober 2018 bereits 19.000 Unterschriften gesammelt werden. Eine weitere Petition, durch die kritisiert wird, dass die erstrittenen Gelder mit Tariferhöhungen verrechnet werden, unterzeichneten schon mehr als 5.000 Personen. Das Ziel ist damit zwar erreicht, aber auch in der kommenden Wochen können Theaterfans und andere Unterstützer*innen die Liste noch unterschreiben. Es heißt #rettedeintheaterreloaded. Offen ist das Deutsche Theater Göttingen, genauso wie viele weitere Kulturinstitutionen in der Stadt, die im KUNST e.V. versammelt sind, auch durch ihre Göttinger Erklärung der Vielen. Die Absichtserklärung, unter denen die Göttinger Aktion nur einer von vielen bundesweiten Ablegern ist, dient dazu, sich vom Rechtsruck abzugrenzen und sich zu demokratischen Werten zu bekennen: Toleranz, Vielfalt und Respekt sollen aktiv an den beteiligten Institutionen gefördert werden.

Kein Sommer in der Tiefgarage

Wer sich so öffentlich engagiert positioniert, der verkriecht sich im Sommer natürlich nicht wieder in der Tiefgarage. Die beliebten Ensuite-Produktionen zum Abschluss und zu Beginn der Spielzeiten wagen sich aus den Katakomben des Theaters heraus. Mit Lazarus, einem Musical von David Bowie, wird in fünf Wochen die aktuelle Saison auf der großen Bühne verabschiedet. Am 24. August erkundet dann Philoktet, der Held aus Heiner Müllers gleichnamiger Sophokles-Adaption, die Ufer der neuen Spielzeit auf der Insel Lemnos, auf der der Held von Odysseus ausgesetzt wird. Als Spielort für die Insel fungiert hier in Göttingen das Fridtjof-Nansen-Haus, das früher das Goethe-Institut beherbergte. Eine gute Kombination, denn: »große Villa, großer Stoff«, das harmoniere. Müllers Stück wird inszeniert von Elias Perrig.

Auch der Sommer 2020 kündigt sich schon an. Der musikalische Klassiker Cabaret ist wahrscheinlich als Film bekannter denn als Musical. Mit der Inszenierung holt sich das DT das zuletzt durch die verfilmte Krimireihe Babylon Berlin zum Hype stilisierte Berlin der 20er Jahre auf die Bühne. Der Alltag der Weimarer Republik zwischen existenzieller Sorge und rauschhaften Feiern findet sich hier in dem Paar Cliff und Sally wieder. Hass, Denunziation und Antisemitismus zwingen ihn zur Flucht, während sie sich nicht von ihren Hoffnungen auf eine Bühnenkarriere lösen will. Die Inszenierung von Selen Kara gibt es ab dem 20. Juni 2020 im DT – 1.

Bewährtes in Variation

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Info

Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Erich Sidler Intendant des Deutschen Theaters Göttingen.

30 Jahre später, genauer, »seit 1952 warten Vladimir und Estragon gemeinsam auf den mysteriösen Herrn Godot«, so heißt es lakonisch im Spielzeitheft zu Samuel Becketts modernen Klassiker Warten auf Godot. Dieser oft schon als fruchtlos verschrienen Beschäftigung werden Ensemblemitglieder unter der Regie von Erich Sidler ab dem 02. November auf der großen Bühne nachgehen. Die Inszenierung fügt sich ein in eine feine Auswahl von Bühnen-bewährten Stoffen. Auch wenn Iphigenie von Tauris »ein Monolith von Text« sei, wie Sonja Bachmann, die Leiterin des Kinder- und Jugendprogramms des Deutschen Theaters, beteuert, wird das Goethe-Stück sicher nicht allein die Abiturient*innen locken, die im kommenden Jahr zur Lektüre der Versfassung verdonnert werden. Schon ab dem 19. September wird das Publikum anhand des »Riesenkloppers«, der hier unter der Regie von Daniel Foerster gespielt wird, Fragen nach Humanität und menschlichen Bedürfnissen gegenüber dem Gesetz stellen dürfen.

Ähnlich existenziell geht es in Der Herr der Fliegen zu. Der Klassiker der Jugendliteratur handelt Fragen der Gesellschaftsbildung aus. Wie organisiert sich eine von der Zivilisation abgeschnittene Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Jungen auf einer Südseeinsel? Unter der Regie von Ruth Messing spielen Göttinger Darstellende und Studierende der Hochschule Hannover Grabenkriege, Feindschaften und Gruppenbildung nach. Wer da nicht erschöpft ist, muss ein echter Kraftprotz sein – ganz anders fühlt sich Molières eingebildeter Kranker, den es ab dem 22. Februar 2020 unter der Regie von Matthias Reichwald auf der großen Bühne zu sehen gibt. Den Klassiker der Komödienliteratur deutet das Deutsche Theater symptomatisch: Denn Hypochondrie sei der aktuelle gesellschaftliche Zustand.

Zwei weitere Klassikerstoffe schaffen es nun auch ins Stadtheater: Woyzeck und Was ihr wollt. Büchners Fragment nimmt das Deutsche Theater zum Anlass, mit »dem musikalischen Ensemble anzugeben«. Mit einem Konzept von Robert Wilson sowie Songs und Liedtexten von Tom Waits und Kathleen Brenan wird Woyzeck auch in der Inszenierung von Antje Thoms an der Boshaftigkeit der Gesellschaft zugrundegehen. Am 07. Dezember gibt es die Premiere im großen Haus. Wie es euch gefällt hingegen ist nur eins von zwei Stücken, das dem Deutschen Theater als Beitrag zur #MeToo-Debatte diene. Im Elisabethanischen Theater habe das Stück, in dem Cross Dressing eh eine große Rolle spielte, »die Gender-Frage« vorweggenommen. Unter der Regie von Moritz Beichl wird das Stück ab dem 12. Oktober gespielt.

Brisant und exklusiv

Anschluss an die #MeToo-Debatte sucht das Deutsche Theater auch mit einem Stückauftrag an die Dramatikerin Maria Milisavjevic: Geteilt soll anhand eines spezifischen Konflikts die Zwischenräume zwischen subjektiver Betrachtung und objektivierbaren Kriterien aushandeln. Der Regisseur Moritz Beichl inszeniert das Ergebnis dieser Mammutaufgabe ab dem 03. November im DT – 2. Ein weiterer Auftrag ging an den Göttinger Zahnmediziner, Blogger und Influencer Abdul Abbasi, der gemeinsam mit dem Regisseur Philipp Löhle das Stück Bombe! schrieb. Hier trifft ein syrischer Mann, der in Deutschland Asyl sucht auf eine deutsche BAMF-Mitarbeiterin. Die scheinbare Alltagssituation erfährt einen absurden Twist, als sich der Mann in sie verliebt. Die Premiere findet am 13. März 2020 statt.

Ebenso politisch und liebesmotiviert geht es mit Vögel weiter. In Wajdi Muawads Stück treffen ein deutscher, jüdischer Genetiker und eine amerikanische Historikerin, deren Familie zum Teil arabisch ist, aufeinander. Die beiden reisen gemeinsam in den Nahen Osten, wo sie Opfer eines Attentats werden. Doch erst im Krankenhaus wird der abstrakte Konflikt durch den Familienbesuch zum persönlichen. Unter der Regie von Katharina Ramser feiert das Stück am 21. September Premiere. Dea Loher skaliert die Brennpunkte in ihrem Stück Das Leben auf der Praça Roosevelt ins Kleine. Die realweltliche Konstellation eines dreieckigen Platzes in São Paulo, der von Schnellstraße und Hochhäusern begrenzt wird, war für Loher ein Jahr lang Ort der Recherche. In vielzähligen Miniaturen treffen Sekretärin, Waffenfabrikant, Dealer und Polizist aufeinander. Ab dem 01. Februar wird die große Bühne unter der Regie von Aureliusz Śmigiel zum Kulminationspunkt von Hoffnung und Enttäuschung.

Das Adaptionsroulette

Der Herr der Fliegen ist natürlich nicht der einzigen Stoff, den das Deutsche Theater aus Film und Buch übernimmt. Der Theatertrend der Adaption gehört ausgiebig kultiviert: Robert Menasse wurde erst vor zwei Jahren für seinen großen Europaroman Die Hauptstadt mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Vor Kurzem stand er noch in der Kritik, weil einige Zitate, die er im fiktionalen Rahmen realen Personen zuschrieb, frei erfunden waren. Das Deutsche Theater blickt großzügig darüber hinweg und ehrt Menasses Darstellung der Europäischen Kommission ungeachtet aller Einwände als »sehr genau recherchiert«. In eigener Fassung und unter Regie von Niklas Ritter wird die große Bühne ab dem 18. April 2020 in Brüssel verwandelt.

Zwei Filmadaptionen widmen sich kleineren Gruppenkonstellationen: Ab dem 31. Januar 2020 wird die Familie unter der Regie von Jakob Weiss Aushandlungsort von Gewalt und Leidenschaft. Der Stoff von Luchino Visconti erzählt davon, wie ein alternder Professor lethargisch in der wohligen Ruhe des Großbürgertums verwest – bis er sich zum Vermieter für einige mittellose Bohemien*nes machen lässt. In Szenen einer Ehe von Ingmar Bergmann geht es hingegen gänzlich niederschmetternd zu: Das in einer Homestory öffentlich zur Schau gestellte Eheglück von Marianne und Johann wird jäh erschüttert, als seine Affäre mit einer jungen Studentin auffliegt. Am 02. Mai 2020 bringt Antje Thoms den »unerbittlichen Kampf« auf die große Bühne.

Nach den problembeladenen Stücken über Familien gibt es zur Abwechslung ein erbauliches Stück für die Familie. In der diesjährigen Vorweihnachtszeit düst Jim Knopf wieder durch’s Lummerland. Für Jim Knopf und die wilde 13 werden Teile des Bühnenbilds aus dem vergangenen Jahr recycelt und auch das gleiche Bühnenpersonal ist wieder gefragt. Katharina Ramsals Inszenierung ist ab dem 17. November auf der großen Bühne zu sehen. Unterhaltsam versucht sich das Deutsche Theater allerdings schon davor. Ab dem 22. September bringt die Regisseurin Johanna Schwung unter dem Titel Der perfekte Moment – total verpennt Texte des deutschen Komödianten Horst Evers auf die Bühne.

Die weiteren Aussichten: Spaß und einige Schauer

<em>Quizoola! wird in der DT – X Bellevue Bar an den Unterhaltungsgrad des Evers-Formats anschließen. Für die Performance hat Tim Etchell 1.000 Fragen zusammengestellt. One on One sitzen sich zwei Spieler*innen in der Versuchsordnung »Gespräch« gegenüber, sodass jeder Abend einzigartig bleibt. Ähnlich unwiederholbar ist sicher auch die Idee der »Pfannkuchen-Bude mit Musik« aus dem Kinderbuch Die fürchterlichen Fünf von Wolf Erlbruch. Die fünf hässlichsten Tiere des Waldes, die Outlaws der Fabelwelt, schließen sich zusammen, um sich mit den schöneren Igeln und Siebenschläfern zu befreunden. Nach dem großen Fest sind Kröte, Ratte, Fledermaus, Spinne und Hyäne quasi die Popstars des Walds.

Doch die Ankündigungen sollen ja nicht vorhersehbar im beschaulichen Happy End ausfaden: Zum Abschluss wird es noch kurz gruselig. Denn die Idyllen aus Michel Marc Bouchards Tom auf dem Lande und Susan Hills Die Frau in Schwarz werden in alter Horrorfilmmanier erst dazu genutzt, um auf den Schauer vorzubereiten. Toms Lebensgefährte Guillaume wird in der Provinz beerdigt, aus der er kommt. Die dort vorherrschende, nur schwerlich versteckte Homophobie ist nur ein Beispiel für die hinterwäldlerischen Ansichten der Familie. Doch Tom wird viel zu schnell in die Strukturen verstrickt, als er sich aus ihnen lösen kann: Es entspinnt sich ein Psychothriller, den es am 12. Juni 2020 im DT – 2 zu sehen gibt. Die Frau in Schwarz ist ein Gespenst, auf das der Anwalt Arthur Kipps trifft, als er auf einer gottverlassenen Insel einen Besitzstand auflösen soll. Die Aufarbeitung der Tragödie, die mit dem Ereignis verknüpft ist, wird zunehmend gefährlich.

Das alles gibt es nachzulesen im neuen Spielzeitheft, dessen Farben provokativ gewählt sind. Irgendwo zwischen Trademark-Infringement und Schleichwerbung entschädigt der vielversprechende Inhalt jedoch vor der Enttäuschung, fälschlicherweise nicht nach der Neapolitaner-Waffel gegriffen zu haben.

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