Machtmissbrauch und Sexskandal oder die deutsche Antwort auf die #MeToo-Bewegung

Benjamin von Stuckrad-Barres neuester Roman ist einem untypischen, aber aktuellen und schmerzhaften Thema gewidmet. Der Autor versucht, eine ernsthafte Recherche mit einem schöngeistigen Narrativ zu verweben.

Von Atanas Dobrev

Bild: Atanas Dobrev, »Blauglaspantofeln aus Smålandsglas« – Smålandsmuseum, Växjö, Schweden

In akademischen und literarischen Kreisen erinnert man sich vermutlich daran, wie die Schwedische Akademie 2018 bekannt gab, dass der Nobelpreis für Literatur zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg nicht verliehen werde. Natürlich war die Kulturwelt schockiert. Einige Kommentator:innen gingen davon aus, dass es sich um Erpressungsversuche und sexuelle Belästigung handele. Und sie hatten Recht, Schweden wurde von etwas erschüttert, das in den USA etwas früher auftauchte und weltweit eine breite gesellschaftliche Debatte anstieß: der #MeToo-Bewegung, verbunden mit dem Namen des US-amerikanischen Filmregisseurs Harvey Weinstein.

Deutschland reagiert darauf

Jahre später, genau gesagt am 19. April 2023, erschien auch die deutsche Antwort auf die #MeToo-Bewegung (mit großer Ungeduld und Furore seitens des Lesepublikums erwartet) in Gestalt des Romans Noch wach? von Benjamin von Stuckrad-Barre. In seinem neuen Buch beschäftigt sich der populäre Schriftsteller mit Themen wie Machtmissbrauch und Gewalt verschiedener Art in der deutschen Medienbranche. Im Vordergrund des Romans stehen zwei Protagonisten:innen – der namenlose Ich-Erzähler, der über sein Leben in Los Angeles und Berlin berichtet und dies mit der #MeToo-Debatte verwebt, und Sophia, eine junge Frau in Berlin, die von ihrer Arbeit bei einem großen Fernsehsender erzählt. In diesem »schönen, neuen Leben« aber ist sie sexueller Gewalt, Drohungen und Korruption ausgesetzt. Das Problem liegt darin, dass Sophia zu spät die Bühne im Buch betritt und ihre Stimme zu leise bleibt. Man hört ihren Hilfeschrei einfach nicht.

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Benjamin
von Stuckrad-Barre
Noch wach?

Kiepenheuer & Witsch: Köln 2023
384 Seiten, 25,00 €

Beim Lesen des Romans kommen unweigerlich Assoziationen zum Skandal um den Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt aus dem Jahre 2021 auf: eine lange Liste Machtmissbrauchsvorwürfe, interne Ermittlungen und eine ganze Reihe unliebsamer Medienschlagzeilen. Darüber hinaus lassen sich viele Ähnlichkeiten zwischen dem namenlosen Ich-Erzähler und Benjamin von Stuckrad-Barre selbst feststellen. Der Freund des Ich-Erzählers im Buch ähnelt stark Matthias Döpfner (Vorstandsvorsitzender des Springer-Konzerns) – ein Freund von Stuckrad-Barre auch im echten Leben. Natürlich sind diese Namen nirgendwo im Buch zu finden, aber die Leser:innen, die den Hintergrund kennen, können selbst zu dieser Schlussfolgerung kommen.

Pompös schreiben ist manchmal keine gute Idee

Von Stuckrad-Barres Werk ist kein Roman im wahren Sinne des Wortes: Es ähnelt eher einer längeren Feuilleton-Abhandlung mit einem großen Haufen Pikanterien. Die Geschichte sieht aus wie Frau Holles Steppdecke – mit vielen bunten Stückchen angefertigt, oft aber schlecht genäht. Am Anfang könnten die Leser:innen sich sehr leicht verwirren und auch nicht verstehen, wer gerade erzählt und worum es geht:

Wir ahnten vielleicht was, aber das lässt sich im Nachhinein immer sagen, einfach damit man dann nicht so dumm dasteht. Allerdings standen und liefen, lagen und laberten wir hier sehr gern offensiv dumm herum, solang man uns ließ, irgendwann würde das eh enden, bei mir zum Beispiel durch die unangenehme Realitätswindböe »Geld weg« – bald würde es so weit sein; bei anderen hier würde es bis zu dieser Klippe noch länger dauern, aber die lästige Gegenwart, sie würde sich schon auf die eine oder andere Art melden: ARBEIT!, VISUM!, LEBEN!, FAMILIE! Also im Grunde genommen: Mama kommt rein und macht das Licht an. Na ja.

Zudem ist der Schreibstil des Autors manchmal viel zu flapsig – eine unangemessene Verwendung von Wörtern, die nur in Großbuchstaben geschrieben sind, die aber auf fast jeder Seite auftauchen; eine riesige Zahl von Neologismen, die vom Autor selbst erfunden wurden, die aber fast eine Zeile lang sind und beim Lesen verwirren (»POSTRATIONALISIERENDEN Extremblödsinn«, »Krawallkrawattenteufelgipfeltreffen« u.a.). Insgesamt gibt es so viele Anglizismen, dass man sich am Ende fragen könnte, ob das Buch auf Deutsch oder auf Englisch geschrieben ist (»HOP-ON/HOP-OFF-Stadtrundfahrtskapitänen«, »Livingthedream-metime-powerfulfriend-amazing-connection-lowcarb-selfcare-gorgeous-nicetomeetyou-Soufflé« u.a.).

Benjamin von Stuckrad-Barres Werk ist Meilen von den Vorbildern dieses Genres entfernt. Als Beispiel par excellence könnte der Sachroman Klubben (dt. Der Club) von der schwedischen Journalistin Matilda Voss Gustavsson dienen, der im Jahre 2019 in Schweden veröffentlicht wurde und sich mit dem Literaturnobelpreis-Skandal 2018 beschäftigt. Auf den Seiten von Klubben findet man eine ernsthafte Recherche und das Streben nach objektiver Wahrheit, so schmerzhaft sie auch sein mag, begleitet von Feingefühl und Einfühlungsvermögen für die Geschichten der achtzehn vergewaltigten Frauen.

In Noch wach? fehlt am Ende dieses Gerechtigkeitsgefühl – von Stuckrad-Barre schreibt über Machtmissbrauch von Männern gegenüber Frauen, erzählt wird aber aus einer männlichen Perspektive. Die männlichen Figuren im Roman machen sich die Träume, Ambitionen und Erwartungen von Frauen, in die Medienbranche einzutreten, zunutze. Diese betroffenen Frauen sind in der Erzählung leider eher als Statistinnen dargestellt – ein schöner, aber verstummter Hintergrund. Letztlich sagt der Autor auf 373 Seiten nichts Neues, diese Geschichte ist den Leser:innen bereits vollkommen bekannt.

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