Muttermord, Kindermord, Kerkerhaft ‒ zum sechzigjährigen Jubiläum lässt das JT Göttingen in der Inszenierung des Urfaust ein sprachgewaltiges Gretchen auftreten, das mit Inbrunst unter der Hauptlast einer zweifelhaften Schuld leidet.
Von Stefan Walfort
Bilder: ©Dorothea Heise
Auf dem Titelbild: Peter Christoph Grünberg
Gretchens Zuhause ist eine Müllhalde. Mit braunen Schlieren verdreckte Kanister gammeln vor sich hin. Daneben trotzen prall gefüllte, blaue Säcke jedweder Witterung. Auf einer notdürftig zusammengezimmerten Pritsche verbringt sie ihre Nächte. Vor Regen schützt sie ein Sonnenschirm, den sie mit einer Plastikplane ummantelt hat. »Nicht jedes Mädchen hält so rein« ‒ so bemerkt Mephistopheles, als er mit Faust, ihrem Geliebten in spe, den Schmuck, mit dem sie bezirzt werden soll, bei ihr versteckt. So frei von Ironie wirkt das überaus ulkig. Für ein bisschen heimische Atmosphäre sorgen Topfpflanzen und Efeu. Mittendrin reckt sich ein weißes Kreuz zum Himmel empor. Stets verneigt sich das junge Mädchen davor und bekreuzt sich und macht deutlich, dass es für sie im Leben vor allem auf die Reinheit des Herzens ankommt. Über dem Balken des Kreuzes lässt ein brauner Müllsack in Übergröße den Kopf hängen. Wie sich erst später aufklären wird – dann, wenn auch von der Reinheit in Gretchens Herzen nicht mehr viel übrig ist ‒, dient er dazu, die Leiche von Gretchens Bruder Valentin zu entsorgen.
Bekanntlich nimmt die Hauptfigur (Karsten Zinser) der »Gelehrtentragödie« ein Unheil nach dem anderen in Kauf, um ihre »Sehnsucht nach Entgrenzung, erst im Erkennen, dann im Lieben«

Immer wenn Mephisto sich blicken lässt, sind Gewittergrollen und dunkle Bassgitarrenklänge zu hören. Wenn er nicht gerade seine Nase in Gretchens Unterwäsche gräbt, Leipziger Burschenschaftern Fusel einflößt oder Gretchens Nachbarin Marthe (Franziska Lather) Lügengeschichten über den angeblichen Tod ihres Mannes auftischt, würgt er und röchelt aus Ekel vor Symbolen der Kirche und vor religiösem Geschwätz oder spuckt Qualm wie ein Märchendrache. Brehl hingegen glänzt vor allem durch Sprachgewalt. Schnippisch lässt sie den Verehrer zunächst abblitzen, als sie sich erstmalig begegnen. »Bin weder Fräulein weder schön / Kann ohn Geleit nach Hause gehen« ‒ so verbittet sie sich sämtliche seiner Offerten. Doch das daheim entdeckte Geschmeide verfehlt die gewünschte Wirkung nicht, vor allem, weil Marthe als Kupplerin nach Kräften mithilft, Gretchens zunächst zurückhaltende Neugier auf den doch »recht wacker« wirkenden Herrn anzuheizen.
Und so steuert die Handlung unweigerlich auf die Katastrophe zu. War Gretchen eben noch mit aufrechtem Blick in einem an Krankenhauspersonal erinnernden, weißen Dress mit Baumwollsocken und Stiefeln über die Bühne stolziert, so windet sie sich nun vom Wahn gezeichnet auf dem Boden. Eine Eisenkette zerrt an einem ihrer nackten Füße. Der nur noch in ein ärmelloses, labberiges Oberteil gekleidete Leib ist schutzlos der Kälte ausgeliefert, ihr zuvor noch langes, zu einem Dutt gebundenes Haar zu einer wüsten Kurzhaarfrisur entstellt. Als Faust sich trotz allem weiter mit Mephistopheles verbrüdert, packt sie schieres Entsetzen: »Der! Der! Laß ihn! Schick ihn fort! Der will mich!« Vor allem hier beeindruckt, mit welcher Inbrunst sich Brehl in ihre Rolle hineinsteigert. Die Entscheidung, sie ans JT zu holen, wird so bald sicher niemand bereuen.
Fast sechzig Jahre beanspruchte die immense Arbeit Goethes am frühneuzeitlichen Faust-Stoff.