Sprachlosigkeit in Sprache fassen

Triggerwarnung: Vergewaltigung, physische und psychische Übergriffe

Regina Dürig hat eine feinfühlige Novelle mit dem Titel Federn lassen geschrieben. Es geht um physische und psychische Übergriffe. Die Novelle nähert sich den sprachlosen Momenten in poetischen, behutsamen Worten und zeigt die Unfassbarkeit damit umso dringlicher auf.

Von Sofie Aeschlimann

Bild: Via Flickr, CC BY 2.0

Die französische Sängerin Zaz singt von einer Feder, die aus einer Bettdecke entwischt und wegfliegt:

Il paraît que je suis trop fragile. Mais comme les critiques glissent sur le plumage, être une plume rend les choses plus faciles.

Bei Zaz ist es ein Vorteil, eine Feder zu sein. Die Feder scheint zwar verletzlich, aber Kritik kann an ihr nicht haften, sie rutscht am Gefieder ab. So kann die Feder sich von der dunklen Bettdecke befreien und frei umherfliegen.

Aber was, wenn wir nicht die leichte, fliegende Feder sind, sondern der Vogel, der Federn lassen muss? Vögel verlieren Federn, wenn sie sich mausern, also das Federkleid erneuern. Das ist ein natürlicher Vorgang. Metaphorisch kann man die Mauser als Entwicklungsschritt sehen, wie vom Jungtier zum adulten Vogel. Es gibt aber auch zwei Fälle, in denen Vögel unfreiwillig Federn lassen. Einerseits natürlich, wenn sie gerupft werden von Fressfeinden oder von Menschen. Andererseits gibt es, vor allem bei Ziervögeln, eine selbstzerstörerische Angewohnheit, bei der die Tiere sich die eigenen Federn ausrupfen. Wenn die Federn also nicht freiwillig gelassen werden wie bei der Mauser, ist das Federnlassen eine gesundheitliche Gefahr. Ohne Federn ist ein Vogel nackt und ungeschützt.

›Federn lassen‹ bedeutet deshalb als Redensart, dass jemand geschädigt wird. Genau darum, um Beschädigung, geht es in Regina Dürigs Novelle mit dem Titel Federn lassen. Sie wurde 2021 beim österreichischen Verlag Droschl publiziert. Eine deutsche Autorin, die in der Schweiz lebt, und bei einem österreichischen Verlag publiziert. Was ist das für ein Text?

»Schweigen, Stille, Starre, Scham«

Es ist schwierig, einen so bedachten Text zu beschreiben. Keine Charakterisierung in zwei, drei Sätzen wird ihm gerecht. Vielleicht kann man mit der Form beginnen: Das Buch heißt zwar explizit Novelle, aber die Zeilenumbrüche sind bewusst gesetzt wie bei einem Gedicht. Zu den kurzen Zeilen passt das ungewohnt hohe und schmale Buchformat. Es gibt keine Interpunktion, dadurch wirken die Sätze atemlos, unmittelbar. Und es entstehen Ambivalenzen: Welches Wort gehört zu welchem Satz? Manchmal wechseln die Sätze ihre Bedeutung ins Gegenteil, je nachdem, welche Zeilen dazugezählt werden. Ebenso verhält es sich mit den geschilderten Situationen, sie changieren oder kippen sogar. Der Text macht immer wieder deutlich, wie eine Grenze überschritten wird.

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Regina Dürig
Federn lassen

Droschl: Graz 2021
104 Seiten, 19,00€

Grenzüberschreitung und Beschädigung sind das Thema der Novelle. Dürig beschäftigt sich mit der Frage, die auf der Rückseite des Buchs steht: »Wie tief können die Spuren sein, die eine Bemerkung, eine Bedrängung, eine Beschneidung der Handlungsfähigkeit hinterlassen?« Der konzis formulierte Klappentext beschreibt weiter: »Schweigen, Stille, Starre, Scham herrschen in den kurzen Episoden, in denen sich die Erzählerin rückblickend als ein namenloses Du beobachtet. Wir begleiten jenes Du von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter und werden Zeuge von Grenzüberschreitungen und Übergriffen – physisch wie psychisch.«

In den meisten Situationen, in denen ein Übergriff stattfindet, schweigen wir. Wir sind erstarrt, aus Scham, vielleicht auch aus Überraschung oder aus Wut. Die Erzählerin steht in der vollen U-Bahn und jemand fasst ihr im Gedränge in die Hose. Sie ist perplex und deshalb stumm, sie hält still und steigt dann möglichst schnell aus. Als Leser:in möchte man schreien, damit die Erzählerin selbst endlich schreit.

Eine lyrische Novelle

Dürig beschäftigt sich immer wieder mit der Sprachlosigkeit und dem Zusammenleben der Menschen. Die Autorin wurde 1982 in Mannheim geboren und lebt in Biel, wo sie von 2006 bis 2009 am Schweizerischen Literaturinstitut studierte und heute doziert. Sie hat bereits Miniaturen, Kinder- und Jugendbücher verfasst, Gedichte übersetzt, eine Dissertation zum schreibenden Forschen abgeschlossen; sie macht Hörspiele, Performances und arbeitet oft mit anderen Künstler:innen zusammen.

In der Novelle zeigt Dürig, wie Menschen durch die Rücksichtslosigkeit anderer Menschen verletzt werden, eben Federn lassen müssen.

der Preis des Abends
ist die äußere
Hülle deiner Haut die
auf dem Nachhauseweg
im weichen Küstenwind
Daune für Daune
verfliegt

Es ist die bekannte Gegenüberstellung von zartem Menschen und böser Welt, aber in Dürigs Novelle ist sie unverbraucht. Das liegt an der einfachen und gerade deshalb eindringlichen Sprache. Die Novelle ist sprachlich das Gegenteil einer lauten, ruppigen Welt, sie ist ein Vorbild für Rücksicht und Empathie. Sie zeigt, schildert in behutsam abgewogenen Worten. Auch mit dem Gewicht, das auf den einzelnen Wörtern liegt, rückt die Novelle in die Nähe eines Gedichts.

Eine Novelle ist sie trotzdem. Die Definition ist zwar strittig, aber wenn man sich die Merkmale anschaut, die eine Novelle haben kann oder soll, weist Federn lassen fast alle auf: Der Text beginnt mit einer Rahmenhandlung, erzählt etwas Unerhörtes und Wahres, er ist eine Erzählung mittlerer Länge, bei der die Ereignisse im Fokus stehen. In der Rahmenhandlung sind die Rollen für einmal umgekehrt. Die Erzählerin geht nachts durch den Wald und glaubt, auf dem Boden einen Mann liegen zu sehen. Sie geht weiter, sie hat Angst, sie ist sich nicht sicher. Aber im Nachhinein fragt sie sich, ob sie nicht hätte helfen müssen. »wieso / war da nur Weglaufen in dir / in deine eigene Sicherheit / ein Schwachsein statt Menschsein«

Durch das ganze Leben

Aufgebaut ist die Novelle aus kurzen Episoden, die eine Frau begleiten. In der ersten Episode ist sie vier Jahre alt, in der letzten 38. Sie ist ein introvertiertes Kind und spielt am liebsten allein. Das Umfeld hat aber andere Vorstellungen, die dem Mädchen aufgedrückt werden. Sie soll essen, was auf dem Tisch steht, auch wenn sie sich erbrechen muss, sie soll aus sich herauskommen und wird in die Pantomimegruppe geschickt. Dort mag sie sich nicht um die Löwenmaske streiten, übrig bleibt die Verkleidung als Kamel. Das Kamel taucht später in der Novelle wieder auf, »du Kamel«, heißt es, und es ist nicht klar, ob die Erzählerin damit ihr Gegenüber meint oder sich selbst und sich im Nachhinein schilt für ihre Naivität. Tiere kommen in der Novelle immer wieder vor – »das Wirbeltier in dir«, »dein Reptiliengehirn«, ein Krokodil – aber es sind nie Tiere mit Federn. Im Gegenteil, es sind zähe Tiere, die viel aushalten.

Die Frau wird von Episode zu Episode älter. Grenzüberschreitende Sexualität wird relevant. Immer wieder gibt es übergriffige Männer, gleich alt wie sie oder älter, fremde oder befreundete, die kein »Nein« respektieren. Diese Episoden sind als Triggerwarnung mit einem Stern gekennzeichnet. Eigentlich ist die Situation immer wieder dieselbe: Das Du ist mutig, mit offenen Augen – und wird enttäuscht, zurückgewiesen, überfallen oder vergewaltigt. Sie geht in einem weißen Kleid die Straße entlang und fühlt sich schön, bis jemand eine Bemerkung zur Snoopy-Unterhose macht, die unter dem Kleid durchscheint. Vier Jungs versprechen, sie im Auto nach Hause zu fahren, lenken aber zu einer abgelegenen Stelle am Waldrand und wollen sie vergewaltigen. Jede erzählte Episode bringt eine Verletzung, kleiner oder größer, physisch oder psychisch. Aber jede Verletzung bleibt in Erinnerung.

Wie stark sich solche Erlebnisse einprägen, beweist die Novelle selbst. Die Erzählerin weiß die Ereignisse noch, auch wenn sie zwanzig oder dreißig Jahre her sind. Und falls die Novelle autofiktional ist – Autorin und Erzählerin haben ein ähnliches Alter, die Erzählerin arbeitet an einem Manuskript zum Thema Übergriffe –, weiß es auch die Autorin noch.

Das Schweigen überwinden

Dürig versammelt unterschiedliche Episoden aus dem Leben der Erzählerin. Ihnen allen ist die Sprachlosigkeit gemeinsam. Die Erzählerin traut sich im Moment nicht zu widersprechen, zu schreien. Sie steht nicht einmal einer anderen Frau bei, die aufsteht und widerspricht. Auf ihre Frage, ob sie vergewaltigt wurde, sagt die Erzählerin verlegen nein. Indem Dürig über die Sprachlosigkeit schreibt, löst sie sie gleichzeitig auf – aber nur nachträglich. Sie holt nach, was im Moment hätte passieren sollen, gibt der Sprachlosigkeit einen Raum, damit sie zu Sprache werden kann. Dadurch macht die Novelle Mut, nicht mehr sprachlos zu sein in Situationen, in denen man schreien sollte. Sie geht nicht mit gutem Beispiel voran, aber sie zeigt auf die Probleme und regt zum Nachdenken an.

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