Von Mobbing und Freundschaft

Triggerwarnung: Mobbing, Gewalt, Suizid

Der Roman Heaven von Mieko Kawakami erzählt von einem 14-jährigen namenlosen Ich-Erzähler, der von seinen Mitschülern brutal gemobbt wird. Neben Suizidgedanken, Hoffnungslosigkeit und tiefster Verzweiflung handelt der Roman indes auch von Freundschaft, Verständnis und Zuneigung.

Von Alexander Kempf

Bild: Via Pixabay, CC0

Wird jemand über einen längeren Zeitraum gezielt und systematisch beschimpft, ausgegrenzt und schikaniert, spricht man von Mobbing. Aus der Angst heraus, nicht mehr zur Gruppe zu gehören oder selbst Opfer von Mobbing zu werden, machen andere Schüler:innen mit. Im Rahmen einer PISA-Studie der OECD 2018 berichteten mehr als 20 Prozent aller deutschen Schüler:innen im Alter von 15 Jahren, mehrmals im Monat gemobbt zu werden.

Der Roman Heaven von Mieko Kawakami spielt im Jahr 1991 und erzählt die Geschichte des 14-jährigen namenlosen Ich-Erzählers, der von seinen Mitschülern gemobbt wird. Eines Tages Ende April findet er einen Zettel mit der Aufschrift »Wir gehören zur selben Sorte« in seinem Federmäppchen, den seine Klassenkameradin Kojima geschrieben hat. Auch Kojima wird ausgegrenzt. In den kommenden Monaten schreiben sich die beiden Jugendlichen regelmäßig und führen nachdenkliche Gespräche. Mit zunehmender Brutalität des Mobbings distanziert sich der namenlose Ich-Erzähler allerdings von Kojima. Die Erzählung erfährt ihre Klimax schließlich in einem zynischen Verrat und einer öffentlichen Demütigung.

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Mieko Kawakami
Heaven

DuMont: Köln 2021
192 Seiten, 22,00€

Grausamkeit

»Also gut, wenn du brav deine Kreide aufisst, lassen wir dich gehen«, sagte Ninomiya, »wir haben schließlich nicht ewig Zeit.«

Kawakami schildert die mit dem Mobbing einhergehende Hilf- und Hoffnungslosigkeit durch die Augen des Protagonisten mit unverblümter Grausamkeit. Quälerei folgt auf Schikane. Auf einen Tag der Ausgrenzung folgt die nächste schlaflose Nacht. Mit jeder Bosheit, die der namenlose Ich-Erzähler erfährt, wächst die Verzweiflung. Leser:innen kommen nicht umhin, das Gefühl der Beklemmung selbst zu erfahren, weil schon das Umblättern und Weiterlesen Unbehagen bereitet. Die Ich-Perspektive als stilistisches Mittel fügt sich mühelos in die Thematik der Verlassenheit ein. Nur diese Perspektive ermöglicht es, die mangelnde Kommunikation über das Mobbing gegenüber Eltern und Lehrkräften nachzuvollziehen. Statt die Geschichte lediglich von außen zu beobachten, fallen die Leser:innen mit jeder Seite tiefer in die Verzweiflung des Protagonisten.

Freundschaft

»Ich hätte mich stundenlang so mit ihr unterhalten können. Kojima schien es genauso zu gehen.«

Die Freundschaft, die sich zwischen dem namenlosen Ich-Erzähler und Kojima entwickelt, ist gezeichnet von Anteilnahme, Geborgenheit und Zuneigung. Kawakami gelingt es, die Beziehung der beiden Jugendlichen in Hinblick auf Scham, Verlustängste und vermeintliche Sexualität sehr realistisch und nachvollziehbar zu beschreiben. Mit Kojima wird eine durchaus eloquente und aufgeweckte Jugendliche geschaffen, die mit ihren Eigenarten und persönlichen Geschichten überrascht.

Verzweiflung

»Wie ich schon sagte…« Er sah mich an und gluckste. »Es hätte genauso gut jemand anders sein können. Es spielt keine Rolle, wer es ist. Dass es dich getroffen hat, hat sich so ergeben. Wir waren zufällig in der Stimmung, und du warst zufällig da.«

Insbesondere durch ein langes Gespräch mit Momose, einem der Peiniger, wird die Willkürlichkeit und Sinnlosigkeit des Mobbings deutlich. Der namenlose Ich-Erzähler verzweifelt daran, keine Begründung dafür zu erhalten, dass er gemobbt wird.

Ein Treffen mit Kojima und existenzielles Unverständnis über das Mobbing selbst führen dazu, dass die Freundschaft ein vermeintliches Ende findet. Die darauffolgende einsame Verzweiflung des Protagonisten, die sich nicht zuletzt in Schlaflosigkeit und Suizidgedanken äußert, lässt sich im Vergleich zum physischen Mobbing zwar ohne Unbehagen, jedoch mit tiefem Mitgefühl und Trauer lesen. Kawakami schafft es erstklassig, die Leser:innenschaft in die verzweifelte Lage des namenlosen Ich-Erzählers zu versetzen. Der Roman bildet eine rhetorische Blase, aus der weder der Ich-Erzähler selbst noch die Leser:innen entfliehen können, sodass letztlich alle dem brutalen Mobbing und den damit einhergehenden physischen und psychischen Konsequenzen ausgesetzt sind.

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