Warten auf das Nordlicht

Jeden Tag kreuzen sich die Wege unzähliger fremder Menschen. Im Bus, in der Kassenschlange, auf der Straße, im Wartezimmer beim Arzt. Doch kaum einer macht sich Gedanken darüber, wer diese Menschen sind oder was sie genau hierher an diesen Punkt führt, an dem sie sich gerade treffen. Katharina Hagena erzählt in ihrem dritten Roman Das Geräusch des Lichts von solchen zufälligen Begegnungen und den Gedanken, die daraus erwachsen können.

Von Madlen Engelke

Bild: manolofranco via pixabay / CCO

Eine Frau sitzt im Wartezimmer eines Neurologen und wartet auf ihren Termin. Aus Angst vor dem Befund darüber, ob sie von einer genetischen Veranlagung für Demenz betroffen ist, beginnt sie zur Ablenkung Geschichten zu erfinden. Aus kleinen Details, die ihr im Wartezimmer auffallen, entwirft sie mögliche Wahrheiten über die PatientInnen, die mit ihr auf ihre Termine warten: die junge Frau, der Mann mit den zwei Eheringen, der ernste Junge und die ältere Dame mit dem nervösen Blick. Die letzte Geschichte erfindet sie für sich selbst. »Wer aufhört zu erzählen, ist tot.« Das Erzählen wird für sie zu einer Überlebensstrategie, die sie vor dem möglichen Vergessen bewahren soll. Auf diese Art erfährt man vieles über die Erzählerin, die während der ersten zwei Drittel des Romans nur am Rande, in den kurzen Abschnitten zwischen den Geschichten über die anderen PatientInnen, auftaucht. Sie ist trotzdem in allen Geschichten anwesend, indem sie ihr eigenes Schicksal mit ihrer Fantasie vermischt. So berichtet sie beispielsweise über eine alte Dame mit Demenz und überlegt insofern, wie das Leben für sie selbst einmal aussehen könnte.

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Katharina Hagena
Das Geräusch des Lichts

Kiepenheuer&Witsch, Köln 2016
272 Seiten, 20,00€

»Das ist noch nicht die wahre Geschichte. Es ist erst die äußerste Schicht.« Schicht für Schicht erstellt Katharina Hagena fünf kurze eigenständige Biographien. Sie erzählen, quasi im Konjunktiv, von den eventuellen Leben dieser Menschen im Wartezimmer, davon, was sie gerade hierher zu einem Neurologen geführt haben könnte. In diesen fünf einzigartigen Vermutungen kreuzen sich die Wege der ProtagonistInnen wie zufällig immer wieder. Jede/n von ihnen verschlägt es in der eigenen fremd-konstruierten Geschichte nach Kanada. Da ist Daphne Holt, eine Botanikerin, die dem Moos, das sie erforscht, in ihrer Widerstandsfähigkeit so sehr ähnelt. Die unvorbereitete Suche nach ihrer verschwundenen Kollegin Thekla Kern, die ein Forschungsjahr in Kanada absolviert, führt sie nach Yellowknife. Hier findet sie Hinweise auf Thekla, die ihr von einer alten Dame übermittelt werden. Hier findet sie auch Mark, der mit seinem Sohn in Yellowknife lebt und dort als Koch arbeitet. Doch ihre Suche nach Thekla endet nicht erfolgreich und nachdem ihr Zimmer verwüstet wird, reist sie fluchtartig ab. Ihre Kollegin findet sie durch Zufall einige Wochen später – auf einem Moosblatt unter ihrem Mikroskop. Eine andere Geschichte handelt von dem zwölfjährigen Richard. Er ist überzeugt davon, dass seine Mutter und seine Schwester nach ihrem Tod auf dem Weg zum Planeten Tschu sind. Auf der Suche nach einem Geheimgang dorthin untersucht er alle Gullideckel und Lüftungsschächte, an denen er vorbeikommt. Sein Vater, der nach seinem Burnout im Keller Eis herstellt, das er dann im Eiswagen verkauft, ist ihm dabei keine große Hilfe. Durch eine Reihe von Hinweisen, die Richard auffallen, finden er und sein Vater ebenfalls ihren Weg nach Kanada. Hier, in Yellowknife unter dem Nordlicht, schafft es Richard, Abschied von Mutter und Schwester zu nehmen und beide nach Tschu ziehen zu lassen.

Motive wie das Nordlicht, Kaugummi oder das immer wiederkehrende Moos verbinden die Geschichten miteinander, genauso wie verschiedene Figuren, die in leicht abgewandelter Form immer wieder zu finden sind. Auch die einzelnen PatientInnen tauchen nicht nur in ihren eigenen Geschichten auf, sondern auch als Nebenfiguren in den Geschichten ihrer MitpatientInnen. Jedes Mal gibt es Gemeinsamkeiten zu ihren eigenen Geschichten, jedes Mal gibt es auch Unterschiede. Die Gedanken der Erzählerin sind immer präsent und offenbaren mit jeder Geschichte mehr über sie selbst, indem sie Elemente ihres eigenen Lebens mit einbaut. So kommt beispielsweise der Tod einer Mutter und ihrer Tochter in jeder Geschichte vor, was auf ein Ereignis im Leben der Erzählerin zurückzuführen ist und das sie in ihren Geschichten zu verarbeiten versucht. Wer genauer hinsieht, entdeckt noch mehr Gemeinsamkeiten. Die Figuren sind auf der Suche, jeder nach etwas anderem: Daphne Holt sucht nach ihrer Kollegin, Richard sucht nach einem Weg zum Planeten Tschu, die Erzählerin sucht nach Informationen. Jede/r läuft der eigenen Frage hinterher und das Ende bleibt nicht selten ungewiss. Doch trotz aller Gemeinsamkeiten sind die Geschichten verschieden und auf ihre eigene Art besonders.

Katharina Hagena thematisiert in ihrem dritten Roman neben der Suche vor allem das Warten. Der Roman beginnt in einem Wartezimmer, die Geschichten entstehen durch die Wartezeit, die PatientInnen warten auf ihre Termine und die Figuren in den Erzählungen warten auf das Nordlicht. »Warten heißt eigentlich bewachen. Der Wart, die Warte, das Warten. Sind wir nun die Wärter der Zeit oder ihre Totschläger?« In einem der kurzen Abschnitte zwischen den Geschichten entwirft die Erzählerin eine skurrile, aber dennoch anschauliche Grammatik des Wartens. Neben Fällen wie dem »Desperativ« und dem »Fatalitiv« lautet der fünfte Fall hier »Abgrundtiv« und drückt die tiefe Sorge der Erzählerin aus, die den Befund nicht beeinflussen kann und der nur das Warten bleibt. Obwohl sie in den Geschichten mehr die Rolle einer Zuschauerin einnimmt, erfahren die Lesenden doch viel über ihr Leben, ihre Situation und ihren Charakter. Die Schilderungen entwerfen das Bild einer fantasievollen und introvertierten Beobachterin, die ihre Angst durch ihren Einfallsreichtum besiegt. »Eigentlich ist alles am Ende. Und passiv.« Trotzdem ist das, was sie erzählt, keineswegs hoffnungslos, sondern unterhaltsam, humorvoll, einfühlsam und manchmal auch ironisch. Und auch für ihre eigene Situation findet die Erzählerin schließlich noch ironische Worte: »Kommt ein Irrer zum Arzt und denkt sich beim Warten Geschichten aus, um die eine Geschichte nicht erzählen zu müssen, die er für unsäglich hält, wobei er sie natürlich trotzdem erzählt, nur eben auf alle anderen Geschichten aufgeteilt.«

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