Was Armut bedeutet

In Armut beschreibt Daniela Brodesser ihre eigenen Erfahrungen als Armutsbetroffene und analysiert die Gründe und Folgen von Armut in Österreich und Deutschland. Dabei kritisiert sie den Sozialstaat und macht Lösungsvorschläge für politische Akteur:innen und Armutsbetroffene.

Von Magdalena Gerste

Bild: Via Pixabay, CC0, Bearbeitung: Lisa E. Binder und Hanna Sellheim

In Armut berichtet Daniela Brodesser von ihren Erfahrungen als Armutsbetroffene und erklärt, was sich ändern muss, damit der Sozialstaat seiner Bezeichnung gerecht wird. Eine eindrucksvolle, aber auch belastende Lektüre, die mit Vorurteilen über Armut aufräumt und die unterschiedlichen Lebensrealitäten Armutsbetroffener differenziert aufzeigt.

Plötzlich arm

Nach der Geburt des vierten Kindes häufen sich die Probleme der Familie Brodesser: Aufgrund der Erkrankung ihrer jüngsten Tochter kann Daniela Brodesser keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen. Ihr Mann bricht unter dem Druck, den Lohnausfall seiner Frau zu kompensieren, zusammen, bekommt einen Burnout und wird gekündigt. Und so schlittert die Familie in die Armut und ist auf einmal mit Herausforderungen konfrontiert, die wohlhabende Menschen nicht kennen. Womit sollen die zehn Euro für den Schulausflug bezahlt werden? Wie reagiert man auf verständnislose Vorwürfe wie »Die paar Euro kannst du doch irgendwo einsparen, wer das nicht kann, sollte keine Kinder haben!«? Und was, wenn selbst die zuständigen Behörden nicht wissen, auf welche finanziellen Hilfen ein Anspruch besteht? Diese Erfahrungen beschreibt Brodesser in ihrem Buch und gibt den Leser:innen eine schonungslose Einsicht in den Alltag vieler Armutsbetroffener.

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Daniela Brodesser
Armut

Kremayr & Scheriau: Wien 2023
104 Seiten, 20,00€

Was Armut bedeutet

Allerdings erzählt sie auf gerade einmal 94 Seiten nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern thematisiert auch aktuelle Zahlen und Fakten zum Thema Armut. Zum Beispiel geht Brodesser darauf ein, was Armut eigentlich ist. Dabei orientiert sie sich an der offiziellen Definition der Armutsgefährdungsquote: Armutsgefährdet sind Personen, die nur 60 Prozent des Medianeinkommens verdienen. In Deutschland betraf das 2021 knapp 17 Prozent der Bevölkerung. Viel eindrucksvoller als diese abstrakten Zahlen ist jedoch, wie Brodesser die täglichen Sorgen Armutsbetroffener auf den Punkt bringt. Dabei wird deutlich, dass Armut nicht nur bedeutet, sich keine Luxusprodukte kaufen zu können, sondern dass Armut weitreichende psychische und physische Auswirkungen haben kann. So berichtet Brodesser immer wieder von Gefühlen wie Beschämung, Versagen und Hoffnungslosigkeit. Dabei ist ihre Sprache knapp und erschreckend direkt: Sätze wie »Stellt euch vor, keine Träume mehr zu haben, weil sie noch nie in Erfüllung gegangen sind« bleiben sicherlich vielen Leser:innen noch länger im Gedächtnis.

Was muss sich ändern?

Reihe Klasse?!

Was ist das, eine Klasse? Haben wir alle eine? Wie prägen Klassen und Ideen von Klassen unseren Gesellschaften und den Umgang miteinander? Wie stellt man sie dar? Und wie können wir uns dazu verhalten? In dieser Reihe machen sich die Autor:innen Gedanken über gegenwärtige Gesichter von Klasse und Klassismus. Sie entwickeln sie beispielsweise anhand von literarischen Texten oder Sachbüchern, im Theater, als Forschende und persönlich. Die Texte erscheinen in unregelmäßigem Abstand; sie sind hier zu finden.

Brodesser beschreibt auch Maßnahmen, die Armutsbetroffenen helfen könnten. Einige davon werden sehr konkret, zum Beispiel sollten ihr zufolge für Beratungsgespräche bei Behörden wie Jobcentern mehr als nur zehn Minuten vorgesehen sein. Dabei argumentiert sie sehr nachvollziehbar, dass diese kurze Zeit nicht ausreiche, um die Fähigkeiten einer arbeitssuchenden Person korrekt einschätzen zu können. An anderen Stellen benennt Brodesser größere strukturelle Probleme, die Armut fördern, wie die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geringe Mindestlöhne und ungleiche Bildungschancen.

Dabei kritisiert sie auch das Leistungsverständnis der Gesellschaft: Laut Brodesser sei zum Beispiel die Pflege von Angehörigen eine beachtenswerte Leistung, die aber nicht in Form von finanziellem Einkommen anerkannt werde. An anderer Stelle schreibt sie auch, dass die Gesellschaft ohne unsichere und unterbezahlte Jobs nicht funktionieren würde. Dass diese Aspekte einen direkten Einfluss auf Armutsbetroffene haben, ist zwar einleuchtend, jedoch nennt Brodesser keine konkreten Möglichkeiten, wie auf diese Missstände reagiert werden kann. Dabei wäre genau das interessant gewesen, da diese Probleme besonders komplex und weitreichend sind.

Ein großer Vorteil an Armut ist jedoch, dass nicht nur Vorschläge gemacht werden, die ausschließlich von politischen Institutionen umgesetzt werden können. Stattdessen erklärt Brodesser, dass Armutsbetroffene sich zum Beispiel über das Internet miteinander vernetzen sollten. Dadurch könnten sie besser mit den negativen psychischen Folgen, die oft mit Armut einhergehen, umgehen und sich weniger allein fühlen. Außerdem weist sie darauf hin, dass man durch den Austausch mit anderen Armutsbetroffenen mehr Informationen über mögliche Hilfeleistungen bekommen könne. Besonders hilfreich ist auch, dass Brodesser auch Personen, die nicht in Armut leben, Ratschläge gibt, wie sie mit Armutsbetroffenen umgehen können. So solle man zum Beispiel den Betroffenen zuhören und ihre Probleme erstnehmen, statt sie zu relativieren.

Armut und Klassismus

Die Probleme, die Brodesser benennt, können als Aspekte von Klassismus verstanden werden. Klassismus beschreibt die Diskriminierung, also die unfaire Ungleichbehandlung von Personen, aufgrund ihrer sozialen Herkunft (der Klassenbegriff wird hier ausführlicher erklärt). Zum Beispiel schildert Brodesser die schlechteren Bildungschancen, die Kinder aus armutsbetroffenen Familien im Vergleich zu Kindern aus wohlhabenden Familien haben. In Armut wird der Begriff »Klasse« im Kontext von Klassismus jedoch kaum benutzt. Nur einmal beschreibt Brodesser die Situation ihrer Familie als »durchschnittliche Mittelklasse-Familie«, bevor sie von Armut betroffen war. Wieso Brodesser sonst nicht von Klassenzugehörigkeiten spricht, kann nur vermutet werden. Jedoch liegt es nahe anzunehmen, dass sie den Gebrauch dieser Kategorie vermeidet, weil Angehörige von Klassen mit geringem finanziellem Einkommen typischerweise von Angehörigen ökonomisch höher gestellter Klassen abgewertet werden. Da Brodesser sich gerade gegen die Stigmatisierung und Herabsetzung von Armutsbetroffenen einsetzt, ist ihre Vermeidung des vorbelasteten Klassenbegriffs verständlich. Allerdings liegen in der Verwendung des Begriffs auch Chancen: Durch die klare Benennung struktureller gesellschaftlicher Probleme können Betroffene ihre eigenen Schwierigkeiten besser einordnen und sich mit anderen Betroffenen zusammenschließen.  

Armut schafft es, die Lebensrealitäten Armutsbetroffener nachvollziehbar darzustellen und kann teilweise auch Lösungen für bestimmte Aspekte des Problems bieten. Das Buch ist damit ein wichtiger Beitrag, um die Perspektiven diskriminierter Gruppen besser zu verstehen und ihnen Raum zu geben.

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