Willkommen im Welten-Express!

Das Stigma des Andersseins, die Angst vor der Einsamkeit und die Sehnsucht nach loyalen Freunden – all das sind Probleme, die weder vor Kindern noch vor Erwachsenen haltmachen. Anca Sturms literarische Verarbeitung dieser Thematiken in Der Welten-Express ist lesenswert für beide Altersgruppen.

Von Emily Lüter

Bild: Ben Brooksbank via Wikimedia, CC2 BY-SA 2.0, cropped

Ein vor Magie sprudelndes Internat, eine alte Lokomotive, ein unscheinbares Kind mit strubbeligen Haaren – wer sich nun an Harry Potter erinnert fühlt, liegt mit seiner Einschätzung nicht ganz falsch. Anca Sturms Debütroman Der Welten-Express</em>ist eine magische Fahrt, auf die die Leser*in als Passagier mitgenommen wird, und kann dank der sorgfältig ausgearbeiteten Geschichte, trotz Parallelen zu unserem Lieblingsjungen mit der Blitznarbe, ganz eigenständig überzeugen. Als Auftakt zu einer Trilogie folgen wir im ersten Band dem jungen Mädchen Flinn Nachtigall in die magisch-rasante Welt der Lok, die mehr Gefahren birgt als zunächst angenommen.

Von der Einsamkeit und dem Mut, sie zu überwinden

In einem abgelegenen Dorf in Norddeutschland, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, wächst Flinn mit ihren drei Halbgeschwistern und einer Mutter auf, die kaum weniger mutter-haft sein könnte. Emotionale Wärme oder gar vernünftige Mahlzeiten sind in diesem Haus längst Fremdwörter geworden. Väter gibt es nicht in Flinns Leben und so baut sie in ihrer Einsamkeit auf die Liebe und Zuwendung ihres großen Halbbruders Jonte. Sein plötzliches und unerklärliches Verschwinden sowie eine genervte Gleichgültigkeit ihrer Mutter treiben sie jeden Tag weit weg von dem Haus, das sich nicht nach Zuhause anfühlt. In Grimm᾽scher Manier verteilt sie Brotkrumen auf ihren ziellosen Wanderungen durch die Felder. Doch die Raben fressen die Krümel auf und es scheint, dass Flinn gar nicht zurückfinden will. Oft verschlägt es sie an den Bahnhof, wo sie Jonte zum letzten Mal sah, als die Bahnhofsuhr und ihr Leben stehen blieben. Der Ort, der für ihren Halbbruder ein Ort des Träumens war, ist ein Ort des Davon-Träumens. Es ist ein Bahnhof, der symbolisch für alle die Länder und Menschen steht, nach denen sich die Geschwister sehnen.

Auf einem ihrer Spaziergänge kündigt sich ein merkwürdiges Pfeifen an dem sonst betriebslosen Bahnhof an. Und eine petrolfarbene Lok ändert Flinns Leben schlagartig. Es ist dasselbe metallene Ungetüm wie auf der einzigen Postkarte, die sie von Jonte seit seinem Verschwinden erhalten hat. Ohne Zögern springt sie auf, in der Hoffnung, ihren Halbbruder nun endlich zu finden – viel lässt sie nicht hinter sich zurück. Bald jedoch wird Flinn bewusst, dass dies keine normale Lok ist, sondern ein rollendes Internat: Schüler*innen, die sich »Pfauen« nennen, belegen so seltsame Fächer wie Heldentum und Strategie & Zuversicht – in Waggons, in denen keine Sitze, sondern Schreibpulte angebracht sind.

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Anca Sturm
Der Welten-Express 1

Carlsen Verlag: Hamburg 2018
384 Seiten, 14,99 €

Mechanische Haustiere, wie etwa der Hund eines Koches, kuscheln sich lebensecht in ihren Schoß. Und Magie strömt durch die Gänge. Echte Magie. Doch trotz der bezaubernden Umgebung stellt sich Flinns gefürchtete Einsamkeit wieder ein – sie ist kein »Pfau«, kein magisches Kind. Sie gehört nicht dazu. Doch wie gut, dass sich die drei selbsternannten Außenseiter Kasim, Pegs und Fedor ihrer annehmen. Zu viert rücken sie dem Geheimnis um Jontes Verschwinden auf die Spur und entdecken, dass eine viel größere Gefahr lauert.

Willkommen an Bord der magischsten Lok

Die Dynamik der Ereignisse beschleunigt sich zunehmend und zieht immer engere Kreise um Flinn, die sich auf die Hilfe ihrer neu gewonnenen Freunde verlassen muss, um nicht endgültig hineingesogen zu werden. In einem bunten Strudel aus Geister-Tigern, magietechnologischen Apparaturen, flüsternden Sternen und mysteriösen Lehrern bildet sich eine Geschichte, die stets neue Wendungen nimmt und an Spannung nicht verliert. Denn während die Geister an Bord sich als gutmütige Helfer herausstellen, so ist dem ein oder anderen Mitglied des Personals ganz sicher nicht zu trauen.

»Zu einer Zeit, als die Märchen zu Metall wurden«, da entstand eine Lok, die die Grenze zwischen Technik und Magie buchstäblich durchfährt und aufgrund des begrenzten Raumes, dem während der Fahrt niemand zu entfliehen vermag, eine interessante Mischung aus Gemütlichkeit und Bedrängung kreiert. Bereits der erste Satz transportiert die Leser*innen an einen Ort, der für sie selbst beinahe greifbar ist. Aber eben nur beinahe. Allein durch Flinns Augen können sie die Abenteuer miterleben. Genau wie die Protagonistin bleiben die extratextuellen Passagiere gespannt ob der Auflösung des Rätsels und grübeln mit ihr angesichts immer neuer Informationen.

Noch nie seit Jontes Verschwinden hatte sie sich so sicher und frei gefühlt wie in diesem Zug.

Und doch »strahlte er eine Abgeschiedenheit aus, als wäre er allein die Welt und um ihn herum nur Stille und Nichts«.

In erster Linie bietet der Welten-Express jedoch all jenen vergessenen Kindern, deren Potential der Welt zu verloren gehen droht, einen Ort, an dem sie zu den Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern von morgen werden können. Es sind Kinder, in denen die Möglichkeit einer besseren Welt schlummert. An Bord des Zuges spielt es keine Rolle mehr, wo sie herkommen, wer ihre Eltern sind. Sie bereisen alle Länder dieser Welt, denn Potential existiert überall. Nicht zuletzt in Kindern wie Flinn, die noch lernen müssen, an sich selbst zu glauben. Flinn ist eine Figur, die sich in allen Aspekten des Lebens in Transition befindet: Ihr Name ist weder mädchen- noch jungenhaft; ihre Kleidung ist nicht die ihre, sondern das Hemd Jontes, das sie sich wie eine zweite Haut überstülpt; ihr Antrieb ist nicht aus ihr heraus begründet, sondern durch die dringliche Suche nach ihrem Bruder. Selbst der Raum, in dem sie agiert, ist eine unentwegt davondampfende Lok, die Länder- und Kulturgrenzen durchquert. Umso stärker ist die Botschaft, die sich zunehmend deutlich abbildet: Wer du bist, definiert sich nicht nur durch externe Faktoren, sondern durch die Fähigkeit, in dir selbst ein Zuhause zu finden. Und so kommt es, dass Flinn auf ihrer Suche nach Jonte nicht nur dem Rätsel seines Verschwindens auf die Schliche kommt. Vielmehr findet sie sich selbst, knüpft Freundschaften, die sie sich zuvor nie hätte erträumen können, und kämpft für den Ort, der von nun an ihr Zuhause sein wird.

In dieser Geschichte begegnet uns nicht etwa wie bei J.K. Rowling ein Lord Voldemort, der die gesamte Magier-Welt auszulöschen versucht – der Bösewicht zeigt sich stattdessen in vielerlei Form und nicht zuletzt als die Angst vor dem Scheitern in uns selbst. Flinn verfügt, anders als Harry Potter, weder über einen Zauberstab noch über dessen besondere Kraft; stattdessen nimmt sie die Stärke aus sich selbst. Ihr Mut geht über magische Fähigkeiten hinaus.

Kinderbücher, die ihr volles Potential entfalten, sind doppelt adressiert: Nicht nur Kinder staunen mit großen Augen ob der Wunder, in die sie eintauchen. Auch Erwachsene können viel lernen von der Empathie, dem kindlichen – aber nicht kindischen – Glauben an ein glückliches Ende und der Stärke zwischenmenschlicher Beziehungen, die hier so liebevoll skizziert werden.

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