Eine Filmstory wie aus der Zeit gefallen: Im Mittelpunkt steht ein Mann, der Menschen zu Fuß ihre bestellten Bücher nach Hause liefert. Der Buchspazierer kam 2024 nach der gleichnamigen Romanvorlage in die Kinos und lässt sich als absoluter Wohlfühlfilm beschreiben, dem es weder an Situationskomik noch an Tiefe mangelt.
Von Sidney Lazerus
»Es heißt, Bücher finden ihre Leser – aber manchmal brauchen sie jemanden, der ihnen den Weg weist.«
Die Verfilmung des Bestseller-Romans Der Buchspazierer dreht sich um den älteren Buchhändler Carl Kollhoff, der nach Geschäftsschluss der Buchhandlung Am Stadttor Bücher zu seinen Kund:innen nach Hause bringt, da diese aus unterschiedlichen Gründen nicht selbst in die Buchhandlung kommen können. Doch von Jahr zu Jahr werden es weniger Bestellungen, sodass der zurückhaltende Carl stets vorsichtig mit seinen Stammkunden umgeht, niemals auch nur daran denkt, die professionelle Schwelle zu übertreten, etwa privatere Fragen zu stellen und nicht nur über die Bücher zu reden, um vielleicht eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Doch eines macht dem Buchhändler unbewusst immer mehr zu schaffen: seine Einsamkeit, die peu à peu an seiner Kraft zehrt.
Ein entrückter Blick auf die Umwelt
Carl sieht nicht die wirklichen Menschen, denen er die Bücherbestellungen liefert – er sieht in den realen Menschen bekannte literarische Figuren, lebt wortwörtlich zurückgezogen in seiner eigenen, literarischen Welt. So kommt er auf seiner Runde etwa jeden Tag zu der Villa von Herr von Hohenesch, der für ihn Mister Darcy (Edin Hasanović) aus Stolz und Vorurteil darstellt. Weiterhin lassen sich der starke Herkules (Tristan Seith), die offenherzige, kunterbunt gekleidete Frau Langstrumpf (Maren Kroymann) und Effi Briest (Hanna Hilsdorf) als treue Kund:innen aufzählen.
Doch dann bringt ein unerwarteter Wirbelwind in Form eines neunjährigen Mädchens mit dem Namen Schascha (Yuna Bennett) Bewegung in das Leben des abgeschotteten Mannes – und stellt alles auf den Kopf. Sie ist mit ihrem Vater (Ronald Zehrfeld) vor kurzem in die Stadt gezogen und taucht ganz plötzlich an Carls Seite auf. Dieser stellt nachdrücklich klar, dass er seine Runden schon seit jeher alleine drehe, und dass dies auch so bleiben werde. Keck erwidert Schascha daraufhin, dass er ja alleine gehen könne, und sie gehe einfach ebenfalls alleine, neben ihm. Das wiederholte Augenverdrehen und Seufzen Carls ignoriert sie gekonnt und schon bald erweicht sie das Herz von Carl, den sie von Beginn an den ›Buchspazierer‹ nennt.
Wendungen des eigenen Schicksals
Es entsteht eine enge, durch kleine Gesten und Blicke emotional berührende Freundschaft zwischen Carl und dem lesebegeisterten Mädchen. Von nun an liefert er seine Bücher tagein tagaus in Begleitung von Schascha aus – alle Kund:innen schließen das Mädchen unmittelbar in ihre Herzen. Carls Zeit als Einzelgänger ist Vergangenheit – er lebt durch seine Begleiterin wieder auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit, in der ihm allein die Bücher in seiner kleinen, abgedunkelten Dachgeschosswohnung Gesellschaft leisteten, spürt er wieder die Sehnsucht nach anderen Menschen, registriert, was ihm so lange Zeit gefehlt hat.
Bei den Spaziergängen merkt die intelligente Schascha aber schnell: Bei jeder:m von Carls Kund:innen stimmt etwas nicht, sie scheinen sich alle von der Welt abgeschirmt zu haben. Warum hat die immer perfekt gestylte Effi ein geprelltes Handgelenk und liest nur Bücher, in denen die Figuren ein tragisches Ende erleiden? Wieso besteht Herkules stets darauf, von Carl schon vor dem Lesen den gesamten Inhalt der bestellten Literaturklassiker zusammengefasst zu bekommen? Warum wohnt Mr. Darcy so ganz allein in einer riesigen Villa und hat trotz täglicher Bücherlieferungen lediglich drei Bücher im Haus? Und aus welchem Grund verlässt Frau Langstrumpf seit Jahren nicht ihr Haus und sucht in Büchern immer nach Fehlern? Schacha scheut sich nicht, wortwörtlich die Türschwelle zu Carls Kund:innen zu übertreten und diesen Fragen auf den Grund zu gehen.

Bild: IMDB
Regie: Ngo The Chau
Drehbuch: Carsten Sebastian Henn, Andi Rogenhagen
Hauptbesetzung: Christoph Maria Herbst, Yuna Bennett, Ronald Zehrfeld
Die Macht der zwischenmenschlichen Verbundenheit
Das empathische Mädchen nimmt die Sache nun selbst in die Hand und verschenkt Bücher, die ihrer Ansicht nach perfekt zu den Menschen passen: So brauche z.B. Effi keine weiteren dramatisch-traurigen Bücher, sondern dringend etwas zum Lachen. Mit ihren Geschenken zaubert Schascha jedem ein Lächeln ins Gesicht und zeigt den Menschen neue Lebensperspektiven auf. Gemeinsam mit Carl ermutigt sie die Lesenden zu entscheidenden Schritten in ihren Leben. Der Buchspazierer und seine Begleiterin bringen die Menschen wieder zusammen, beweisen anderen die verbindende Kraft von Büchern, ebenso wie sich selbst. Statt alleine, abseits von sozialem Interagieren ihr Leben zu leben, entdecken sie zusammen die Schönheit der zwischenmenschlichen Verbundenheit.
Doch dann zieht ein Ereignis Carl den Boden unter den Füßen weg: Er wird gefeuert. Die Leiterin der Buchhandlung möchte diese modernisieren, sie verkörpert gegenüber Carl gewissermaßen das digitale und schnelllebige Zeitalter und der Buchspazierer ist ihr schon lange ein Dorn im Auge. Nikola Kastner verkörpert die unsympathische Buchhändlerin glaubhaft, man nimmt ihr ab, dass sie keinerlei Gefühl für Bücher und Menschen zu haben scheint. Der Film behandelt demnach auch Themen wie das Altwerden, Trauer, Veränderungen sowie Verlustängste. Carl sieht sich vor dem Nichts: Ist er überhaupt noch da, jetzt, wo er seiner Leidenschaft, dem Bücheraustragen, nicht mehr nachgehen kann? Was bleibt ihm jetzt noch, wenn er nicht mehr der Buchspazierer ist? Aus Verzweiflung verkauft Carl seine eigenen wohlbehüteten Bücher, um aus eigener Tasche weiter die Bücher für seine Kund:innen kaufen zu können. Das geht so lange gut, bis alles verschwunden ist, was ihm noch als Anker dienen könnte. Schaffen es Schascha und seine zu Freund:innen gewordene Kundschaft, eine Lösung zu finden?
Eine einzigartige Chemie
Der Buchspazierer ist nicht bloß eine Hommage an die Bücherwelt – sondern auch ein Appell, immer offen für die Außenwelt zu bleiben. So lernt der zunächst genervte und durch das Brechen seiner Routinen zunächst überforderte Carl durch die Hartnäckigkeit Schaschas, sich wieder für die Realität und für soziale Bindungen zu öffnen. Er sieht nun die individuellen Geschichten der echten Menschen, nicht nur die, die er ihnen als Romanfiguren zugeschrieben hat. Christoph Maria Herbst spielt den erst distanzierten, wortkargen, sich später aber auch verletzlich zeigenden, gutmütigen Carl Kollhoff hervorragend. Als Zuschauer:in kauft man ihm die Rolle durch seine merkbare Einfühlung in die Figur sofort ab. Er erhielt 2024 u.a. für die Darstellung des Carl Kollhoff den Bayerischen Filmpreis in der Kategorie Bester Darsteller.
»Die Menschen vergessen immer mehr zu lesen. Dabei sind zwischen den Buchdeckeln Menschen und ihre Geschichten.«
Das warme, friedliche Gefühl, das man beim Lesen des Romans empfindet, schafft der Film ebenso hervorzurufen. Die vielen Bilder von verwinkelten Gassen in dem kleinen Städtchen wirken beruhigend und strahlen Gemütlichkeit aus. Auch ein paar Lacher gehen während des Films durch den Kinosaal – ansonsten aber ist es auffallend still. Alle scheinen gefesselt von Carl Kollhoff mit seinem Bücherrucksack auf den Schultern, seinen so verschiedenen liebenswürdigen Kund:innen und dem kleinen aufgeweckten Mädchen mit den riesigen, neugierigen Augen. Die Besetzung der Rollen ist genau richtig für die Figuren aus der Romanvorlage. Der Film lebt vor allem von den Schauspieler:innen, die authentisch in ihren Rollen aufgehen und von der Situationskomik, die durch die spürbare Chemie zwischen Christoph Maria Herbst und der Nachwuchsschauspielerin Yuna Bennett entsteht. Letztere verkörpert eine so einzigartige Figur, dass selbst Carl keine literarische Entsprechung einfallen will.
Der Buchspazierer wurde von Ngo The Chau hervorragend märchenhaft inszeniert. Die Szenen vermitteln eine Ehrfurcht und Liebe gegenüber Büchern. Die Zärtlichkeit und Feinfühligkeit, mit der Carl die Bücher auswählt und einzeln verpackt sowie die feierliche Übergabe, die seinen Kund:innen so viel bedeutet, wirken bezaubernd auf das Publikum, aber ohne allzu kitschig zu erscheinen. Die erzählten Welten sind ein wichtiger Teil für die Herzen der Figuren – aber ebenso gehören Verbindungen zu anderen Menschen, das „Draußen” zum eigenen Leben dazu, was man niemals vergessen sollte.