Allein gegen die Schwerkraft

Am 25. November 2015 war der 100. Jahrestag zur Entstehung der allgemeinen Relativitätstheorie. Pünktlich zu diesem Termin erschien auch Thomas de Padovas Buch Allein gegen die Schwerkraft. Einstein 1914-1918 im Hanser Verlag. Das Buch erzählt von der Entstehung der Relativitätstheorie in der turbulenten Zeit des ersten Weltkrieges.

Von Josephin Charlot Henning

Bild: F. Schmutzer via Wikimedia / Public Domain

Thomas de Padova, studierter Physiker und Astronom, begibt sich mit seinem achten Buch Allein gegen die Schwerkraft. Einstein 1914-1918 (2015) auf die Spuren von Einsteins Leben in Berlin zur Zeit des ersten Weltkrieges. Sein 2009 erschienenes Werk Das Weltgeheimnis. Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft ernannt, und auch Allein gegen die Schwerkraft befand sich dieses Jahr in der Auswahl für den Preis.

Biographie als Kulturgeschichte

Padovas neustes Werk »erzählt von der Entstehung der allgemeinen Relativitätstheorie mitten im ersten Weltkrieg.« Es berichtet, wie Einstein am Sonntag dem 29. März 1914 in Berlin eintrifft, um als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Professor an der Universität zu forschen und zu lehren. Außerdem soll er »eine leitende Stelle an einem noch zu gründenden Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik bekommen.« Zwar steht Einstein dem preußisch-militaristischen Obrigkeitsstaat misstrauisch gegenüber, aber die Aussicht, sich fortan nur noch seinen Forschungen widmen zu können, genauso wie die Tatsache, dass sich seine Geliebte und Cousine Elsa Löwenthal in Berlin aufhält, lässt ihn in die Reichshauptstadt übersiedeln. Padova berichtet jedoch noch von mehr Geschehnissen an diesem 29. März. »In Berlin ist an diesem Sonntag das Wetter das bestimmende Thema, schließlich möchte der Großstädter den freien Tag nicht zuhause verbringen. […] Allerdings ist an diesem Wochenende unvermittelt der Winter ausgebrochen.« Außerdem läuft am 29. März die Yacht Wilhelms II. in Korfu ein (»bei herrlichem Sonnenschein«). Im Grunewald eröffnet derweil die Pferderennsaison und auf dem Flugplatz Johannisthal im Südosten Berlins bewundern die Besucher den französischen Kunstflieger Adolphe Pégoud bei seiner Vorführung des neuen »Looping the loop«.

Padova wählt für jedes Kapitel wichtige Eckdaten aus Einsteins Lebenslauf aus, um diese dann mit zeitgleichen Geschehnissen von historischer und gesellschaftlicher Bedeutung zu verknüpfen. Aber auch weniger wichtige und dennoch interessante Fakten lässt er immer wieder mit einfließen. So bekommt der Leser nicht nur einen Eindruck von dem Physiker Einstein, sondern er wird auch als wichtiger Zeitzeuge in Berlin zur Zeit des ersten Weltkrieges dargestellt. Der Text wird dadurch aus interessanten Anekdoten über das Leben in Berlin von 1914-18, Ausflüge in die preußische Außenpolitik und Erklärungen zu Einsteins Gedanken zur Relativitätstheorie gewoben. Dieser collagenartige Zusammenschnitt ähnelt beispielsweise Florian Illies 1913. Der Sommer des Jahrhunderts (2012) oder auch Gerhard Jelineks Schöne Tage 1914. Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges (2013), die ebenso versuchen, die hektische und unruhige Zeit vor dem Kriegsausbruch durch kleine Anekdoten aus dem Leben Sigmund Freunds, Franz Kafkas, Josef Stalins und vielen mehr. zu verdeutlichen. Im Gegensatz zu diesen beiden Autoren finden sich bei Padova aber weniger Umbrüche, da der Fokus allein bei Einstein bleibt und all seine Eindrücke bezüglich der beschriebenen Informationen mit dem Leser geteilt werden. Padova orientiert sich außerdem weniger streng an einer chronologischen Auflistung als Illies und lässt immer wieder Begebenheiten aus Einsteins Leben vor 1914 mit einfließen.

So verfährt Padova auch mit der Zeit des Kriegsbeginns vom 28. Juli 1914 und den darauffolgenden Wochen. Nachdem das deutsche Kaiserreich am 1. August seine Kriegserklärung abgab, wurden augenblicklich im ganzen Land alle Güterzüge gestoppt und an Ort und Stelle entladen, um sie für den Transport von Soldaten, Pferden und schweren Geschützen umzurüsten. »In den ersten Augustwochen setzen sich 20800 Mobilmachungszüge sowie 11100 Kriegsaufmarschtransportzüge in Bewegung, die 3,1 Millionen Mann und 860000 Pferde an die Front bringen.« Padova bindet diese Ereignisse immer an Einsteins Erfahrungen an und stellt die Bedeutung für seine Arbeit heraus:

»Unglaubliches hat nun Europa in seinem Wahn begonnen«, schreibt Einstein seinem Kollegen Paul Ehrenfest am 19. August, als die belgische Stadt Löwen besetzt wird, wo Hunderte Zivilisten ums Leben kommen und die Universitätsbibliothek mit 230000 Büchern in Flammen aufgeht. »In solcher Zeit sieht man, welcher traurigen Viehgattung man angehört.« Am Tag darauf marschieren deutsche Soldaten in Brüssel ein, wo Einstein im Jahr zuvor anlässlich der zweiten Solvay-Konferenz mit Forschern aus aller Welt über die Struktur der Materie debattierte. Ebenfalls am 20.August beginnt die langwierige Belagerung der Handelsstadt Antwerpen, wo sein Onkel Caesar Koch lebt, dem er vor vielen Jahren seinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz schickte.
Vom Krieg an der Ostfront sind Einsteins Forschungen direkt betroffen. Kurz vor Kriegsbeginn war der Astronom Erwin Freundlich zusammen mit zwei Kollegen und aufwendiger fotographischer Ausrüstung nach Russland aufgebrochen, um dort am 21. August eine Sonnenfinsternis zu beobachten. Ziel der Expedition: die von Einstein vorhergesagte Ablenkung des Sternenlichts im Schwerefeld der Sonne zu überprüfen. Einstein hat dieser Expedition entgegengefiebert. Seit Jahren korrespondiert er mit Freundlich über die mögliche Bestätigung seiner Gravitationstheorie. Doch statt die Finsternis zu erleben werde Freundlich nun wohl in Kriegsgefangenschaft geraten. Einstein ist in großer Sorge um ihn.

Kulturgeschichte und Gegenwart

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Thomas de Padova
Allein gegen die Schwerkraft

Carl Hanser Verlag München 2015
312 Seiten, 21,90€

Sucht man nach Literatur über Einstein, so findet man etwa 15 Biographien und zahllose Werke, die sich wahlweise mit Einsteins Weltanschauung, Gedankenwelt oder seinen Überlegungen über die Physik befassen. Im Jahr 2015 noch eine weitere Biographie über ihn zu veröffentlichen, erscheint auf den ersten Blick nahezu überflüssig, gerade da diese Abhandlung nur etwa vier Jahre von Einsteins Schaffen umfasst, und von vielen Seiten die Kritik bekommt, nicht ausführlich genug zu sein. Doch Padova grenzt sich mit Allein gegen die Schwerkraft von anderen Biographien insbesondere durch die geschichtlichen Hintergrundinformationen ab.

Der Autor zeigt uns in seinem Buch eine Welt, genauer gesagt ein Deutschland, das zu dieser Zeit enorme wirtschaftlich und auch wissenschaftliche Fortschritte vorzuweisen hat, in dem aber auch »Militärparaden an der Tagesordnung« und »Marschkapellen und Militärlieder singende Kinder omnipräsent« sind. Ebenso werden antisemitische Rufe immer lauter, denn ab Ende des 19. Jahrhunderts sind immer mehr Juden vor Pogromen in Russland geflohen und lebten zurückgezogen im Berliner Scheunenviertel. So manch eine Beschreibung von dem Berlin etwa vier Monate vor Ausbruch des ersten Weltkrieges erinnert auch an das heutige Deutschland.

Millionen Menschen flüchten heute vor den Kriegen in Syrien, Afghanistan und Teilen Afrikas. Von privaten Spendenaktionen für diejenigen, die hier in Deutschland gestrandet sind, und den freiwilligen Helfern in sogenannten Auffanglagern und Flüchtlingsheimen, hört man immer seltener. Es scheint, als wäre nur noch wenig übrig von der letzten Sommer beschworenen »deutschen Willkommenskultur«. Die AfD ist in Umfragen regelmäßig drittstärkste Kraft in Deutschland, und dass obwohl die Partei dafür plädiert die Grenzen mit Waffengewalt gegen Flüchtlinge zu »schützen«. PEGIDA trumpft mit mehreren Hunderttausend Likes bei Facebook auf und postet dort Aufrufe an ihren Demonstrationen teilzunehmen, in denen gedankenlos Parolen wie »Wir sind das Volk« gerufen werden. Im Jahr 2015 gab es »789 Anschläge auf Flüchtlingsheime« . Das macht in etwa zwei brennende Unterkünfte täglich. Die traurige Bilanz: Nationalismus und Rassismus sind an der Tagesordnung. Schon mehr als einmal gab es diesen ausufernden Fremdenhass, wahllos konstruierte Feindbilder und Aufrufe zur »Verteidigung des Vaterlandes«. Wohin es die letzten Male geführt hat, können wir heute in den Geschichtsbüchern nachlesen. Einstein fand klare Worte gegen diesen Nationalismus und Militarismus:

Am stärksten verabscheut er [Einstein] das Militärische, das ihm Berlin vorexerziert wird. In der Garnisonsstadt sind Militärparaden an der Tagesordnung, Marschkapellen und Militärlieder singende Kinder omnipräsent. Gerade das Bürgertum strebt nach einem Aufstieg in militärische Ränge, obschon gerade Standesdünkel der preußischen Offizierskaste zivilen Wertvorstellungen zuwider läuft. »Der Dienst als preußischer Reserveoffizier – um 1914 gab es rund 120000 von ihnen – war in der bürgerlichen Gesellschaft ein begehrtes Statussymbol«
Corpsstudenten treten besonders forsch und schneidig auf. Ihre selbst auferlegten Verhaltensnormen, Ehrenkodices und Hierarchien orientieren sich am militärischen Vorbild. Studentenverbindungen verherrlichen die kriegerischen Taten im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in ähnlicher Weise wie die mächtigen Kriegerverbände mit ihren an die drei Millionen Mitgliedern im deutschen Reich.
Für den preußischen Uniformfetischismus findet Einstein deutliche Worte: Wenn jemand Freude daran habe, bei Musik in Reih´ und Glied zu marschieren, dann verachte er ihn schon. So jemand habe sein großes Gehirn nur irrtümlich bekommen, für ihn genüge das Rückenmark völlig.

Biographie als Anleitung zur Menschlichkeit

Als überzeugter Pazifist setzte sich der Nobelpreisträger Einstein, schon früh für den Frieden und die Bewahrung der Menschenrechte ein. Aber auch ihm selbst wird seine jüdische Herkunft immer wieder vor Augen geführt, aufgrund derer man ihn als »Bürger zweiter Klasse« deklariert. Mit Beginn des Krieges wächst Einsteins Engagement für den Frieden. Während einige seiner Kollegen die kriegerischen Aktivitäten unterstützen, wie etwa Fritz Haber, der aktiv an der Herstellung von Giftgas und dessen Einsatz als chemische Kampfwaffe beteiligt ist, unterstützt Einstein maßgeblich das Antikriegsmanifest Aufruf an die Europäer von dem Kardiologen Georg Friedrich Nicolai und tritt unter anderem dem Bund Neues Vaterland bei, der späteren Deutschen Liga für Menschenrechte. Zeit seines Lebens engagiert sich Einstein von nun an unermüdlich für den Frieden, die Freiheit und die Menschenrechte. Er scheut auch nicht davor zurück, dem Staat und seinen Fürsprechern ungemütlich zu werden. Einsteins Einsatz für die Menschlichkeit kann auch uns eine Perspektive aufzeigen, dass Vertreibung und Fremdenhass in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert werden dürfen. Einsteins Arbeit für den Frieden parallelisiert Padova mit seiner Arbeit an der Relativitätstheorie. Erfolg hat er letzlich nur mit einer:

Aus Sicht seiner Forscherkollegen sind seine pazifistischen Bemühungen ähnlich hoffnungslos wie sein Versuch, die newtonsche Schwerkraft zu überwinden. Tatsächlich stürzt seine mühsam ausgearbeitete Theorie der Gravitation, die auf einer gekrümmten Raumzeit fußt, im Herbst 1915 wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Als er ihre Voraussetzungen noch einmal überdenkt, erwächst ihm in dem Göttinger Mathematiker David Hilbert plötzlich ein Mitstreiter um deren mathematische Formulierung. Einstein, in Aufregung, gerät in einen Schaffensrausch. Innerhalb von vier Wochen präsentiert er der Preußischen Akademie drei Neufassungen.
Am 25. November 1915 mündet der angespannte Wettlauf zwischen den beiden Forschern schließlich in die Grundgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie, die er bald darauf auf das Universum als Ganzes anwendet. Als Pfeiler der modernen Kosmologie haben Einsteins Feldgleichungen auch hundert Jahre später nichts von ihrer Faszination eingebüßt.

Padovas Geschichte Einsteins ist aber keine Heiligenerzählung. In seinem Privatleben strebt Einstein weitaus weniger nach Frieden und Harmonie. Mit dem Umzug nach Berlin am 29. März 1914 entwickelt sich aus der Zuneigung zu seiner Cousine Elsa Löwenthal eine Affäre. Die Ehe mit seiner Frau Mileva wird dadurch zunehmend komplizierter. Einstein zeigt sich hier als Tyrann und setzt alles daran, die ungeliebte Gattin möglichst schnell aus seinem Leben zu verdrängen:

Als sich Mileva dagegen wehrt, stellt er ihr ein Ultimatum, in dem er rücksichtslose Bedingungen an ein weiteres Zusammenleben knüpft, ein Druckmittel, das offensichtlich nichts anderes bewirken soll als den endgültigen Bruch:
Mileva habe a) für Kleider und Wäsche zu sorgen, für drei anständige Mahlzeiten im Zimmer und für Ordnung in seinen Schlaf- und Arbeitszimmer. Sie müsse b) auf alle persönlichen Beziehungen zu ihm verzichten, soweit deren Aufrechterhaltung aus gesellschaftlichen Gründen nicht unbedingt geboten sei. Insbesondere werde er weder bei ihr zu Hause sitzen noch zusammen mit ihr ausgehen oder verreisen.
»C. Du verpflichtest Dich ausdrücklich, im Verkehr mit mir folgende Punkte zu beachten:
1. Du hast weder Zärtlichkeiten von mir zu erwarten noch mir irgendwelche Vorwürfe zu machen
2. Du hast eine an mich gerichtete Rede sofort zu sistieren, wenn ich darum ersuche
3. Du hast mein Schlaf- bzw. Arbeitszimmer sofort und ohne Widerrede zu verlassen, wenn ich darum ersuche«
Aufgrund der dadurch kaum zu ertragenden Umstände im Hause Einstein, verlässt die studierte Physikern mit ihren beiden Söhnen Hans Albert und Eduard Berlin »am Abend des 29. Juli 1914 in einem der letzten Züge nach Zürich, bevor der Erste Weltkrieg nach Ablauf des österreichischen Ultimatums an Serbien entbrennt.«

Mit Allein gegen die Schwerkraft schafft es Thomas de Padova nicht nur, verständlich die physikalischen Zusammenhänge der Relativitätstheorie zu erklären, sondern auch das historische Umfeld ihrer Entstehung in der Zeit des ersten Weltkrieges darzustellen. Darüber hinaus gelingt es ihm, ein anschauliches Bild von den Lebensumständen der Menschen zwischen 1914 bis 1918 in Berlin zu zeichnen. Er geht auf die Emanzipation der Frauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein, berichtet über das akademische Umfeld Einsteins und den deutschen Wirtschafts-, sowie Wissenschaftsbetrieb. Die detailgetreue Darstellung der geschichtlichen Ereignisse ist sehr ausführlich, lebendig und interessant erzählt. Die Erklärung von Einsteins physikalischen Theorien hingegen kann für Nichtinteressierte an der Physik teilweise etwas langwierig und schwer nachvollziehbar sein. Insgesamt zeichnet die Kombination aus Wissenschaft und Geschichte dieses Werk aus. Es ist eben mehr als nur eine Biografie von Einstein. Der Leser wird hier auf eine außergewöhnliche Reise mitgenommen, die nachdenklich stimmt.

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