Wir drehen uns in Spiralen

Fans der Band Tocotronic haben es schon längst im Regal stehen: Frontmann Dirk von Lowtzow hat mit Aus dem Dachsbau ein literarisches Debüt hingelegt, das aufgrund seiner vielfältigen Lesarten auch für unvoreingenommene Freund*innen von Kurzprosa und Literaturkenner*innen lohnenswert ist.

Von Amelie May

Bild: Amelie May

Dirk von Lowtzow scheint herausgefunden zu haben, wie man die Zeit austricksen kann. Zumindest suggeriert das das Zitat auf dem Buchrücken: »Schreib alles auf. Dann wirst du lernen, die Zeit zu überlisten. Das ist das ganze Geheimnis. Das ist das einzige Gesetz.« Was und auf welche Art und Weise er das tut, das wird noch nicht klar, wenn man nur die Vorderseite des schmalen Büchleins betrachtet. Aus dem Dachsbau steht da gelb auf dunkelblau, die ersten drei Buchstaben des Alphabets riesig hervorgehoben (siehe Infobox). Was dann beim Aufschlagen des Buchs zuerst wie ein Register erscheint, ist eigentlich das Inhaltsverzeichnis: Ein kurzer Blick verrät den enzyklopädischen Aufbau des Buchs. Unter jedem Buchstaben ist mindestens ein Kapitel gefasst, von A wie Abba bis Z wie Zeit erschafft sich von Lowtzow die Buchstabiertafel seines Lebens.

Erzählte Kindheit

Das schon genannte erste Kapitel ABBA gibt einen ersten Vorgeschmack auf die Einblicke, die von Lowtzow den Leser*innen in seine Geschichte gewährt. Geschichte, nicht Vergangenheit? Dieses Spannungsfeld zwischen Fiktion und Non-Fiktion ist ein wichtiger Leitfaden, der sich durch das gesamte Buch zieht, nämlich die Frage nach Authentizität und der nicht eindeutig bestimmbaren Schnittmenge zwischen Autobiographie und Autofiktion. Wenn von Lowtzow von seiner Kindheit erzählt, dann tut er das aus verschiedenen Erzählperspektiven:

Unsere Nachbarn hielten sich ein Huhn, das sie Ilse nannten. Eines frühen Morgens, es war noch dunstig, stach ich, vor Wut und Rachsucht wie von Sinnen, auf den Fußball der Nachbarskinder ein, der vor mir im feuchten Gras lag […] In einer halben Stunde würde mein Vater ins Zimmer kommen, um mich zu wecken. Nebenan würde die Nachbarstochter aufstehen und dabei ABBA hören. Sie hörte immer ABBA. Die Harmoniegesänge und Discobeats versprachen mir, Einsamkeit und Isolation abstreifen zu können, aufgehoben zu sein in Musik und buntem Licht und mich im Tanz als glücklich zu erleben. ABBA. From A to B and back again.

Durch den auktorialen Ich-Erzähler und auch die elaborierte Wortwahl wird von Beginn an negiert, dass der Erzähler hier versucht seine authentischen Kindheitserinnerungen niederzuschreiben. Von Lowtzow gibt sich keine Mühe, diese Illusion zu erzeugen. Die erzählerischen Details sind einem Kind nicht zuzuschreiben. Durch die retrospektive Reflexion erzeugt er eine zeitliche Hybridität, die Gegenwart und Vergangenheit zu einer Erzählung verflicht und die Anleitung des Umschlagtextes einzulösen scheint, die Zeit via Geschriebenem zu überlisten.

Das Erreden von Songs

Der enzyklopädische Aufbau tritt dabei an die Stelle einer chronologischen Ordnung. Die dadurch entstandene Achronie bedingt, dass die einzelnen Kapitel autonom funktionieren, sie sind keinem übergreifenden Thema zugeordnet. Sogar die Zuordnung zu Dirk von Lowtzows (vermeintlicher) Geschichte schafft keinen einheitlichen Rahmen, denn die verschiedenen Rollen und Lebensetappen zeichnen ein facettenreiches Bild des Erzählers, der sich teils an sein vergangenes Ich richtet und durch diese direkte Ansprache nochmals die erzählerische Funktion hervorhebt. In Aliens schildert er beispielsweise, wie seine frühe und ungebrochene Liebe zu Literatur und Filmen des Science-Fiction- und Horrorgenres seine Schulzeit in ein fantastisches Licht tauchte, im Kapitel Selbstgespräche beschreibt er, wie er auf die Ideen für Songs kommt.

Ganze Nächte habe ich auf dem Balkon verbracht, geraucht und geredet. Das ganze letzte Album habe ich mir nachts auf dem Balkon in Selbstgesprächen erarbeitet. Und das Album davor und das Album davor. Erredet. Nachtarbeit, da ist eigentlich ein Zuschlag fällig. Ganz irre wird man dabei, aufstehen, den Mantel, Socken, Schuhe ungeschnürt, auf den Balkon, rauchen, reden, rauchen, sich vergewissern, dass alles gut ist, wie es ist, das wird schon,  Mantel aus, Schuhe aus, Socken aus, alles an seinen Platz, ins Bad, Hände waschen, gurgeln mit Listerine. Wieder zurück ins Bett. Mit dem Kopf auf dem Kissen. Die erdachten Lieder spuken im Kopf herum. Ein Labyrinth von Möglichkeiten. Kein Schlaf.

Hier sind mehrere Aspekte aufzufinden, die für das gesamte Buch relevant sind. Beispielsweise der gewährte Einblick hinter die Kulissen von Tocotronic-Songs und ihre Genese, was für Fans der Band sicherlich ein Anlass ist, das literarische Debüt des Frontmanns zu erstehen. Teilweise sind direkte Zitate aus den Lyrics in den Texten zu finden, so dass die Leser*innen mehr zum jeweiligen Entstehungskontext des Songs erfahren. Wenn von Lowtzow von einem Jungen erzählt, der sich in einer bekannten Supermarkt-Kette eine Cherry Cola kauft und er ihn an seine Version eines Parzifal erinnert, dann bedarf es schon etwas Spitzfindigkeit und Textsicherheit, um den dazugehörigen Tocotronic-Song aufzuspüren (Es ist übrigens Zucker vom Roten Album!).

Eine Universalpoesie seiner Gegenwart

Dieses Suchen nach Song-Verweisen ist eine Facette, die Aus dem Dachsbau lesenswert macht. Eine andere Lesart ergibt sich, wenn man auf die Leitmotive der Texte achtet, die die zunächst unzusammenhängenden Texte zu einem größeren Bild verweben. Die zitierte Routine beim Schreiben von Songs beispielsweise lässt sich dem immer wiederkehrenden Thema der Ruhe- und Rastlosigkeit zuordnen, die von Lowtzow immer wieder beschreibt. Schon das Aufdröseln des Anagramms ABBA zum Schluss des ersten gleichnamigen Kapitels könnte als textimmanenter Hinweis auf die ständige Wiederholung einiger Motive und ihrer überzeitlichen Funktion gelesen werden: Da gibt es die Wild- und Waldtiere, die als Begleiter und teilweise imaginierte Gesprächspartner in verschiedenen Kapiteln auftauchen oder Häfen und Bahnhöfe als Orte des Aufbruchs und Nie-Ankommens. Diese Schauplätze fügen sich in die Schilderungen eines zerrissenen und rastlosen Ichs ein, das sich in ständigen Ausfluchtversuchen aus der Realität befindet, die mit grenzüberschreitenden Alltagsbeobachtungen aus der Sicht eines Flaneurs einhergehen. All diese Aspekte und Themen stehen in der Tradition diverser Künstler-Topoi des 19. Jahrhunderts.

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Dirk von Lowtzow
Aus dem Dachsbau

Kiepenheuer&Witsch: Köln 2019
192 Seiten, 20,00€

Eine literaturwissenschaftliche Lesebrille drängt sich förmlich durch die verhandelten Themen und auch die Form des Buchs auf, das neben Prosa auch Lyrik und vom Autor angefertigte Skizzen und Fotografien enthält. Dieses Verbinden verschiedener Gattungen und der im Buch zitierten Literatur, den Filmen und der Musik erinnert doch sehr an das romantische Diktum der Universalpoesie – umso expliziter wird dieser Gedanke, wenn von Lowtzow die Schilderung seines Irrwegs durch Wien mit folgenden Worten schließt:

In der Nachmittagsvorstellung läuft ein Film, der von einer Expedition am Amazonas handelt und von einer Zauberpflanze, die das Universum heilen kann […] Alles hängt mit allem zusammen, denke ich, und schlafe im Kino ein.

Dirk von Lowtzow schlüpft in die Rolle eines Geschichtenerzählers, der den Alltag poetisiert und einmal mehr die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lässt.

Einladung in den Dachsbau

Nun ist es aber nicht so, dass das Versinken in den Geschichten Aus dem Dachsbau nur  Fans von Tocotronic und literaturwissenschaftlich versierten Leser*innen vorbehalten ist. Diese Fährtensuche bereitet zwar großen Spaß, aber das Buch bietet auch Unvoreingenommenen kurzweilige Lebensgeschichten, die auf wenigen Buchseiten eine hohe erzählerische Dichte aufweisen. In kurzen Episoden schildert der Erzähler seine teils traurige und verzweifelte, aber ebenso skurrile und amüsierende Sicht auf das Leben. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, wird bei der Lektüre auch erfahren, warum er*sie sich ausgerechnet in den Dachsbau entführen lässt und wird sich sicherlich gerne gemeinsam mit Dirk von Lowtzow in zeitlichen Spiralen durch seine Welt drehen.

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