Risse in der Scheinheiligkeit

Die Graphic Novel Hand aufs Herz basierend auf dem Buch Sexe et Mensonges. La vie sexuelle au Maroc von Leïla Slimani erzählt von Lebensausschnitten verschiedener marokkanischer Frauen. Das Buch widmet sich der Sexualität der Marokkanerinnen und ihrem schwierigen Emanzipationsweg.

Von Wenfei Jia

Bild: by olafpicture via pixabay, pixabay lizenz. Panels im Text mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.

Leïla Slimani, französisch-marokkanische Schriftstellerin, Journalistin und Feministin, hat mit Marokkanerinnen gesprochen, die unter der strengen Sexualmoral einer mehrheitlich konservativ-religiösen Gesellschaft leiden. Hieraus entstand das Essay Sexe et Mensonges. La vie sexuelle au Maroc, das von Kerstin Behre ins Deutsche übertragen wurde und das die Illustratorin Laetitia Coryn jetzt mit eindrucksvollen Zeichnungen zu einer Graphic Novel verarbeitet hat. Hier werden den anonymen Frauen der Geschichten Gesichter und Gestalten verliehen.

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Leïla Slimani und Laetitia Coryn
Hand aufs Herz

aus dem Französischen von Kerstin Behre
Avant-Verlag: 2018
108 Seiten, 25 €

Die Graphic Novel erzählt in einzelnen Episoden aus dem Alltag verschiedener Frauen. Es geht um die Hoffnung auf Freiheit und den Kampf mit der eigenen Kultur. Die Marokkanerinnen fühlen sich der patriarchalischen Gesellschaft ausgeliefert und können ihr eigenes Schicksal kaum beeinflussen. Die Frauen, denen Slimani auf ihrer Marokkoreise begegnet, erkennen Lügen und Scheinheiligkeiten in der vorherrschenden Sexualmoral. Sie erzählen der Autorin, wie extremer Konservativismus und sexuelle Gewalt ihnen auf unterschiedliche Weise zugesetzt haben. Unter dem Schein einer tugendhaften Gesellschaft liegen die Schmerzen und Enttäuschungen unzähliger Frauen verborgen.

Schattendasein der Frauen

Die Marokkanerinnen in den Geschichten leiden besonders unter Schamgefühlen bezüglich ihres eigenen Körpers, die ihnen seit der Kindheit eingeredet werden. Eine Frau ohne Jungfernhaut droht als Schande und wertlos abgetan zu werden, was besonders diejenigen Frauen hilflos zurücklässt und isoliert, die vergewaltigt oder belästigt worden sind. Das alles befördert das Schweigen der Opfer und somit erneute Vergewaltigungen – ein Teufelskreis. Außerehelicher Sex ist rechtswidrig. Zugleich leiden aber viele Frauen unter Gewalt und Vergewaltigung innerhalb der Ehe. Schwangere Frauen, die ledig sind, müssen illegale Abtreibungen mit hohen Kosten und gesundheitlichen Risiken auf sich nehmen. Dabei besteht immer die Gefahr, denunziert zu werden.

In keiner der erzählten Lebensgeschichten werden die Frauen als freie Individuen behandelt. Sie gehören zu einem Mann oder ihrer Familie. Als sexuelle Objekte droht ihnen das Risiko der »moralischen Schande«. Trägt eine dieser Frauen kein Kopftuch, gilt sie als unanständig und damit einverstanden, dass fremde Männer sie berühren. So können Frauen aus der Öffentlichkeit in ein Schattendasein gedrängt werden.

Die Graphic Novel skizziert realistisch die Lebenssituationen der Marokkanerinnen und befasst sich in diesem Zuge auch mit der Macht von Religion. Sie thematisiert die gesellschaftlichen Debatten zum Thema Sexualität in Marokko, die von feministischen Aktivist*innen angeregt werden, um die sexuelle Unterdrückung und den gesellschaftlichen Unterlegenheitsstatus der Frauen zu beenden. Besonders ein Satz taucht in solchen Debatten immer wieder wie eine eiserne Regel auf: »Das steht im Koran«. Slimani spricht mit einer Theologin, die sich seit langem für einen gemäßigten Islam in Marokko einsetzt. Ihr zufolge wird die muslimische Religion in diesem Land als eine Sittenstrenge und rigide Moral aufgefasst. Sie bedeute insbesondere für Frauen eher Angst als Geborgenheit. Als Beispiel nennt die Theologin ihren Austausch mit internationalen Forschenden:

Sie (die amerikanischen Forscherinnen) haben mir erzählt, dass eine von ihnen eine Seminararbeit zum Thema »Was bedeutet die Religion für Sie, in ein, zwei Worten« aufgegeben hat. Die Mehrheit der jungen Frauen haben darauf geantwortet: »Angst«.

© Leïla Slimani/Laetitia Coryn Avant-Verlag

Aus den Befragungen entsteht der Eindruck eines der Religion inhärenten Problems, weil diese den Menschen Zwang statt Zuversicht vermittelt. Doch die Theologin vertritt eine andere Meinung und weist auf die Instrumentalisierung der Religion hin. Während in den frühen Zeiten des Islam Sex alles andere als verwerflich war, wird heutzutage die Religion in Marokko missbraucht, um patriarchale Interessen zu verfolgen. Dabei wird der Koran um der Macht willen subjektiv und willkürlich interpretiert. Infolgedessen wird der Körper der Frau von Männern konstruierten Zwängen unterworfen und ihre Tugend zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht.

Die Frauen in Marokko werden einem »moralischen« Kulturbild geopfert und unfreiwillig zu einem Garant für nationale Identität gemacht. An dieser Stelle lohnt sich die Frage: Wenn in Marokko der Genuss, die Lust und das Verlangen abgelehnt und verteufelt werden, wie kommen dann die Männer in ihrem Intimleben zurecht? Die Graphic Novel macht deutlich: Beide Geschlechter leiden unter der Sexualmoral.

Man stellt eine Frau auf ein künstliches Podest und behandelt sie wie ein Juwel, das vor den begierigen Blicken anderer Männer beschützt werden muss. Aber die Frage ist, welches Bild haben die Männer von sich selbst?

Laut Leïla Slimani steht das marokkanische Männerbild in einem Zwiespalt zwischen einer drohenden und einer schützenden Gebärde. Besonders in der heutigen marokkanischen Gesellschaft geraten viele Männer wegen dieser innerlichen Diskrepanz in tiefe Verwirrung. Durch das Hinterfragen erlernter Muster fürchten sie nicht nur einen Verlust ihrer Macht, sondern zudem ihrer Identität. Eine hoffnungsvolle Zukunft

Hand aufs Herz bietet ein tiefgründiges Leseerlebnis, wozu auch die Form der Graphic Novel beiträgt. Im ersten Augenblick scheint die Graphic Novel das falsche Medium zu sein, da die wunderschöne Landschaft und das charmante Kulturmilieu des Landes nicht mit den Grausamkeiten der Geschichten zusammenzupassen scheinen. Doch gerade hier entsteht der Reiz eines Widerspruchs, der uns auch unter schlimmen Umständen an die Schönheit erinnert.

© Leïla Slimani/Laetitia Coryn Avant-Verlag

Vor den Marokkanerinnen scheint noch ein langer Weg zu liegen, ehe ihre Emanzipation und eine Befreiung der Worte erreicht sind – doch es gibt Hoffnung. Durch die Zeichnungen und Bilder sehen wir eine zauberhafte Kultur, die vor religiös legitimierten Missbrauch geschützt werden sollte, und ein hoffnungsvolles Land mit unterschiedlichen Menschen, die an Gerechtigkeit glauben und dafür kämpfen. Wir sehen auch die begeisternde Tapferkeit der marokkanischen Frauen, die trotz aller Schwierigkeiten die eigenen Rechte verteidigen, um ihrem Ziel näher zu kommen. Man fühlt ihren Schmerz und bekommt dank ihres Mutes eine herzliche Hoffnung, dass die Frauen in Marokko und überall auf der Welt eines Tages ihre Sexualität würdig und sicher ausleben und alle ihre Möglichkeiten frei entfalten können.

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