Suche nach der Vergangenheit

Mit ihrer Graphic Novel Der Duft der Kiefern: Meine Familie und ihre Geheimnisse erzählt die Berliner Autorin Bianca Schaalburg nicht nur die Geschichte ihrer deutschen Familie in der NS-Zeit, sondern macht gleichzeitig die unvorstellbare Vergangenheit für ein jüngeres Publikum zugänglich.

Von Malin Friese

Bild: Via Pixabay, CC0

Triggerwarnung: Genozid

Inzwischen sind fast neunzig Jahre vergangen, seitdem der Nationalsozialismus seinen Anfang nahm. Über die damalige Zeit wurden bereits viele Bücher geschrieben, die versuchen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Dabei werfen die nachfolgenden Generationen immer wieder die Frage auf, wie viel die Menschen damals wirklich wussten. Auch Bianca Schaalburg stellt sich diese Frage, denn ihre Großeltern heirateten 1933. In ihrer Graphic Novel Der Duft der Kiefern: Meine Familie und ihre Geheimnisse arbeitet die Berliner Autorin ihre eigene Familiengeschichte auf – doch nicht für sich selbst, sondern für ihre Kinder.

Denn ihr seid das Leben. Und ihr seid die Hoffnung.

So beginnt die Zeitreise durch die Vergangenheit. Die Protagonistin Bianca, die gleichzeitig die Ich-Erzählerin ist, erbt im Jahr 2004 die Schlafzimmermöbel ihrer Oma Else und stellt sich dabei die Frage: »Wie war das, diese Kindheit unter den Nazis?« Da weder ihre Großmutter noch ihre Mutter viel über diese Zeit geredet haben, muss sie nun selbst nach der Wahrheit suchen.

Wir. Wussten. Von. Nichts.

Ein Erlebnis aus Biancas Kindheit markiert einen wichtigen Startpunkt für ihre Suche nach der Wahrheit. Als sie ihre Oma Else nach den verschleppten Juden und Jüdinnen fragt, behauptet Else entschieden, dass sie von nichts wusste. Eine Behauptung, die man schon unzählige Male gehört hat. Doch Bianca entdeckt 2018 die Namen von drei Juden, die damals im gleichen Haus wie ihre Großeltern lebten, bis sie verschwanden. So versucht die Protagonistin, mehr über diese drei Unbekannten herauszufinden und nach einer Verbindung zu ihrer Familiengeschichte zu suchen.

Damit beginnt die Suche nach der Vergangenheit, die sich als gar nicht so einfach herausstellt. Von 2004 springt die Geschichte in das Jahr 1974, als die kleine Bianca ihre Oma Else besucht und den vertrauten Duft der Kiefern vor ihrem Haus wahrnimmt. Von dort geht es weiter zurück in das Jahr 1939, als Biancas Mutter geboren wird. Schließlich springt die Geschichte in das Jahr 2018, als Bianca ein altes Foto ihres Großvaters findet, das unangenehme Fragen aufwirft.

Trotz der vielen Zeitsprünge sind die Übergänge zwischen den Jahren nachvollziehbar und durch verschiedene Farben kenntlich gemacht. Die Zeichnungen der 2000er-Jahre in Lila- und Blautönen unterscheiden sich von den Bildern der Vergangenheit in Orange- und Brauntönen, sodass man die Orientierung behält. Beeindruckend sind die aussagekräftigen Close-Ups, die einen emotionalen Einblick in die Charaktere ermöglichen.

Eine Reise durch die Zeit

Genauso wie die Berliner Autorin nach Informationen über ihre Familie suchen musste, begibt sich die Protagonistin Bianca auf eine detektivische Suche. Es wird nicht nur gezeigt, was Bianca über ihre Familie herausfindet, sondern auch, wie sie an Informationen gelangt. Die vielen Zeitsprünge verdeutlichen, dass sie viele Jahre für die Suche nach der Wahrheit braucht. Bianca muss durch Deutschland reisen und in Archiven nachforschen, um die Geheimnisse ihrer Familie aufzudecken. 

Bianca Schaalburg setzt immer wieder friedliche Familiensituationen mit den Grausamkeiten der damaligen Zeit in Kontrast. Beispielsweise wird auf derselben Seite beschrieben, wie Else mit ihren Kindern im Wald spazieren geht, wo kurze Zeit später Soldaten massenweise Juden und Jüdinnen erschießen. Solche Kontraste verdeutlichen umso mehr, wie schrecklich die Gräueltaten der Judenverfolgung waren. Kurze Hauptsätze beschreiben distanziert, was damals passiert ist, ohne irgendetwas zu beschönigen oder zu verharmlosen.

Die unvorstellbaren Verbrechen der NS-Zeit und die harte Realität des Zweiten Weltkrieges werden vor allem durch die Zeichnungen deutlich gemacht. In Verbindung zu dem Buchtitel Der Duft der Kiefern zeigt die Berliner Autorin auf einem Bild durch heruntergefallene Kiefernzapfen metaphorisch, wie viele Juden bereits 1939 den Massakern zum Opfer gefallen waren. Ein anderes Bild kontrastiert die Hungersnot des Krieges 1946 mit einem überfüllten Kühlschrank 1979.

Gegen das Vergessen

Die Realität der damaligen Zeit wird allerdings nicht ausführlich oder übertrieben dargestellt, sondern nur informativ erwähnt oder angedeutet. Fußnoten geben zusätzliche Erklärungen zu bestimmten Organisationen oder Jahreszahlen, sodass die Geschichte besonders für ein jüngeres Publikum zugänglich gemacht wird. Damit wendet sich die Berliner Autorin an die Enkel:innen und Urenkel:innen und sogar Ururenkel:innen, die die Vergangenheit nicht vergessen sollen, nur weil alles schon neunzig Jahre zurückliegt.

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Bianca Schaalburg
Der Duft der Kiefern

avant-verlag: Berlin 2021
208 Seiten, 26,00€

Aus diesem Grund gewann Bianca Schaalburg 2022 für ihre Graphic Novel den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Sachbuch. Die Jury begründet: »Doch ist ihre autobiografische Spurensuche weit mehr als ein Stück persönlicher Erinnerung oder Aufarbeitung – sie ist ein Beitrag gegen das Vergessen, eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.«

Trotzdem macht Schaalburg in Der Duft der Kiefern deutlich, dass man nicht alles über die Vergangenheit herausfinden kann. Die Geschichte der drei verschleppten Juden bleibt unbekannt und sie erfährt auch nicht, was ihr Großvater Heinrich damals in Riga gemacht hat. Doch es geht gar nicht darum, alle Antworten zu finden oder alle Geheimnisse aufzudecken. Vielmehr geht es darum, sich nach wie vor mit der schwierigen Vergangenheit auseinanderzusetzen und diejenigen nicht zu vergessen, deren Stimmen damals nicht gehört wurden.

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