Der Stuckiman-Herbst

Wohl kaum ein*e Autor*in hält Lesungen wie Benjamin von Stuckrad-Barre, welcher sich mit seiner Herangehensweise in der Tradition des Göttinger Literaturherbsts sieht. Ein Bericht über eine Lesung, eine Comedyshow, ein Popkonzert und einen Nachruf auf Christoph Reisner.

Von Frederik Eicks

Bild: Herbstblätter von bluemorphos via pixabay CC0

Es ist Donnerstag, der 22. November, kurz nach acht und die letzten Gäste betreten den kleineren, abgetrennten Bereich der Lokhalle, um der vom Literarischen Zentrum und dem Göttinger Literaturherbst veranstalteten Lesung beizuwohnen. Allmählich wird das helle Licht der Deckenbeleuchtung gedimmt, die Strahler zuseiten des Publikums tauchen den Saal in ein beinahe unheimliches Blau. Dann setzt Musik ein: Ein Mann singt »Ich könnte gerne Photosynthese«, völlig unvermittelt wechselt das Lied, man hört einen Mädchenchor – Wechsel, das ist doch Marteria! – und sogar zweimal erklingt Lil Pump: Gucci Gang, Gucci Gang, Gucci Gang.

Die Musik verstummt und eine tiefe Männerstimme spricht bedeutungsschwanger die zwei Worte, welche ein Projektor bereits seit geraumer Zeit auf die in mehreren Metern Höhe hinter der Bühne aufgehängten Leinwand wirft: REMIX 3. Dann setzt erneut Musik ein und der Mann, dessen offizieller Künstlername inklusive Vermerk auf dem Personalausweis tatsächlich ›Stuckimann‹ lautet, läuft von links die kleine Treppe zur Bühne hinauf, breitet die Arme aus und verbeugt sich, während ihm aus dem Publikum lauter Applaus entgegenschallt. Hat da etwa jemand »Benjamin, ich will ein Kind von dir!« gerufen?

Stuckrad-Barre nimmt hinter dem Mikrofon Platz und zündet sich die erste Zigarette an. Schnell gewinnt er die Göttinger für sich: Er erzählt aus seiner Zeit in der Stadt, erwähnt das Trou und andere Lokalitäten, beschwert sich über die Inexistenz einer mit seinem Namen versehenen Plakette – weder am Max-Planck-Gymnasium, noch am Haus, in welchem er damals wohnte – und abgesehen vom immergleichen Baumkuchen bei Cron & Lanz, gäbe es ja auch noch keine Statue. Somit sind die zwei wichtigsten Themenfelder dieses Abends abgesteckt: Benjamin von Stuckrad-Barre und, ja wirklich, Göttingen.

»Ich mach jetzt hier mal weiter…«

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Info

Vom 12.-21. Oktober fand der 27. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlichte Litlog in der Woche vom 22.-28. Oktober jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Der Abschluss des Herbst wurde dieses Jahr in den November verschleppt. Der Stuckiman-Herbst wird hiermit auch bei uns nachgetragen.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick.   

Stuckrad-Barre raucht bereits Zigarette Nummer drei (oder vier?), als er aus seinem Buch Nüchtern am Weltnichtrauchertag (2016) zu lesen beginnt. Er unterbricht sich häufig, was wiederum zum Anstecken der nächsten Kippe führt, und erzählt abschweifende Anekdoten, fragt ins Publikum, dessen Schweigen er mit der Frage »Habt ihr alle einen Schlaganfall?« angreift, um der ersten hereinrufenden Person wie aus der Pistole geschossen zu entgegnen: »Du bist der, von dem ich am wenigsten wissen will.« Die Arbeit mit den Hörer*innen und die zahlreichen Gags sorgen für eine lockere Atmosphäre, führen jedoch auch vom Inhalt des Textes weg, dessen Thema die Abstinenz des ehemals suchtkranken Autors von sämtlichen zuvor missbrauchten Substanzen ist. Der Autor bestimmt den Fokus dieser Lesung und er liegt zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht auf Ernsthaftigkeit. Im Text ist unter anderem die Rede von einer »kurzen Erklärung« für die Abstinenz, was Stuckrad-Barre für einen Einschub nutzt, welcher noch kalkulierter wirkt als die übrigen: »Die lange Erklärung hat 576 Seiten und ist jetzt auch als Taschenbuch erhältlich.« Währenddessen hält er seinen autobiographischen Roman und Bestseller Panikherz (2016) in die Höhe. Die Zuhörerschaft lacht kurz auf, vielleicht weil sich dieser Reflex im bisherigen Verlauf als der im Zweifelsfall richtige bewährt hat, doch einigen scheint auch bewusst zu werden, dass Stuckrad-Barre nicht nur hier ist, um ein paar Lacher zu ernten.

Erst nach einer Stunde folgt die Erzählung Tattoos aus seinem neuesten, der Lesung ihren Titel verleihenden Buch, dessen vollständiger Name Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinglegen: Remix 3 (2018) lautet. Dieses Buch stellt eine Sammlung verschiedener Texte wie Reportagen, Kurzgeschichten und Zeitungsartikel dar, welche überwiegend älter sind und für diese Publikation mitunter überarbeitet wurden – wie schon der Buchtitel suggeriert. In der gelesenen Kurzgeschichte wird eine Tattoo-Session des Autors und seiner damaligen Partnerin geschildert, welche sich statt Eheringen die ersten beiden Buchstaben ihrer Vornamen um den Ringfinger der linken Hand tätowieren lassen, »weil links das Herz ist«. Bis auf eine kurze Anmerkung bezüglich des von ihm verwendeten Zitats aus Brechts Gedicht Erinnerung an die Marie A. liest Stuckrad-Barre ohne Unterbrechungen und gänzlich ohne vorangehenden oder nachfolgenden Kommentar zum Inhalt des Textes. Dieser soll für sich sprechen und er tut es.

»I just want you back for good«

Das Anzünden der nächsten Zigarette läutet den Beginn einer weiteren Anekdote ein, welche diesmal von Göttingen bzw. vom Göttinger Literaturherbst und dessen im Jahre 2014 verstorbenen Begründer handelt: »Ohne Christoph hätte es das nicht gegeben.« Gemeint ist Stuckrad-Barres erstes Buch Soloalbum (1998) und in dieser Folge auch alle weiteren Bücher von ihm. Stuckrad-Barre betont, er sei von der Idee des Literaturherbsts als Literaturfestival fasziniert gewesen: »Das funktionierte nach der Logik und Ästhetik von Popkonzerten.« In dieser Hinsicht ist Christoph Reisners Einfluss unverkennbar, da man an diesem Abend genau das geboten bekommt, was in diesem Satz zum Ausdruck kommt. Er ist der Schlüssel, mit welchem sich die einzelnen Teile des bisher Gesehenen und Gehörten sowie der Eindrücke, die noch folgen werden, zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenfügen lassen. So wirkt es nicht befremdlich, sondern tatsächlich wie eine logische Konsequenz, dass Stuckrad-Barre zunächst einen Text im Gedenken an Reisner liest, anschließend zum gemeinsamen Mitsingen bei Take Thats Back For Good auffordert und »Alle Handys!« in den Saal hineinruft.

Christoph Reisner beeinflusste laut Stuckrad-Barre nicht nur dessen Verständnis von Lesungen, sondern er ermöglichte ihm auch seine erste Lesung, welche im Rahmen des Göttinger Literaturherbsts stattfand und zusammen mit Christian Kracht gehalten wurde. Den drogeninduzierten, wilden Verlauf hielt Stuckrad-Barre später in seinem Buch Livealbum (1999) fest, aus welchem er nun liest. Dieser Text bildet das Bindeglied zwischen der ernsten, geradezu feierlichen Absicht und der vom Autor zu allen sonstigen Zeitpunkten angestrebten Heiterkeit im Saal: Er ermöglicht es Stuckrad-Barre, seines verstorbenen Freundes zu gedenken und trotzdem bricht das Publikum alle paar Minuten in Gelächter aus. In dieser Balance kann man auch Take That singen – irgendwie lächerlich und ein bisschen bescheuert, doch gleichzeitig rührend.

»Kriegen wir noch ein Robbie-Lied zusammen hin?«

Stuckrad-Barres letzter Text an diesem Abend stammt wieder aus Remix 3 und heißt Madonna live in L.A. – mit dem einzigen Unterschied, dass der Autor den Namen ›Madonna‹ während des Lesens konsequent durch ›Annegret Kramp-Karrenbauer‹, wahlweise auch AKK (mit englischer Aussprache) oder Krampi, ersetzt. Da ergäben sich dann, laut Stuckrad-Barre, einige lustige Verschränkungen. Etwas möglichst selbstbewusst zu behaupten, reicht bisweilen aus, um andere Menschen von dieser Aussage zu überzeugen und ein ähnlicher Prozess scheint sich auch hier zu vollziehen. Das Publikum lacht bei nahezu jeder Erwähnung Kramp-Karrenbauers, zum Beispiel wenn »auf ihren Körper reduzierte« Männer um sie herumtanzen. Hört man allerdings hin, statt unhinterfragt Stuckrad-Barres indirektes Kommando zu befolgen, bemerkt man, dass sich der Witz spätestens nach dem dritten oder vierten Mal abnutzt. Abseits davon bleibt nichts von dem Text übrig, sodass man sich fragt: Was genau sollte das eigentlich?

Um diesen Abend gebührend abzuschließen, fordert Stuckrad-Barre erneut zum Mitsingen auf, woraufhin aus den Lautsprechern eine Live-Aufnahme von Robbie Williams‘ Angels tönt. Aus den Taschen werden wieder die Handy-Lichter gekramt, gesungen wird ebenfalls und schließlich springt der Autor von der Bühne, läuft einmal den Mittelgang zwischen den Stuhlreihen hoch und runter, der Applaus der Live-Aufnahme vermischt sich mit dem Applaus und den Rufen des realen Publikums und Stuckiman verschwindet hinter der Bühne. Keine Zugabe – wie angekündigt.

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