Ich, ein immer anderer

Ein tragikomischer, absurder, existenziell-philosophische Fragen berührender Roman: Das ist Gstaad von Arnon Grünberg. Beim Literaturherbst stellt der niederländische Autor sein nun erstmals auf Deutsch übersetztes Werk im Gespräch mit Julia Franck vor. Die beiden verstehen sich – es wird ein feinfühliger, tiefsinniger, dabei durchaus auch humorvoller Abend.

Von Svenja Brand

Bild: Svenja Brand

Schon als Arnon Grünberg und Julia Franck gemeinsam auf dem Podium im Alten Rathaus Platz nehmen, wird deutlich: Hier verstehen und schätzen sich zwei. »Wir kennen uns seit 2007 oder 2008«, erklärt Grünberg dem Publikum. Dass sie zusammen beim Literaturherbst auftreten, liegt an Grünbergs Roman Gstaad. Der ist vor Kurzem – schön und aufwändig gestaltet – im Aufbau Verlag in der Reihe der Anderen Bibliothek erschienen, und die gibt Franck seit Juli 2023 gemeinsam mit Rainer Wieland heraus. 

Das Buch selbst ist schon deutlich älter. 2002 erschien es als Gstaad 95–98 im niederländischen De Geus Verlag. Der Autor: ein gewisser Marek van der Jagt. Unter diesem Pseudonym hat Grünberg mehrere (preisgekrönte) Werke veröffentlicht. Später aus dem Publikum nach Gründen für die Alibi-Identität gefragt, gibt Grünberg an, dass es dabei um Selbstbefreiung gegangen sei. Er habe sehen wollen, welche Reaktionen ein Buch von einem bekannten Erfolgsautor hervorruft, von dem aber niemand weiß, dass es dieser Erfolgsautor geschrieben hat. Als er seinen 21 Jahre zuvor veröffentlichten Roman vor dessen Erscheinen in der Anderen Bibliothek neu gelesen habe, sei er überrascht gewesen: Es sei gewesen, als hätte das Buch eine ganz andere Person geschrieben. Die ironische Distanz zum eigenen Ich und das Spiel mit (der eigenen) Identität ziehen sich durch den ganzen Abend. Und führen mitten hinein in Grünbergs Roman.

Leben in einem Hotel

Dessen Hauptfigur ist der Hochstapler François Lepeltier. Er ändert im Lauf der Geschichte seinen Namen, seinen Beruf, seine Geschichte, wie Franck resümiert, erfindet so seine Identität immer wieder neu, verstrickt sich in Schuld und Sünde, in Liebe, grotesker Lust und der Gier nach Leben. Der Dreh- und Angelpunkt seiner Welt ist die Mutter Mathilde, zum Zeitpunkt von François’ Geburt selbst gerade einmal neunzehn Jahre alt. Als Zimmermädchen erleichtert sie die Hotelgäste um deren Habseligkeiten und gebraucht bei ihren Diebstählen ihren kleinen Sohn als Alibi. So wächst dieser in einer Hotelwelt auf­, die für die meisten Menschen dadurch charakterisiert ist, dass man sich in ihr nicht dauerhaft aufhält. Leben in einem anonymen Umfeld, Leben wie in einem Zustand dauernder Durchreise.

Von Franck nach literarischen Vorbildern, nach Philip Roth und Günter Grass gefragt, antwortet Grünberg: »Ich muss ehrlich sagen: Ich habe Joseph Roth lieber als Philip Roth«. Nicht nur, weil er dessen Humor und Absurdität, Witz und Tragik schätze, sondern auch, weil Joseph Roth sich selbst als »Hotelmensch« bezeichnet habe. »Hotels spielen in diesem Roman eine wichtige Rolle, aber auch in meinem Leben«. Grünberg habe selbst viel Zeit in Hotels verbracht und eine Zeit lang davon geträumt, wie Nabokov in einem Hotel zu leben: »Aber ich glaube, das wird zu teuer für mich.«

Fluide Identitäten

Das Konzept ›Zu Hause‹ sei für ihn, der seit 1995 in New York lebt, »etwas Fließendes«. Auf Francks Frage hin, ob er sich als Nomade oder eher als Kosmopolit verstehe, schließt Grünberg beides aus, und auch der Begriff ›Weltenbürger‹ sei ihm zu arrogant. Die Idee eines in New York lebenden Europäers gefalle ihm. Und dann schließt er »noch etwas Witziges« an:

Seit einiger Zeit habe er eine Greencard. Durch die Beantragung eines amerikanischen Reisepasses und die restriktiven niederländischen Gesetze in der Frage doppelter Nationalitäten werde er seinen holländischen Reisepass verlieren. »Aber ich will auch Europäer bleiben, und weil meine Eltern beide ja in Deutschland geboren sind, werde ich dann Deutscher«. Was lakonisch formuliert ist und das Publikum erheitert, führt durchaus zu einem zentralen Punkt im Schreiben und Leben Grünbergs: zu der Frage danach, wer man eigentlich ist. Die Antwort bleibt in diesem Moment bezeichnenderweise offen: »Dann bin ich ein, ein, ein –.« Kurz darauf fährt er fort: »Und ich finde das auch irgendwie gerecht und ironisch, dass ich mit einem deutschen Reisepass dann in New York lebe.« Übrigens hätte er auch seinen Namen ganz einfach ändern können. Bei seiner Einbürgerung sei er gefragt worden: »Und wie willst Du jetzt heißen?« Er hätte also sagen können, »jetzt bin ich Stamm, oder Schmidt, oder wer auch immer – Franck! Das wäre gar kein Problem gewesen.«

Auch später kreist das dichte Gespräch noch einmal um das Thema Identität: Von einem Psychiater habe er folgende Idee mitgenommen: Ein normaler Mensch (so fraglich das Konzept von ›Normalität‹ sei) spiele unterschiedliche Rollen, je nachdem, wo und mit wem er zusammen sei. Ein seelisch kranker Mensch sei oft an allen Orten genau derselbe. Für Grünberg bedeutet das, »dass Normalität auch darin besteht, dass man mit der eigenen Identität spielen kann, dass man eine spielerische Beziehung hat, zu wer man ist. Und ich glaube, das Spielerische, das Spiel ist für mich auch unheimlich wichtig …, nicht nur beim Schreiben, aber beim Leben, im Sein. … Man ist auch nie fertig, man kann nicht sagen: ›Das bin ich.‹«

Ein Mutterbuch. Oder: Liebe als Fieber

Intensiv wird der Austausch zwischen Grünberg und Franck, als diese Grünbergs Buch als ›Mutterbuch‹ einordnet, bezugnehmend auf François’ bedingungslose Liebe zu seiner Mutter, die wenig Mütterlich-Fürsorgliches an sich hat, und mit der François tief verbunden ist. Der Protagonist bezeichnet sich als krank, beschreibt seine Krankheit im Buch als »Fieber«. Grünberg beschreibt dieses Fieber als eine Form von Liebe, eine Liebe, die auch alle erlebten Misshandlungen nur als Teil von Liebe verstehen könne. Von Grünberg nach der Gleichsetzung von Liebe und Fieber gefragt, stimmt Franck zu: Sie kenne wenige Formen von Liebe, die sich nicht warm oder heiß, fiebrig anfühlten. Lau wäre vielleicht der Normalzustand ohne Verliebtheit. »Lau ist, wenn man einer Bekannten begegnet«, entgegnet Grünberg und erntet einige Lacher aus dem Publikum.

Die Misshandlungen, die François’, aber auch seiner Mutter widerfahren, werden im Roman nie als solche benannt, sie werden gleichsam objektiv und »im Plauderton«, wie Franck meint, von der Hauptfigur berichtet. Das irritiere beim Lesen und damit seien die Leser:innen auf sich selbst und ihren eigenen moralischen Kompass verwiesen. Was ist gut, was ist böse? Genau diese Fragen aber soll ein Buch im Lesenden hervorrufen, findet Grünberg, das sei eine Aufgabe von Literatur. Und er ist überzeugt, dass die Leser:innen diese Aufgabe meistern können: »Ich traue dem Kompass der Leser sehr.«

Daniel Kehlmanns Angst – und ein Katzenhai

Die Vorstellung von Gstaad macht auf jeden Fall Lust auf das Buch – und gleichzeitig schreckt man vor den anklingenden Derbheiten und angedeuteten Abstrusitäten auch zurück. Wie Daniel Kehlmann: »Ich habe vor Grünberg Angst. Ich versuche dagegen anzukämpfen, aber vergeblich.« – Das Zitat, auf das schon Gesa Husemann (Literarisches Zentrum / Festivalorganisation des Literaturherbstes) in ihrer Anmoderation eingeht und auf das auch Franck zurückkommt, begleitet Gstaad. Franck will von Grünberg wissen, warum Kehlmann Angst vor ihm habe. Grünberg meint, Kehlmann kenne ihn im Alltag ganz anders als in seinen Büchern: höflich und nett. Beim Schreiben würden andere Gesetze gelten. Ein zu höflicher Schriftsteller sei ein schlechter Schriftsteller. Der Gegensatz habe Kehlmann anscheinend Angst gemacht. Er habe das aber als Kompliment aufgefasst, schmunzelt er, denn Angst sei immer auch Ausdruck einer Faszination. Seinem zweieinhalbjährigen Kind lese er Da bin ich von Friedrich Karl Waechter vor: ein Buch über einen Katzenhai, der Katzen frisst. Sein Sohn habe Angst vor dem Katzenhai, wolle zugleich aber immer wieder dieses Buch vorgelesen bekommen. Angst führe eben auch dazu, etwas besonders zu begehren.

Julia Franck ist eine fantastische Zuhörerin und Gesprächspartnerin mit durchdachten, tiefgehenden Fragen, die sie ruhig und unaufdringlich stellt. Unprätentiös, mit Bedacht und nicht unironisch spricht der Autor über seinen Roman. Der Abend scheint fast zu eng für die Fülle an Gedanken, die Grünberg und Franck austauschen. Er ist eine Einladung, der Welt und Sicht von François Lepeltier zu begegnen, Vorstellungen über Sünde und Liebe, Schuld und Lust, Angst und Begehren und die Grenzen eigener Moralvorstellungen auszuloten. Und das ist eine Einladung, der man nach den Eindrücken bei diesem Literaturherbstabend unbedingt folgen sollte.

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