Der andere in Weimar

Wie erfindet man die Literatur eines ganzen Sprachraums? Um diese Frage dreht sich das Gespräch zwischen Jan Philipp Reemtsma und Gerhard Lauer am finalen Wochenende des Literaturherbstes. Präziser ließe sich aber wohl formulieren: Wer ›erfindet‹ eigentlich die Literatur eines ganzen Sprachraums? Die vielleicht auf den ersten Blick überraschende Antwort auf diese Frage lautet: Christoph Martin Wieland.

Von Sarah von Hagen

Foto: Sarah von Hagen

Reemtsma ist Wieland-Experte: Bereits 1993 promovierte der Professor für Neuere deutsche Literatur über den Dichter, und es ist maßgeblich seinem Engagement zu verdanken, dass das Wielandgut in Oßmanstedt bei Weimar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, wie Lauer an diesem Abend mehrmals betont. Die zuletzt von Reemtsma vorgelegte umfangreiche (Werk-)Biographie Wielands ist folglich nur ein Element seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Schriftsteller. Doch ein zentrales, wurde der Band doch zuletzt von Martin Oehlen in der Frankfurter Rundschau als eine »literaturhistorische Großtat« gewürdigt.

Nicht nur sein umfangreiches Wissen über Person, Werk und Charakteristika zeugen von Reemtsmas langjähriger Beschäftigung mit Wieland; sie drückt sich auch in der Art und Weise aus, wie er über ihn spricht: Beinahe wie einen alten Freund beschreibt er den Schriftsteller und Übersetzer und berichtet von seinem Leben, als würde er ihn schon lange persönlich kennen, dabei spricht er in Teilen bedächtig, überlegend und nach der richtigen Formulierung suchend, mehr an sich selbst als das Publikum gerichtet. Doch im Verlauf des Abends kommt Reemtsma zunehmend in einen Redefluss, der immer stärker an der an diesem Abend vielbeschworenen Leichtigkeit der Sprache gewinnt und das Publikum, unterbrochen durch einige Lacher, sichtlich in den Bann zieht.

Interessant und doch bedeutend

Wieland, betont Reemtsma, sei der Maßstabgeber für die deutsche Literatur gewesen, die heute als Weimarer Klassik bezeichnet wird. Er schwärmt von der Leichtigkeit und dem Fluss von Wielands Versdichtungen und betont, dass Wieland ein »akustischer Schriftsteller« gewesen sei, dessen Verse laut vorgetragen werden müssten. Dabei hebt er auch Wielands sprachliche Vielfältigkeit hervor, da sich der Autor zwischen juristischem Amtsdeutsch des späten 18. Jahrhunderts, den ersten deutschen Übersetzungen der Werke von Shakespeare und der »modernsten Prosa« seiner eigenen Werke zu bewegen wusste. Vor den langen Sätzen in Wielands Werk, so Reemtsma, müsse man sich nicht fürchten. »Vertrauen Sie dem Autor«, empfiehlt er dem Publikum nachdrücklich.

Gleiches lässt sich wohl auf Reemtsma selbst übertragen, der dem in der deutschen Literaturforschung lange als »nicht so bedeutend […], aber doch interessant« angesehenen Wieland die Bedeutsamkeit zurückgibt, über die er im späten 18. Jahrhundert verfügte. Anhand einiger Beispiele aus Wielands Wirken gelingt es Reemtsma, ihn und die in Weimar entstehende deutschsprachige Literatur nicht nur in die europäische Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts einzubinden, sondern auch in die neuere deutsche Geschichte, indem er auf die Verbindung der Weimarer Republik zur Weimarer Klassik verweist.

Schaut auf Weimar!

Gerhard Lauer lässt seinem Gast viel Raum für seine Ausführungen zu Wielands zentraler Bedeutung für die »Neubegründung« der deutschen Literatur unter anderem nach englischem Vorbild, die, so Reemtsma, auf einer zeitgenössisch als fehlend angesehenen Kontinuität der deutschsprachigen Literatur beruhte. So stamme mit Alceste nicht nur die erste durchkomponierte deutsche, avantgardistische Oper von Wieland, sondern auch die erste deutsche Shakespeareinszenierung, die Wieland mit einem Laientheater im ersten Stock einer Metzgerei in Biberach aufführte. Die Gründung der bedeutenden Literaturzeitschrift ›Teutscher Merkur‹ durch Wieland im Jahr 1773 zeige die Ambitionen des Schriftstellers. Angelegt an den ›Mercure de France‹ in Paris habe sich Wieland – letztlich erfolgreich – bemüht, aller Augen auf Weimar zu richten.

Auf Wieland selbst seien in der literaturgeschichtlichen Forschung bislang jedoch nur wenige Augen gerichtet. Es ist also wenig verwunderlich, dass Reemtsma mehrfach die Nachwirkungen des teleologische Großnarrativs der deutschen Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts in seiner »geschichtsphilosophischen Fixierung« auf die vermeintlich großen Heroen der Weimarer Klassik – namentlich Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller – kritisiert. »Das Beste, was man [in der deutschen Literaturgeschichte, S.v.H.] von einem Autor sagen kann, ist, der hat etwas gemacht hat, was Goethe dann besser gemacht hat«, lautet sein harsches Urteil. In Reemtsmas Erzählung werden Goethe und Co. entsprechend zu Nebendarstellern, zu »de[n] andere[n] in Weimar«. Wieland hingegen wird in den Worten von Reemtsmas Gesprächspartner zum »Gravitationszentrum« auf der »Bühne der deutschen Literatur«. Dabei gelingt es Reemtsma, durch Werk und Leben Wielands zu führen, ohne bereits bestehende Heroenerzählungen schlicht durch eine andere zu ersetzen.

Der Kaiser ist auch nur ein Mensch

Der Abend schließt mit einem Einblick in Reemtsmas eigenes Schaffen als Autor. Er liest die Szene aus seinem Buch, die die Begegnung Wielands mit Napoleon beschreibt. Durch Wielands eigene Linse gelingt es Reemtsma auch hier den ›großen Kaiser‹ der Franzosen – einhergehend mi dessen eigener Inszenierung in diesem Gespräch mit Wieland – in einen beinahe bescheidenen Mann zu verwandeln. Mit der Verabschiedung oder vielmehr Entlassung Wielands durch Napoleon schließt auch die Veranstaltung; jedoch nicht ohne Lektüreempfehlungen und einen Aufruf Reemtsmas, den Werken Wielands eine Chance zu geben.

Aufgrund des straffen Programms des Literaturherbstes an diesem finalen Wochenende muss die Fragerunde zum leichten Missfallen des Publikums ausfallen. Sie hätte sicherlich noch weitere, vertiefende Einblicke in Reemtsmas Beschäftigung mit Wieland sowie dessen Bedeutung für die deutsche Literatur ermöglicht. Doch die Besucher:innen der nächsten Veranstaltung stehen bereits vor der Tür des alten Rathauses – und den Zuhörenden bot sich auch so ausreichend Stoff zum Nachlesen und -denken.

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