Die Zeitschaften Ruth Klügers

Als Überlebende des Holocausts emigrierte Ruth Klüger in die USA und entschied, nie wieder nach Europa zurückzukehren. Doch dann wurde Göttingen für sie das Tor in die Alte Welt. Ein Porträt der Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trägerin des Göttinger Ehrendoktorats.

Von Sebastian Kipper

Bild: ©Anna-Lena Heckel

»Auch von mir melden die Leute, die etwas Wichtiges über mich aussagen wollen, ich sei in Auschwitz gewesen«,1Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. 24. Aufl. München 2019, S. 139. Im Folgenden wird die Ausgabe unter Verwendung der Sigle ›WL‹ und Seitenangabe zitiert. schreibt Ruth Klüger in ihrer Autobiographie weiter leben. Eine Jugend (1992) und formuliert damit die Aporie, die einem Porträt wie diesem zugrunde liegen muss. Denn Klüger ist Zeitzeugin der Shoah; ihr Schreiben liefert ein Zeugnis davon und stellt einen wichtigen Beitrag zur Holocaust-Literatur dar. Aber gleichzeitig verengt diese Perspektive den Blick auf die Persönlichkeit, die auch Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin, Lyrikerin und vieles mehr ist. Denn bei der Lektüre ihrer Autobiographien, Gedichte, Essays, Rezensionen und Interviews formiert sich das Bild einer vielschichtigen Schaffenden, deren Denken und Schreiben Gefahr läuft, zu Unrecht von der negativen »Ausstrahlung« des Worts »Auschwitz« überschattet zu werden (WL 139). Und überhaupt: Warum in einem Porträt einem Ort so viel Platz einräumen, der für sie selbst »der abwegigste Ort« (WL 139) war, den sie je betrat?

Nonchalant entlarvt Ruth Klüger mit ihrer Bemerkung auch die einstudierte Interaktion zwischen der deutschen (und österreichischen) Dominanzgesellschaft und der jüdischen Minderheit. Als deutsches »Gedächtnistheater«2Vgl. Max Czollek: Desintegriert euch! Genehmigte Taschenbuchausgabe. München 2020, S. 9. Czollek entfaltet das Konzept Bodemanns, arbeitet es weiter aus und analysiert dabei die Dynamik der Akteure und ihrer Rollen im Gedächtnistheater, die historische Genese dieser Rollen sowie den Bezug des Gedächtnistheaters zur aktuellen politischen Situation (besonders in Hinblick auf den Umgang mit der zunehmende Normalisierung rechtskonservativer Positionen in Parteien und Feuilletons). bezeichnet der Soziologe Y. Michal Bodemann diese Performance. Und in diesem Theater wird Jüdinnen und Juden eine bestimmte, eindimensionale Rolle zugeschrieben, die sie auf die Shoah reduziere. Deren Folge ist es, dass abweichende Perspektiven ausgeblendet bleiben.3Vgl. ebd., S. 10. »[D]amit bin ich nicht einverstanden«, sagt Ruth Klüger in einem Radiointerview mit dem ORF, als man sie auf diese problematische Reduzierung von KZ-Überlebenden anspricht, »[u]nd dagegen wehre ich mich.«

Das Verfassen der Autobiographie weiter leben und deren Fortsetzung unterwegs verloren. Erinnerungen4Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. 3. Aufl. 2016. München 2016. Im Folgenden wird die Ausgabe unter Verwendung der Sigle ›UV‹ und Seitenangabe zitiert. (2008) kann als emanzipatorischer Akt verstanden werden. Ja, es geht darin um »[d]ie Lager«. Aber nicht nur. Klüger erzählt auch von ihrem »Eheunglück«. Über ihr »[s]pätes Studium« spricht sie. »Das akademische Dorf« wird besichtigt. Und Anekdoten aus einem Leben mit »[s]päte[m] Ruhm« werden uns anvertraut.

Kritische Fachgeschichten

Die Reihe ermöglicht Autor*innen wie Leser*innen eine kritische Auseinandersetzung mit Teilen der Fachgeschichte von Germanistik, Skandinavistik und Anglistik (alle drei angesiedelt am Jacob-Grimm-Haus/siehe Titelbild) in Göttingen. Was haben Koryphäen des Fachs im NS getrieben? Was schrieben die Grimms außer Märchen? Zu diesen und weiteren Themen informiert ihr euch hier.

En passant entlarvt Ruth Klüger misogyne Strukturen in Forschung und Lehre und Kontinuitäten antisemitischer Ideologeme in der deutschsprachigen Literatur und in der Germanistik nach dem Zweiten Weltkrieg. Letzteres wird uns auch nach Göttingen führen. Dieses Porträt versteht sich daher auch als eine Weiterführung der kritischen Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte der Germanistik in Göttingen – und über Göttingen hinaus.

»[I]ch komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien«

Susanne Ruth Klüger wurde am 30. Oktober 1931 in Wien geboren und ist die Tochter von Viktor und Alma Klüger. Bereits als »mittelloser Medizinstudent«, so schreibt Klüger in weiter leben, warb Viktor um Alma, »die Tochter eines wohlhabenden Ingenieurs und Farbendirektors« (WL 21). Ihr Vater verheiratete Alma stattdessen an eine »besser[e] Partie«; sie zog dafür von Wien nach Prag. Doch das konnte die beiden Liebenden nicht auseinanderbringen: »Meine Eltern, junge Menschen aus Arthur Schnitzlers Welt, der Student und die Frau des geistigen Pedanten, hatten eine Liebesaffäre, die sich zwischen Wien und Prag abspielte, zwei Städte, zwischen denen man leicht hin- und herpendeln konnte.« Alma ließ sich schließlich scheiden, »ein ungewöhnlicher Schritt, ihr Vater verzieh ihr und versorgte sie noch für die zweite Ehe« (WL 21), die sie mit Viktor – inzwischen Arzt – einging und für die sie nochmal nach Wien zurückkehrte. Aus der ersten Ehe nahm Alma einen Sohn mit, Ruth Klügers Halbbruder Jiři, »auf deutsch Georg, auf österreichisch Schorschi« (WL 21).

Für Ruth Klüger bedeutete der Halbbruder die Welt: »Er war mein erstes Vorbild und wohl das einzige uneingeschränkte. So wie er wollte ich werden, soweit das ein Mädel halt konnte. Und eines Tages war er weg.« (WL 22) Denn ein Gericht in Prag hatte das Sorgerecht auf Schorschis Vater übertragen. »Es war mein größter Verlust« (WL 23), erinnert sich Klüger. Der Grund für die Entscheidung des Prager Gerichts: »[D]ie deutsche Erziehung, die diesem kleinen tschechischen Juden angeblich in Wien zuteil wurde« (WL 22). Denn 1938 wurde Österreich dem nationalsozialistischen Deutschen Reich eingegliedert.

Philippe Pétains (links) Vichy-Regime von 1940, das Ruth Klügers Vater ans Deutsche Reich auslieferte, gilt unter Historiker*innen als Exempel für einen dynamischen Übergang von Appeasement hin zu offener Kollaboration, Bild via Wikimedia by the German Federal Archive CC BY-SA 3.0 DE


Kurz nach dem sogenannten »Anschluß« Österreichs, wie es die Propaganda NS-Regimes ausdrückte, floh der Vater. Zunächst nach Italien und dann weiter nach Frankreich. Dort nahmen ihn die Franzosen jedoch fest und lieferten ihn an die Deutschen aus. Auf die Internierung in ein Sammellager in Drancy folgte 1944 die Deportation nach Auschwitz, wo Viktor Klüger vermutlich unmittelbar nach seiner Ankunft ermordet wurde. An den Vater hat Ruth Klüger nur wenige Erinnerungen. Als Kind fragte sie sich oft, warum ihr Vater sie und ihre Mutter nicht bei seiner Flucht mitgenommen hatte. Jahre später sollte ihr ein Verwandter erklären, dass der Vater einfach nicht die Möglichkeit in Betracht zog, seiner Tochter und seiner Ehefrau könne etwas zustoßen.

»Ich muß gestehen, daß ich tatsächlich eine sehr schlechte Jüdin bin«

Nach der Machtübernahme der Nazis wurde Ruth Klüger »jüdisch in Abwehr« (WL 41). Sie legte ihren bisherigen Rufnamen »Susi« ab, und ertrotzte, dass man sie mit ihrem zweiten Namen ansprach, »de[m] Namen, der ›Freundin‹ bedeutet« (WL 42). Dieser Name erschien ihr jüdischer, rekurrierte er doch auf eine Figur in einer biblischen Erzählung, die für Klüger zudem ein feministisches Vorbild ist: »Denn Ruth ist ausgewandert, nicht um des Glaubens willen, sondern um ihre Schwiegermutter Naëmi willen, die sie nicht allein ziehen lassen wollte. Sie war einem Menschen treu, und dieser Mensch war eben nicht der geliebte oder angetraute Mann, sondern es war eine frei gewählte Treue, von Frau zu Frau und über Volkszugehörigkeit hinweg.« (WL 42)

Doch die emphatische Religionszugehörigkeit währte nicht lange. Zu sehr empörte sie sich schon als Kind über die Ungleichberechtigung von Jungs und Mädchen, die sie im Kontext der Ausübung jüdischer Rituale wie dem Pessach-Fest erfuhr. Ungerechtigkeiten dieser Art ließen den Glauben abbröckeln, bevor er sich festigen konnte. Sie sollte auch nicht wieder zu ihm finden. »Ich habe erstens kein Talent für Transzendenz«, bekennt Klüger, »[z]weitens kommt der christlich-jüdische Gott aus einer Gesellschaftsstruktur, die mir wenig behagt, denn der Sprung über Adams Rippe hinweg zu diesem Patriarchen ist mir zu weit, und ich schaffe ihn nicht.« (WL 254)

»Man ließ mich lesen, weil ich dann niemanden behelligte«

Nicht lange nach der Eingliederung Österreichs an Nazideutschland wurden jüdische Kinder aus den öffentlichen Schulen ausgeschlossen und eigenen Schulen zugeteilt. Meist herrschten jedoch desolate Zustände an diesen Örtlichkeiten. Zusätzlich musste ob der zunehmenden Anzahl der geflüchteten oder deportierten Kinder der Klassenverband ständig aufgelöst werden. Nicht nur die Kinder, »auch die Lehrer verschwanden, einer nach dem anderen, so daß man sich alle zwei, drei Monate auf einen neuen gefaßt machen musste.« (WL 15) Man setzte neue Klassen mit den Zurückgeblieben aus anderen Schulen zusammen, doch immer mehr Schulen mussten wegen des Personenmangels geschlossen werden. Je weniger Schulen es gab, desto länger wurde der Schulweg und »desto geringer war die Chance, gehässigen Blicken und Begegnungen zu entgehen.« (WL 16) Vier Jahre lang hat Ruth Klüger diesen Schulbetrieb mitgemacht, bevor sie die Mutter schließlich vom Schulbesuch freistellte: »Ich hatte mich zu Hause regelmäßig beschwert über die Sinn- und Trostlosigkeit dieser Anstalt, die immer weniger zu bieten hatte, von den Strapazen des Schulwegs zu schweigen.« (WL 17) Klüger erhielt von nun an Privatunterricht.

In dieser Zeit entwickelte Klüger eine »Lesesucht« (WL 53). »Ich las, was mir in die Hand fiel« (WL 55), konstatiert Ruth Klüger in ihrem Rückblick. Dabei wählte sie ihre Lektüre mit Bedacht und mied »verbotene Bücher«, die man ihr oft wieder aus der Hand nahm: »Und da das meistens bei modernen Romanen der Fall war, war ich zu dem Schluß gekommen, daß bunte Einbände für Erwachsene seien und die einförmig gebundenen Bände, nämlich die Klassiker, für Kinder. Klassiker gab’s überall, und niemand scherte sich darum, was ich mir aus diesen Beständen jeder bürgerlichen Ausstattung holte.« (WL 53) Eine*n Gesprächspartner*in über die gelesenen Bücher suchte Klüger in ihrem Umfeld vergebens. »Man begnügte sich damit, darauf hinzuweisen, daß Goethe schwerer sei als Schiller, und ich mich daher an Schiller halten sollte.« (WL 53) Ansonsten waren die Erwachsenen froh, dass sie das Kind nicht weiter behelligte, bemerkt Klüger.

»Monatelang sah ich keine Kinder, und die Erwachsenen hatten nicht die Geduld, sich mit mir zu unterhalten.« (WL 55) Mit dem Lesen hielt sie sich beschäftigt, denn im nationalsozialistischen Wien war die Bewegungsfreiheit von Jüdinnen und Juden5Da »Jüd*innen« grammatikalisch falsch ist, wird in diesem Text die Formulierung »Jüdinnen und Juden« genutzt, womit die Pluralität der Geschlechter im Judentum ausdrücklich miteinbezogen werden soll. inzwischen massiv eingeschränkt: »Mit dem Judenstern hat man keine Ausflüge gemacht, und schon vor dem Judenstern war alles Erdenkliche für Juden geschlossen, verboten, nicht zugänglich.« (WL 18)

Deportation, Internierung, Flucht

Im September 1942 deportierten die Nazis Ruth Klüger zusammen mit ihrer Mutter von Wien ins Konzentrationslager Theresienstadt. Schorschi, den die Mutter in Theresienstadt vermutete, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr da. Laut Gerücht wurde er im Winter des vorigen Jahres nach Riga verschickt. »Das Gerücht hat ausnahmsweise recht gehabt, er ist dort erschossen worden.« (WL 94) Man verschleppte die beiden Frauen nach »neunzehn oder zwanzig Monate[n]« von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau (WL 103); Juni 1944 kamen sie nach Christianstadt, ein Außenlager von Groß-Rosen. Im Februar 1945 gelang ihnen auf einem der sogenannten »Todesmärsche« die Flucht. »Wir waren tagelang unterwegs, doch ich habe diese Tage in der Erinnerung einfach übersprungen.« Und: »Wenn ich mich konzentriere, so entsteht kein scharfes Bild, sondern nur eine Folge von schwammigen Landschaften.« (WL 183) In die bayrische Kleinstadt Straubing sollten sie schlussendlich gelangen, wo sie noch schwere Bombenangriffe erleiden mussten, bevor der Krieg zu Ende ging.

»Warum waren wir noch da?« (WL 65), fragte Ruth Klüger schon damals und auch Jahrzehnte nach den Shoah-Erlebnissen ihre Mutter, die wie paralysiert im nationalsozialistischen Wien blieb, während die Menschen in ihrem Umfeld flohen. »›Die Reichsfluchtsteuer‹, sagt sie.« Und dann war da noch der Sohn in Prag, den sie nicht holte, weil sie ihre Tochter nicht in Wien zurücklassen wollte. »Aber was war denn ihr Plan? Will sie den Tod auf mich abwälzen […]?« (WL 23), fragt sich Klüger angesichts dieser Rechtfertigungsversuche. Als Folge sollte sich bei ihr ein Misstrauen den Erinnerungen ihrer Mutter gegenüber einstellen: »[S]ie biegt sich die Welt zurecht, so gut sie’s kann.« (WL 34)

»Lange waren wir Auswanderer gewesen, jetzt waren wir endlich Einwanderer geworden«

1947 fasste Ruth Klügers Mutter den Entschluss, nach Amerika zu emigrieren und nahm mit dieser Entscheidung wenig Rücksicht auf die zionistische Einstellung ihrer Tochter: »[I]ch wollte gar nicht nicht nach Amerika. […] Ich wollte nach ›Erez Israel‹, nach Palästina, um dort einen gerechten, das heißt einen sozialistischen und jüdischen Staat aufzubauen helfen.« (WL 204) Doch die Emigration nach Palästina war nur auf illegalem Weg möglich, die Gefahr für Klügers Mutter zu hoch. Nachdem Klüger 1946 am Staubinger Gymnasium ein Notabitur absolvierte und ein kurzes Studium der Philosophie und Geschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Regensburg begann, verließen sie Deutschland und segelten »auf einem ausgedienten Kriegsschiff« in die USA über. Klüger erinnert sich, dass sie während der Fahrt oft auf das Meer starrte und sich so löste von Europa, »das heißt, von dem einzigen Europa, das ich kannte, dem deutschsprachigen.« (WL 222) Im Oktober 1947 landete sie im Hafen der »Einwandererstadt New York« (WL 223).

Dort setzte Ruth Klüger ihre akademische Ausbildung fort und besuchte das Hunter College, »ein City College für Mädchen, von der Stadt finanziert, wo die Studentinnen zum Großteil Einwanderer oder Amerikaner der ersten Generation waren.« (WL 230) Die Einschreibung ins College verlief problemlos – das Notabitur und das Regensburger Semester wurden ihr angerechnet – und nur eine Sprachprüfung musste sie für die Immatrikulation bestehen. Entgegen der pessimistischen Einschätzung von Verwandten und Freundinnen (»Das würde mir nicht gelingen, ich sei ja noch keine drei Monate im Land«) konnte Klüger auch diese Hürde überwinden.

Doch trotz der großen Mühen der Vorbereitung verpassten ihr die ersten Erfahrungen am Hunter College einen Dämpfer: »Hunter College war das weibliche Pendant zu CCNY, City College of New York […]. Die männlichen Studenten an der CCNY waren ehrgeizig und zukunftsorientiert. Die bereiteten sich auf richtige Karrieren vor. Bei uns konnte man als Hauptfach ›home economics‹ belegen, ein ›Fach‹, das die Studentin für Hauswirtschaft und Mutterschaft vorbereiten und ertüchtigen sollte.« Aber Klüger zog das Studium durch, motiviert von den »spannenden Veranstaltungen über Literatur, gehalten von vorzüglich ausgebildeten Dozenten und Dozentinnen« (WL 232f.) und erlangte mit noch keinen 19 Jahren ihren Bachelor of Arts im Hauptfach Englisch. Trotz der restriktiven Geschlechterrollen, die den Studentinnen am Hunter College vermittelt wurden, fand Klüger dort auch emanzipatorische Vorbilder:

Dozentinnen: wir hatten Frauen als Vorbilder, ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Ich hätte mir später kaum eine Hochschulkarriere zugetraut, wären es nicht Frauen gewesen, die mir am Hunter College Shakespeare und Faulkner zu lesen gaben.

(WL 233)

Nach dem Bachelorstudium jobbte Klüger als Bürohilfskraft und Kellnerin. Weil sich das Verhältnis mit ihrer Mutter zunehmend verschlechterte, verließ sie im Sommer 1951 New York.

»Nichts bleibt so unvergeßlich für Schüler wie die Ungerechtigkeit ehemaliger Lehrer«

Nach einem Sommer im französischen Teil Kanadas an der Université Laval ging Ruth Klüger 1952 nach Berkeley, Kalifornien, um an der dortigen Universität Komparatistik weiter zu studieren. Es handelte sich um ihren ersten Versuch, sich der Germanistik anzunähern – was scheitern sollte. In unterwegs verloren berichtet sie von einem Professor, bei dem sie vorsprach, um an einem Seminar über das Junge Deutschland teilzunehmen: »Er hat die Nummer auf meinem Arm gesehen und wollte mich nicht in diesem Seminar haben, aber ich habe das damals nicht verstanden, einfach weil ich mit meinen zwanzig Jahren zu naiv war. Er fragte, warum ich mich denn diesen unschönen Geschichten über jüdische Autoren, die es schwer gehabt hatten, aussetzen wollte?« (UV 16)

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Ruth Klüger
unterwegs verloren. Erinnerungen

dtv: München 2010
240 Seiten, 09,90 €

Widerwillig ließ er sie teilnehmen, schmiss sie aber wenig später unter einem fadenscheinigen Vorwand wieder aus dem Seminar heraus. »Unreife«, warf er Klüger vor, die sie ungeeignet mache, an seinem Seminar teilzunehmen; sie sei ein »störendes Element«. Aber: »Zu dieser Zeit war noch kein einziges Referat gehalten worden, auch hatte noch kein Examen stattgefunden, es gab nichts, womit er sein Urteil hätte begründen können, und er versuchte es auch gar nicht.« (UV 18) Für Klüger lag der Grund des Ausschlusses auf der Hand: »Es war ein autoritärer Rauswurf, den ich der Nummer auf meinem Arm zu verdanken hatte, denn ohne diese wäre meine Vergangenheit nicht erkennbar gewesen.« (UV 18) Die erfahrene Ungerechtigkeit blieb nicht vergessen. Obwohl sie es schaffte, das Semester als voll eingeschriebene Studentin zu absolvieren, brach sie kurz darauf ihr Studium ab.

Es sollte nicht nur bei diesem antisemitischen Vorfall bleiben. Ihre gesamte Hochschullaufbahn war Ruth Klüger Ressentiments ausgesetzt, als Jüdin und als Frau. In ihren Autobiographien legt sie Vorfälle offen, die sich auf strukturelle Diskriminierung zurückführen lassen. Diese Szenen verbindet sie mit messerscharfen Analysen der Vorurteile und Verdrängungsmechanismen der Täter, die sie in die Diskurse der Zeit einbettet. Klüger deckt darüber hinaus auch Kontinuitäten des Antisemitismus auf, der nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch in den amerikanischen Geisteswissenschaften präsent war – und mit dem sie auch in Göttingen konfrontiert werden sollte. Doch dazu später mehr.

»Ehe und Kinder und der Mief der fünfziger Jahre«

Nachdem Klüger genug Geld angespart hatte, schrieb sie sich erneut in Berkeley ein, absolvierte ein Masterstudium im English Department »und machte einen weiten Bogen um die Germanistik« (UV 73). In dieser Zeit lernte sie den Historiker Werner Thomas Angress kennen (den Klüger in ihrer Autobiographie als »Tom« bezeichnet): »Tom war fast zwölf Jahre älter als ich, in Berlin geboren, und hatte als amerikanischer Soldat seinen Teil zur deutschen Niederlage beigetragen. Gewiß zählte das zu den Gründen, warum ich ihn später geheiratet habe.« (UV 73) 1953 wurde die Ehe zwischen ihnen geschlossen. Tom promovierte und fand eine Stelle in Connecticut, wo sich Klüger in einem neuen Milieu wiederfand – als »›faculty wife‹, eine Professorenfrau« (UV 76), was nichts anderes bedeutete, als »daß sie genausogut eine Hausangestellte des Professors hätte sein können« (UV 89). Schnell wurde Klüger klar: Sie war keine gleichrangige Partnerin in der Ehe mit Tom, »sondern ein Krückstock für seine Karriere« (UV 78).

Die Ehe verlief unglücklich, und trotz der zwei Kinder, die das Paar bekommen sollte, vergrößerte sich die Distanz zwischen den Ehepartnern. Schließlich kam die Familie nach Berkeley zurück, wo Tom Assistenz-Professor wurde. Dort absolvierte Klüger ein Magisterstudium in Bibliothekswissenschaften und konnte nach ihrem Abschluss anfangen, selbst zu arbeiten. »Tom hatte nichts dagegen, daß seine Frau das Familieneinkommen aufbesserte. Das war keineswegs selbstverständlich zu einer Zeit, in der man erwartete, daß Männer ihre Maskulinität auch dadurch erwiesen, daß sie ›den Speck nach Hause bringen‹. Die Rolle der Frau war es, sich zu Hause zu langweilen mit den kleinen Kindern als ihren einzigen Gesprächspartnern, die sie überforderten.« (UV 85) Klüger arbeitete als »fahrende Bibliothekarin«, was ihr nicht nur Vergnügen bereitete, sondern auch ein eigenes Maß Selbstständigkeit ermöglichte, um die Scheidung einzureichen. Tom willigte ein (aber zuerst sollte sein Buch veröffentlicht werden). Er ging nach New York, sie blieb mit den Kindern in Berkeley. »Ich war neun Jahre lang verheiratet«, resümiert Klüger, »und am Ende der Ehe kam es mir vor, als falle ich aus dem Gefrierfach des Küchenkühlschranks heraus, um endlich aufzutauen.« (UV 85)

»[I]ch wollte lernen, was ich nicht wußte, und etwas werden, was ich noch nicht war«

Nach der Scheidung folgte ein neuer Versuch, sich der Germanistik anzunähern. »Ich wollte dort fortsetzen, wo ich aufgehört hatte, als ich Hals über Kopf einen Mann geheiratet hatte, den ich kaum kannte; ich wollte lernen, was ich noch nicht wußte, und etwas werden, was ich noch nicht war.« (UV 94) 1962 schrieb sie sich ein drittes Mal in Berkeley ein (dessen German Department in den frühen 60ern zum Teil eine andere war als noch 10 Jahre zuvor) und arbeitete nebenbei als Sprachlehrerin. Ihre Söhne, schreibt Klüger, waren während dieser Zeit »Belastung und Anker« zugleich.

Durch den Sprachunterricht entdeckte sie ihre Erstsprache neu und formte ein neues Verhältnis zu ihr, nachdem sie »ihren Wurzeln nachging und dabei draufkam, wie schön sie war und ist« (UV 101). Erinnerungen drangen wieder auf Klüger ein, da sie nun wieder anfing, auf Deutsch zu sprechen und zu schreiben – doch auseinandersetzen sollte sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht damit. Stattdessen promovierte sie nach ihrem Germanistikstudium über das barocke Epigramm.

Ich wollte mich in der älteren Vergangenheit verstecken, um der jüngeren und der jüngsten auszuweichen. Das 17. Jahrhundert war beruhigend weit weg.

(UV 107)

Schon während des Germanistikstudiums fällte Klüger die Entscheidung, dass sie eine akademische Karriere anstreben möchte. In Cleveland, Ohio, gelang ihr der Einstieg in den Universitätsbetrieb. Mit ihren Lehrveranstaltungen deckte sie eine breite Zeitspanne in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur ab: »Ich […] unterrichtete alles, von Mittelhochdeutsch bis zu Hermann Hesse, der von Amerika nach Deutschland zurückschwappte. Dazwischen lehrte ich Barock und Romantik.« (UV 120) Parallel schrieb sie ihre Dissertation fertig, schickte Kapitel um Kapitel zu ihrem Doktorvater nach Berkely und schloss schließlich 1967 ihre Promotion ab. 1971 druckte der Verlag der University of Kentucky (allerdings ohne Kostenzuschuss) ihre Dissertationsschrift The early German epigram: a study in Baroque poetry (noch unter ihrem angeheirateten Namen »Angress«, den sie erst später ablegen sollte). Nach dem Verkauf von 350 Exemplaren wurde sie eingestampft.

»Diese vielbewunderten amerikanischen Eliteunis haben […] allerlei Perversitäten zu bieten«

Ruth Klüger war an verschiedensten Universitäten als Hochschullehrerin tätig. Von 1980 bis 1986 unterrichtete sie in Princeton – einer der acht prestigereichen privaten Eliteunis an der Ostküste (Ivy-League) – und war dort zeitweise Vorsitzende des German Departments. Aus heiterem Himmel erhielt sie eines Morgens einen Anruf vom Leiter des dort ansässigen German Departments, erzählt Klüger. Er erkundigte sich, ob sie sich nicht auf die vakante Stelle bewerben wolle. Wer einen Ruf nach Princeton erhält, lehnt selten ab. Doch Klüger bereute den Schritt, der von außen betrachtet als ihr akademischer Höhepunkt erscheint, bezeichnet die Stelle gar als den »größte[n] Fehler meiner akademischen Karriere« (UV 62).

An der Princeton wurden im September 1969 die ersten Studentinnen aufgenommen, erklärt Klüger, »[s]päter, als ihre Zahl zugenommen hatte, standen alle Departments, und besonders die der Geisteswissenschaften, wo die Mehrzahl der Studenten Studentinnen sind, damals wie heute, unter Druck, auch Professorinnen einzustellen.« (UV 60) Nicht ihrer akademischen Leistungen wegen bat man Klüger die Stelle an, immerhin war sie von 1977 bis 1984 (als erste Frau) die Herausgeberin der German Quarterly, einer Fachzeitschrift der amerikanischen Germanistik:

Die Germanistik von Princeton brauchte eine Vorzeigefrau. Das war’s. Niemand hatte etwas, was ich geschrieben hatte, gelesen, das dämmerte mir nach und nach.

(UV 61)

Als die Gesten der Respektlosigkeit zu unverhohlen wurden, ging sie zurück nach Kalifornien an die University of California, Irvine, wo sie auch 1994 emeritierte.

»[D]aß man den Frauen nicht einfach ein Kämmerchen im geräumigen Hause einer allgemeinen Geistesgeschichte einräumen […] kann«

»Es gibt in der amerikanischen Literaturwissenschaft nur sehr wenige Frauen meiner Generation, die es geschafft haben, richtige Universitätsprofessorinnen zu werden –, und ich glaube alle Germanistinnen unter ihnen persönlich zu kennen« (UV 142), merkt Klüger an und veranschaulicht damit eindringlich die strukturellen Benachteiligungen, die Frauen erfuhren – und an denen manche auch scheiterten. Klüger entlarvt in unterwegs verloren die sexistischen Ausschlussmechanismen an den (amerikanischen) Universitäten zwischen den 1950er und 1980er Jahren. Eine Zeit also, in der sich Frauen zunehmend Teilhabe an den Strukturen erkämpften, Männer ihre Privilegien in Gefahr sahen und ihren Kolleginnen daher mit Neid, Missgunst oder Überheblichkeit begegneten.

Klügers kritischer Blick richtet sich aber nicht nur auf die strukturellen Benachteiligungen im akademischen Betrieb. Auch ihre eigene Forschung ist den Anliegen einer feministischen Literaturwissenschaft der 70er Jahre verpflichtet. In der Essaysammlung Frauen lesen anders (1996) setzt sie sich unter anderem mit stereotypisierten Darstellungen von Frauen in Texten von Arthur Schnitzler und Erich Kästner auseinander. In dem finalen Essay der Sammlung Gegenströmung: Schreibende Frauen erfolgt der »Entwurf einer alternativen Literaturgeschichte«, in der Klüger die Frage untersucht, »welcher sozialen und intellektuellen Voraussetzungen es bedurfte, um begabte deutschsprachige Frauen, von denen es ja verhältnismäßig so viele wie heute gegeben haben muß, zu einer selbstständigen Denkweise und konzentrierten Produktivität zu verhelfen«. Denn die kulturellen Bedingungen mussten für Frauen andere gewesen sein als für Männer, von denen es in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur eine Fülle gibt. Mithilfe kulturgeschichtlicher Betrachtungen erhellt Klüger jene »Schlupfwinkel, Leerräume, Grenzstellen«, derer es bedurfte, »um die weibliche Kreativität, oder besser gesagt, die menschliche Kreativität in Frauen, in Produktivität zu verwandeln.« Ein Anliegen, das in der Tradition von Virginia Woolfs vielrezipiertem Essay A Room of One′s Own (1929) steht.

Daneben setzt sich Klüger in ihrem kulturjournalistischen Schreiben für die Sichtbarkeit von Autorinnen ein. In der Literarischen Welt erschien zeitweise ihre Kolumne »Bücher von Frauen«, in der sie empfehlenswerte Texte von Autorinnen rezensierte. Die weibliche Literatur würde immer noch unterschätzt, so Klüger.

Das Vorurteil gegen das weibliche Gehirn hat zwar stark abgenommen, aber verschwunden ist es nicht. Schon darum lohnt es sich, einen Scheinwerfer auf die Bücher von Autorinnen zu richten.

Ruth Klüger: Was Frauen schreiben. Wien 2010, S. 10.

Weiterhin haben Frauen besondere Erkenntnisse beizusteuern, die Männern nicht ohne Weiteres zur Verfügung stünden. Klügers Rezensionen, mit denen sie diese Vorurteile abbauen und das Besondere herausstreichen möchte, sind in dem Buch Was Frauen schreiben (2010) nachzulesen.

»Unvermutet öffnete sich die Türe nach Deutschland«

Oft hat Ruth Klüger während ihrer Hochschulkarriere den Wohnort gewechselt. Angekommen ist sie nirgendwo aber so richtig: Das zerrüttete Verhältnis zu ihrer Mutter, eine unglückliche Ehe, die schließlich in eine Scheidung mündete, und das entfremdete Verhältnis zu ihren beiden Söhnen und ihren Familien: Immer wieder findet sich Klüger auf sich selbst zurückgeworfen. Halt- und Heimatlosigkeit ist ein Thema, das in ihren beiden Autobiographien immer wieder aufgegriffen wird. In weiter leben schreibt sie: »Wiederholt bin ich gestrandet und so sind mir die Ortsnamen wie die Pfeiler gesprengter Brücken.« (WL 79) Einer dieser Pfeiler trägt den Namen Göttingen, wo es sie gegen Ende ihrer Hochschullaufbahn hin verschlagen sollte.

Als »eine späte Liebe« (UV 149) bezeichnet sie Göttingen und errichtete der Stadt ein wohlwollenderes literarisches Denkmal als Heinrich Heine seinerzeit, der in seiner Harzreise schreibt: »Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.« Zum ersten Mal besuchte Klüger 1985 Göttingen. Auf Einladung der Internationalen Vereinigung für Germanistik hielt sie beim jährlichen Kongress (der in besagtem Jahr zum ersten und bisher auch zum einzigen Mal in Deutschland stattfinden sollte) einen Plenarvortrag über jüdische Figuren in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Unter dem Titel Die Leiche unterm Tisch. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (1986) ist der Vortrag zusammen mit anderen Schriften zum Thema Antisemitismus in der deutschsprachigen Literatur in Katastrophen. Über deutsche Literatur (1994) nachzulesen.

»[D]ie Tradition des Antisemitismus aufzudecken, die auch bei den renommiertesten Dichtern zu finden war«

Klügers Herausarbeitung antisemitischer Ideologeme und deren Kontinuitäten in Texten deutscher und österreichischer Autoren – denn zumeist sind es männliche Schriftsteller, die Klüger in diesem Kontext in den Blick nimmt – bildet einen wichtigen Forschungsbeitrag zu einer kritischen Literaturwissenschaft. Sie sind zudem kulturhistorisch sehr erhellend, da sie ihre Analysen mit soziokulturellem Kontextwissen anreichert. Anhand der Dramen Büchners, der Märchen der Brüder Grimm, Wilhelm Hauffs und Clemens Brentanos zeichnet Klüger die (Zerr-)Bilder »des Juden« nach, die die aufklärerische und gegen-aufklärerische Zeit prägen: »der todbringende Jude« und »der Geldjude«. Auch in den Romanen Theodor Fontanes und Wilhelm Raabes sind diese Archetypen immer noch wirkmächtig. Die Werke, in denen negative jüdischen Gestalten auftauchen, sollen zwar nicht pauschal verworfen werden, »[a]ber ebensowenig sollten wir verkennen, daß diese Gestalten Produkte der Judenfeindlichkeit sind, daß ihnen, bildlich gesprochen, eine untergeschobene Leiche zugrunde liegt.«6Ruth Klüger: Katastrophe. Über deutsche Literatur. [1994]. Erweiterte Neuauflage. Göttingen 2009, S. 117.

Klüger plädiert für einen kritischen Umgang mit kanonisierten Autoren und Texten seitens der Literaturwissenschaft; für die »Bereitschaft, sich mit moralischen und ästhetischen Widersprüchlichkeiten geduldig auseinanderzusetzen«.7ebd., S. 117. Das umfasst auch eine kritische Analyse des Werks Thomas Manns, bei dem sie ein breites Spektrum der Darstellung von Jüdinnnen und Juden vorfindet, »von den stereotypen Neureichen der ›Buddenbrooks‹ bis hin zu den humorvollen individualisierten Patriarchen der ›Joseph-Tetralogie‹«.8ebd., S. 41. Mit spitzer Feder arbeitet Klüger in dem Artikel Thomas Manns jüdische Gestalten (1990) auf polemische und unterhaltsame Weise Manns Antisemitismus heraus, der sich in einer Vielzahl seiner jüdischen Figuren manifestiert. Dabei geht sie nicht nur werkimmanent vor, sondern zieht zur Untersuchung auch öffentliche Aussagen Thomas Manns heran, die auf frappierende Weise seine Ignoranz gegenüber antisemitistischem Gedankengut belegen. Wenn nicht von Ignoranz, so doch von Verblendung zeugen für Klüger zudem die Versuche von Literaturwissenschaftlern, Manns Antisemitismus wegzuerklären: »Das ist wohl der Rechtfertigungsversuch einer späten Generation von Thomas-Mann-Bewunderern, die ungern einsehen, daß ihr Idol, bei aller geistigen Größe ein Kind seiner Zeit und seines Landes war.«9ebd., S. 53f.

Sukzessiv arbeitete sich Klüger von der Literatur des Barocks über die Aufklärung zur jüngeren Vergangenheit heran. Für sie war die Germanistik kein »nüchternes Studium«, schreibt sie in unterwegs verloren, sondern »eine Droge, die die katastrophale Vergangenheit beschwor und die Möglichkeit in Aussicht stellte, mit den Lagern und dem unverständlichen Haß, den sie verkörperten, ins reine zu kommen« (UV 112). Die Auseinandersetzung mit dem am eigenen Leib erfahrenen Judenhass sollte schließlich in Göttingen erfolgen. Nach dem Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik beschloss Klüger: »Nach Göttingen wollte ich auch nach dieser Tagung zurückkommen und dort meine Vergangenheit, so gut es ging, entwirren.« (UV 148) Die Gelegenheit dafür bot sich mit dem Angebot, das kalifornische Studienzentrum in Göttingen für zwei Jahre zu leiten.

»Den Göttinger Freunden – ein deutsches Buch«

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Ruth Klüger
weiter leben. Eine Jugend

dtv: München 1994
288 Seiten, 08,90 €

»In Göttingen wurde die verschüttete Europäerin in mir wieder lebendig, die sich in meiner Geburtsstadt Wien hinter der Amerikanerin, die ich geworden war, versteckt.« (UV 151) Die Bergung der verschütteten Identität ging einher mit dem Ausgraben von »Gedächtnisbrocken« (WL 158), was sie 1989 beschäftigt hielt. Das Ergebnis dieser Anstrengungen ist ihre erste Autobiographie, in der sie das »berühmte Zeugnis« ablegt, »das wir uns schon immer, seit der Zeit in den Lagern, abverlangt haben« (UV 13). Als Titel des Buchs wählte sie weiter leben, »was nichts anderes zu bedeuten hatte, als daß das Weiterleben von alleine kommt und man nichts dazu tun muß, außer dem Umgebrachtwerden zu entgehen.« (UV 14) Veröffentlicht wurde weiter leben 1992 beim (damals neugegründeten) Wallstein Verlag. Klüger hat sich keinen großartigen Erfolg von der Veröffentlichung des Buches versprochen, »nur gerade genug, um es an Freunde zu verschenken und mir etwas von der Seele zu schreiben.« (UV 157)

Doch es kam anders. Vom Feuilleton positiv aufgenommen, wurde die Autobiographie nach einer besonders lobenden Besprechung im Literarischen Quartett auch zu einem kommerziellen Erfolg: »Daraufhin war das Buch ständig ausverkauft, und zu Weihnachten 1993 waren nicht genug Exemplare in den Buchhandlungen zu haben. Ich hatte einen Beststeller geschrieben.« (UV 163f.) Damit begann für Klüger eine neue Lebensphase, gesteht sie:

Plötzlich war ich gefragt, man schrieb mir Briefe, ich wurde eingeladen, konnte veröffentlichen, was ich wollte, was früher nicht so einfach gewesen wäre.

(UV 164)

Für die akademische Karriere machte es keinen Unterschied, denn zu diesem Zeitpunkt war sie bereits emeritiert. Trotzdem ließ das Tun und Treiben nicht nach. Angespornt durch die neue Aufmerksamkeit schrieb sie »mehr als zuvor, germanistische Arbeiten, Rezensionen, Vorträge hie und da und auch wieder Gedichte«. Schließlich übersetzte sie auch weiter leben ins Englische, »mit so vielen Änderungen, daß fast ein neues Buch daraus wurde«. (UV 165)

»Bewahrung der Stätten. Wozu nur?«

In dem Essay Sag, daß du fünfzehn bist – weiter leben Ruth Klüger (1996) rühmt Herta Müller die Ästhetik der »aus jedem Satz pochend[en] Reflexion«10Herta Müller: Sag, daß du fünfzehn bist – weiter leben Ruth Klüger. In: Ders.: In der Falle. Drei Essays. Zweite Aufl. Göttingen 2009, S. 27. und die Lakonie, die sich aus dem ethischen Anspruch von weiter leben ergibt: »Das ganz direkte Sagen macht dieses Buch so poetisch.«11Ebd., S. 34. Die Literaturwissenschaftlerin Dorothea Kliche-Behnke charakterisiert weiter leben als einen autobiographischen Roman, in dem die Erinnerungen fragmentarisch und stark geschlechterspezifisch präsentiert werden.12Vgl. Dorothea Kliche-Behnke: Nationalsozialismus und Shoah im autobiographischen Roman. Poetologie des Erinnerns bei Ruth Klüger, Martin Walser, Georg Heller und Günter Grass. Berlin/Boston 2016, S. 75. Die Autobiographie ist geprägt von einer Berichtstruktur, da sich trotz der chronologischen Grundstruktur zeitliche Sprünge ergeben; ständige Vor- und Rückblicke, unvermittelte Abbrüche und Neuansätze.13Vgl. ebd., S. 83. Dabei werden die Erinnerungen durchgehend verbunden mit historischen und politischen Reflexionen. Zentral ist jedoch die reflektierte Auslotung der Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns selbst, die Klüger in weiter leben einwebt:

[D]as Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.

(WL 78)

Kliche-Behnke schließt daher, Klügers Autobiographie will nicht das Erlebte möglichst detailgetreu und unmittelbar vergegenwärtigen. Stattdessen wird die Auseinandersetzung mit vorherrschenden Erinnerungsstrategien gesucht, deren Aufgabe es ist, das Erlebte präsent zu halten.14Vgl., ebd., S. 78.

Kritisiert wird in weiter leben daher auch eine Musealisierung der ehemaligen Konzentrationslager: »Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich daß die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein.« (WL 76) Denn einerseits verleiten sie die Besucher*innen dieser Orte zu einer selbstgerechten »Sentimentalität«; indem sie Trauer ausdrücken oder sich ergriffen darstellen, konstruieren sie das Selbstbild des befreiten und geläuterten Deutschen: »Wer fragt nach der Qualität der Empfindungen, wo man stolz ist, überhaupt etwas zu empfinden? Ich meine, verleiten diese renovierten Überbleibsel nicht zur Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle?« (WL 76)

Andererseits dienten diese Orte dazu, ein (um mit Freud zu sprechen) »Unbehagen in der Kultur«, das durch die Shoah offengelegt wurde, zu verbannen. Für Klüger ein Verdrängungsmechanismus statt Ausdruck von Vergangenheitsbewältigung: »Der ungelöste Knoten, den so ein verletztes Tabu wie Massenmord, Kindermord hinterläßt, verwandelt sich zum unerlösten Gespenst, dem wir eine Art Heimat gewähren, wo es spuken darf. Ängstliches Abgrenzen gegen mögliche Vergleiche. Nie wieder soll es geschehen.« (WL 70)

»Wer nur erlebt, reim- und gedankenlos, ist in Gefahr, den Verstand zu verlieren«

Skepsis, wenn nicht sogar Misstrauen gegenüber der Kultur nach Auschwitz, äußert auch Theodor W. Adorno. In dem 1951 erschienen Essay Kulturkritik und Gesellschaft konkludiert er nach geschichtsphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Betrachtungen: »Keine Gesellschaft, die ihrem eigenen Begriff, dem der Menschheit widerspricht, kann das volle Bewußtsein von sich selber haben.«15Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart 1995, S. 38. Immer wieder aufgegriffen und viel diskutiert wurde die ebenfalls in dem gleichen Essay formulierte These »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.«16Ebd., S. 49. Klüger interpretiert diese Aussage in weiter leben als ein generelles Verdikt gegen Gedichte über, von und nach Auschwitz, und bemerkt: »Die Forderung muß von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten.« (WL 127, Obwohl diese Aussage wohl nicht als Verbot zu verstehen sei und generell auf Kunst und Kultur abziele, wie Adorno in nachfolgenden Schriften präzisierte.)

Denn für Klüger und andere Internierte waren Gedichte eine »Stütze«. Dabei hebt sie die Bedeutung der gebundenen Sprache hervor. Sie erklärt, »daß Verse, indem sie die Zeit einteilen, im wörtlichen Sinne ein Zeitvertreib sind. Ist die Zeit schlimm, dann kann man nichts Besseres mit ihr tun, als sie zu vertreiben.« So ging Klüger während der »endlosen Appelle in Auschwitz« (WL 124) die Balladen Schillers im Kopf durch, um die glühende Sonne auszuhalten und den Durst zu vergessen, »weil es immer eine nächste Zeile zum Aufsagen gab, und wenn einem eine Zeile nicht einfiel, so konnte man darüber nachgrübeln, bevor man an die eigene Schwäche dachte.« (WL 124)

Zwei Gedichte über Auschwitz hat sie selbst während ihrer Internierung verfasst; allerdings erst im KZ Christianstadt. Gedichte in gebundener Sprache, mit einem festen Reimschema und durchgehenden Versmaß. »Es sind Kindergedichte«, hebt Klüger hervor, »die in ihrer Regelmäßigkeit ein Gegengewicht zum Chaos stiften wollen, ein poetischer und therapeutischer Versuch, diesem sinnlosen und destruktiven Zirkus, in dem wir untergingen, ein sprachliches Ganzes, Gereimtes entgegenzuhalten.« (WL 126f.) Nüchtern fügt sie allerdings hinzu: »Meinem späteren Geschmack wären Fragmentarisches und Unregelmäßigkeiten lieber, als Ausdruck sporadischer Verzweiflung. Aber der spätere Geschmack hat es leicht. Jetzt hab ich gut reden.« (WL 127) Während ihrer Internierung gab ihr die gebunden Sprache jedoch Halt: »Ich habe den Verstand nicht verloren, ich habe Reime gemacht.« (WL 128)

»[D]as Ablegen der Nummer«

Auch das Stigma, das ihr von den Nazis in Form einer Nummer in die Haut gestochen wurde, ist Gegenstand von Überlegungen in weiter leben. Klüger nahm die Nummer zunächst in die Nachkriegswelt mit und trug sie noch sichtbar am Arm: »Es hängt was an der Nummer, ein Stück Leben und Gedächtnis.« (WL 237) Damit provozierte sie verschiedene Reaktionen ihrer Umgebung: »Symbol der Erniedrigung, sagen die Leute, laß sie dir wegmachen. Symbol der Lebensfähigkeit, sage ich, denn als ich nicht mehr mich und meinen Namen verleugnen mußte, da gehörte es mit zur Befreiung, die Auschwitznummer nicht verdecken zu müssen.« (WL 237) Viele ließen sich die Nummer später entfernen, erzählt Klüger, ihre Mutter selbst hat sie sich bereits in den 1950er Jahre herausschneiden lassen. Für Klüger scheint der Umgang mit der Nummer indes eine private Frage: »Es ist wie mit angeheirateten Namen, wenn man geschieden ist: Manche wollen sie loswerden, manche wollen sie behalten. Die Wahl, scheint mir, ist moralisch neutral.« (WL 237)

In unterwegs verloren greift sie den Umgang mit der Auschwitz-Nummer auf und berichtet, wie sie sie in einer Laserklinik in Kalifornien schließlich doch entfernen ließ. Dabei spielt die Rezeption von weiter leben in Deutschland und Österreich für den Entscheidungsprozess eine wichtige Rolle. »Oftmals, als ich in Österreich oder in Deutschland aus ›weiter leben‹ las, stand nachher in den Zeitungen etwas über die Nummer, einmal unter dem Titel: ›Die Auschwitznummer nicht verdecken.‹ (Das ist ein Zitat aus ›weiter leben‹. Aber aus dem Zusammenhang gerissen.)« An diesem Punkt reichte es ihr. »Nicht länger wollte ich wie die Opfer in Kafkas ›Strafkolonie‹ das ungerechte, das absolute, das unverständliche und der Vernunft nicht zugängliche Gesetz eingeritzt im Körper haben.« (UV 28) »Göttingen hat mir die Gelegenheit gegeben, in Europa wieder […] Fuß zu fassen«

»Ich bin hier fast zu Hause«, merkt Klüger über Göttingen an, »[d]as entscheidende Wort ist ›fast‹. An der Oberfläche bin ich willkommen, mancherlei schwimmt aber unterm Wasser, wo’s dunkel ist.« (UV 177) Wie in Amerika so wurde sie auch während ihrer Zeit als Gastprofessorin in Göttingen das Ziel antisemitischer Attacken. Dazu zählt die sogenannte Schmierfink-Affäre, in der Klüger das Ziel einer antisemitischen Herabsetzung seitens eines Assistenzwissenschaftlers wurde, nachdem sie angeblich in einem Essay einem Göttinger Professor Unrecht getan habe. »[E]ine harmlose, feministisch angehauchte Passage« (UV 178), stellt Klüger klar. Trotzdem lag die Bezichtigung der Ehrbeleidigung in der Luft. Scharfsinnig bemerkt Klüger in diesem Zusammenhang:

Wenn die Universität Göttingen eine Ehre hatte (wieso kann eine Institution überhaupt mit einer solchen aufwarten, und was kann sie damit für ihre Aufgaben, nämlich Lehre und Forschung anfangen?), so ist sie spätestens mit der Ausweisung der jüdischen Professoren, mit denen sich die arischen Kollegen bekanntlich nicht solidarisch erklärten, verloren worden, denke ich; und weiterhin mit dem nazistischen Unsinn, der jahrelang dort unterrichtet wurde, wie auch anderswo in Deutschland.

(UV 179)

(Unsere Reihe ›Kritische Fachgeschichten‹ hat sich bereits umfassender damit auseinandergesetzt, vor allem Oke-Lukas Möller in einem Beitrag über das Seminar für Deutsche Philologie und dessen bereits im »April als überzeugte Antisemiten und linientreue Nazis« hervorstechende Dozenten.) Unter der Kapitelüberschrift Göttinger Neurosen schildert Klüger in unterwegs verloren weitere Vorkommnisse, die ihr Bild der Universitätsstadt trübten – und sie dazu veranlassten, die Gastprofessur nicht zu verlängern: »Ich war froh abzureisen und froh, die Gastprofessur beendet zu haben, lehnte auch eine Verlängerung ab.« (UV 193) Sie überlegte kurzzeitig auch, ob sie die Wohnung in Göttingen aufgeben soll. Doch sie entschied sich dagegen: »Ich habe sie behalten, weil sie ein freundlicher Stützpunkt für mich in Europa ist.« (UV 193)

Seit 2003 ist Ruth Klüger Ehrendoktorin der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität. 2010 erhielt sie die Ehrenmedaille der Stadt Göttingen. Ruth Klüger wurde zu einer Person des öffentlichen Lebens in Göttingen. In letzter Zeit ist sie leider nicht mehr so oft vor Ort, (so sagte man mir zumindest in der Buchhandlung meines Vertrauens, als ich weiter leben erwarb). Aber ihren europäischen Standort hat Ruth Klüger Göttingen noch nicht aufgegeben. »Zugegeben, Göttingen ist Provinz«, bemerkt sie augenzwinkernd, »aber wenn ich im Sommer in Göttingen spazierengehe, dann sehe ich durch die offenen Fenster überall volle Bücherregale. Eine sehr gebildete, lesefreudige Provinz.« (UV 151)

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