Einhelliger Jubel oder so

Am 20. Oktober las Star-Autor Daniel Kehlmann in der Göttinger Lokhalle aus seinem neuen Bestseller in spe Tyll, der Till Eulenspiegel als Zeuge des Dreißigjährigen Krieges imaginiert. Als begnadeter Leser seiner »nächsten literarischen Sensation« begeisterte er seine Fans.

Von Verena Wiechens und Eva Tanita Kraaz

Bild: © Hans Weingartz (www.Hans-Weingartz.de)
Skulptur von Karlheinz Goedtke: Till Eulenspiegel (1951); Material: Bronze; Standort: Mölln – Rathausplatz via wikipedia
/ CC BY-SA 2.0

»Einhelliger, lauter Jubel« wird heraufbeschworen für »die nächste literarische Sensation nach Die Vermessung der Welt«, bevor der Star die Bühne der Lokhalle betritt: Daniel Kehlmann! Im Gepäck hat er seinen neuen Roman Tyll, der die Narrenfigur Till Eulenspiegel um 300 Jahre in die Zukunft verlegt; also von der erstmals 1510 publizierten Erzählung hin zum Dreißigjährige Krieg. Aus den hinteren Reihen können die Fans ihren Lieblingsautor auf Großleinwand per Live-Übertragung verfolgen. Literaturherbst-Dress-Code-konform in schwarzem Anzug, wirkt es zuweilen, als tanze sein Kopf vor dem ebenfalls schwarzen Hintergrund in der Luft, gestützt von einhändiger, wohlüberlegt verhaltener Gestik. Die Stimme leicht gepresst, nicht minder ausdrucksstark mit dem charmant süddeutschen Einschlag, der jeden Vers zum »Wers« werden lässt, leitet Kehlmann keck ein: »Ich beginne mit dem ersten Kapitel, um nicht so viel erklären zu müssen.«

Schuhe heißt es und zitiert den bekannten Eulenspiegel-Streich um die linken Schuhe der Dorfbewohner an, die Tyll als Requisite für einen besonderen Seiltanz benötigt. Sobald sie aber zu Boden fallen, herrscht Chaos; die Schuhe sind ihren Besitzern nur schwerlich zuzuordnen. Prompt entbrennt eine dorfumfassende Keilerei. So steht es in der hergebrachten Schwanksammlung und so erzählt es auch Kehlmanns Neufassung. Todesopfer allerdings gibt es nur in letzterer Version, ebenso wie eine anhaltende Verstörung der Bevölkerung über die offengelegten schwelenden Konflikte. Klar, für die durchpsychologisierten Bewohner des Dorfes sind nicht die Schuhe der eigentliche Grund sich zu prügeln sondern bloß Anlass, ihren lang gehegten Animositäten Luft zu machen. Naja, einige Zeit später sterben sie eh alle, weil der Dreißigjährige Krieg die ländliche Scheinidylle überrollt – bis auf den »lahmen Hans Semmler« und ein Liebespaar, das sich aus der Stadt geschlichen hatte…die sterben dann aber auch bald. So bleibt Tyll als Einziger zurück, der das Schicksal des Dorfes bezeugen kann. Das Kapitel endet mit einem langgezogenen, betonten: »Denn es ist – alles – nicht – lang – her.«

Sicher hat Kehlmann es lapidar gesprochen, das »um nicht so viel erklären zu müssen«. Tatsächlich ist der gelesene Abschnitt gerade aus diesem Grund aber eine ausgezeichnete Wahl für den Lesungsbeginn. Er führt zum Beispiel sachte ein in das Kehlmann’sche Konzept der Zeitsprünge. Eingebettet ist die Episode nämlich in die Erzählung von Martha, einem 12-jährigen Dorfmädchen, das in heimeliger Eintracht ihren Kindern und Enkeln von der Begegnung mit Tyll berichtet. Sie erzählt von Tylls Versuch sie davon zu überzeugen, mit ihm zu ziehen und das Dorf, in dem der Schuh-Streich ausgeführt wurde, zu verlassen. Sein Werben bleibt vergebens. Erst das Kapitelende klärt auf: Die Entscheidung zu bleiben endete für Martha in Wahrheit tödlich. Sie erstickt während des Überfalls der Kriegsanhänger auf ihr Dorf. Kinder bekommt sie tatsächlich nie. Der Erzählanlass wird also nachträglich annulliert; Kehlmann führt gekonnt auf die falsche Spur. Die analeptische Erzählung aus der lediglich hypothetischen Gegenwart heraus etabliert die Rolle des Dreißigjährigen Krieges als Zukunftsräuber. Eine Begegnung mit Eulenspiegel, die den Geschädigten im besten Falle die Möglichkeit zur Einsicht gibt, wird damit nihilistisch umgekehrt. Wer tot ist, dem nützt auch die größte Erkenntnis nicht mehr viel. Das reduziert natürlich auch Tylls Rolle auf die Zeugenschaft seiner eigenen Streiche.

Die hörspielhafte Stimmvarianz, mit der Kehlmann seinen einzelnen Charakteren liebevoll ihren eigenen Sound gibt, unterbricht er nun, um eine wirre Brücke zu seinem wirren dritten Kapitel zu schlagen. Der Aufbau des Buchs basiert auf dem Vorteil von Tylls berufsbedingter Mobilität: Als Narr hat er Zugang zu allen Ständen und Orten, die sonst hermetisch bleiben. In den einzelnen Episoden ist er deshalb eher eine Randfigur. Tyll dient quasi als Wasserzeichen, das bei der Darstellung eines möglichst weitreichenden gesellschaftlichen Einblicks auf organische Weise den Wiedererkennungswert zwischen den einzelnen Kapiteln gewähren soll. Eine Ausnahme dazu bildet das zweite Kapitel. Hier wird Tyll zum konkreten Protagonisten. Seine Jugend als Müllerssohn wird von den ersten Versuchen auf einem Seil zu balancieren bis hin zum Entschluss die Heimat zu verlassen in den Blick genommen. Der Abschnitt feilt also aus, wie der Junge zum Narrentum überläuft. Für die Lesung lässt Kehlmann das Kapitel aus und skizziert es stattdessen lediglich. In seiner grob deutenden Zusammenfassung reduziert er es schnöde darauf, dass Tylls Vater Opfer der Inquisition wird. Dann fährt er unverwandt mit der Lesung des dritten Kapitels fort: Zusmarshausen.

Zusmarshausen ist der Ort, in dem historisch belegt das letzte größere Gefecht des Dreißigjährigen Krieges stattfand. Dorthin gelangt Tyll als Gefolgsmann Martin von Wolkensteins, auf den das Kapitel fokussiert ist. Das Setting ist so kompliziert wie es öde ist: Von Wolkenstein ist der zuversichtliche, dicke Naivling (zuweilen wird auf ihn einfach nur kurz durch die Bezeichnung »der dicke Graf« verwiesen), den der zerschossene Schädel einer Gans traumatisiert. Als Analepse wird dessen lückenhafter und beschönigter Lebensbericht vernichtend kommentiert erzählt. Das 50-seitige Kapitel, das Kehlmann ungekürzt vorliest, trägt sich allein durch die Spannung zwischen Lebensbericht und Kommentar. Die übersteigerte Befindlichkeit des Protagonisten mündet in der Unfähigkeit vom Krieg zu berichten. Der alte Hut, dass der Krieg als das Grauenhafte unsagbar bleibt, wird ironisch verziert durch einen Gegenentwurf: Kehlmann leistet nämlich in seinem Kommentar, was weder der dicke Graf noch – so will es uns der extradiegetische Erzähler weismachen – dessen real existierendes Vorbild Grimmelshausen zustande bringen konnten und beschreibt detailreich und gekonnt die letzte große Schlacht.

Die ausgewählten Textstellen präsentieren den Romantitelhelden als äußerst passiv. Tyll Ulenspiegel wird beobachtet, gefeiert und gesucht. Das alles geschieht vor dem omnipräsenten Grauen und Wüten kriegerischer Konflikte. Die Kapitel-Zusammenstellung lässt die Vermutung zu, dass Tyll lediglich erzähltechnisches und immersionserzeugendes Mittel zum Zweck ist. Der Text kommt so nur als historischer Roman gekleidet daher, der sich verkrampft mit Gegenwartsbezügen schmückt.
Tyll mag alle formalen Eigenschaften eines großen Clous erfüllen. In seiner Anlage ist er allerdings bloß ein Konvolut linker Schuhe von Erzähltechniken.

Sehr pünktlich nach 90 Minuten endet die Lesung. Der Star legt sein Headset ab, bedankt sich höflich und geht ab. Kehlmanns formidable Lesestimme versöhnt mit seinem unvermeidlichen Bestseller in spe. Und so darf auch das Warten in der »Fan-Reihe« für ein Autogramm im eigenen Exemplar der mittelmäßigen literarischen Sensation nicht ausgelassen werden.

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