Glaubhaft grausam

Ein Elternpaar macht Reibach, indem es die Würde der Tochter mit Füßen tritt und Videoaufnahmen davon verhökert. Das Göttinger DT zeigt Clemens J. Setzʼ schockierendes Dramendebüt Vereinte Nationen in einer Inszenierung des Hausregisseurs Matthias Kaschig. Am 29. September war die Premiere.

Von Stefan Walfort

Fotos: © Thomas Müller
Auf dem Bild: Christina Jung, Emma Menssen, Marco Matthes

Wie viele im Publikum mögen wohl mit dem Impuls ringen, auf die Bühne zu rennen und Anton eine zu tafeln? Vor laufender Kamera faltet der nämlich seine 7-jährige Tochter Martina zusammen. Er wirft ihr vor, mit Nahrung geworfen zu haben. Er zwingt sie, brav alles aufzuessen; Versuche, zu protestieren, würgt er ab: »Den Ton kannst du vor den Vereinten Nationen anschlagen, aber nicht bei mir.« Mit Hilfe seines Freundes Oscar (Nikolaus Kühn), der den Markt beobachtet, Rezensionen liest und Feedback gibt, verkauft Anton die Aufnahmen. Allmählich steigt er zum Star der zahlungskräftigen Voyeure auf. Doch hätte nicht Martinas Mutter Karin so manch eine Ohrfeige viel mehr noch verdient als er? Immerhin macht sie beim Begutachten der Videos keinen Hehl aus ihrer Faszination für die Subtilität, mit der Anton die Kleine verunsichert: »Schau, wie ihre Schultern zusammengehen. Sie weiß nicht genau, was das ist, Vereinte Nationen. Sie hat es vielleicht schon mal gehört, aber es gehört in eine andere Sphäre. […] Sie ist total in die Ecke gedrängt. Arme kleine Maus, hahaha.«

Noch als Anton längst mit seinem Gewissen hadert und ‒ so pervers das auch scheinen mag ‒ nach Wegen sucht, eine Güterabwägung zwischen seinem ökonomischen Interesse und den Bedürfnissen des Mädchens hinzubekommen, insistiert Karin darauf, die Kunden mit möglichst abgefahrenen »Natural-Szenen« zu beliefern. Während er dafür plädiert, die Kleine nicht länger zu demütigen, sie stattdessen nur die Gedemütigte spielen zu lassen, befürchtet Karin, sie gäben Martina dann Mittel in die Hand, mit denen sie die elterliche Autorität zu untergraben lernte. Streit gibt es ferner, weil Karin in den Videos nicht auftreten darf. Christina Jung gibt sich in der Rolle jähzornig, beinahe tyrannisch. Wenn sie wiederholt ihr Recht auf Mitwirkung einfordert, geschieht das mit allerlei Gebrüll, und doch lässt sich Anton nicht erweichen. Deshalb will sie sich gemeinsam mit Oskars Freundin Jessica (Maja Müller-Bula) hinter dessen Rücken unabhängig machen, selber Videos drehen, ein »eigenes Imperium« aufbauen. Dabei offenbart sie nicht nur ein fragwürdiges Verständnis von Emanzipation, sie überschreitet auch noch die Grenze zur physischen Gewalt. Als sie ihre völlig verstörte Tochter unterm Tisch hervorzerrt, sie schüttelt, sie anbrüllt, platzt zufällig Anton herein. In letzter Sekunde kann er verhindern, dass es zu schwerwiegenden Misshandlungen kommt. Dennoch bleibt er zu gierig, um das Geschäft mit der Demütigung Martinas zu beenden.

Offene Türen

Die Videos spülen ordentlich Geld in die Haushaltskasse. Fix gewöhnen sich Karin und Anton an einen Lebensstandard, hinter den sie auf keinen Fall zurück wollen. Zudem heizt Oscar das Streben der beiden nach Effizienz permanent an. Er empfiehlt beispielsweise, am Markt noch unterrepräsentierte Kategorien zu bespielen: Das Zerschneiden oder Verbrennen der Lieblingskleidung Martinas werde sicher gut ankommen ‒ vor allem, wenn es vor den Augen des Kindes geschehe. Ausreden, mit denen Anton das Treten der Würde Martinas zur gewöhnlichen Erziehungsmaßnahme deklariert, begegnet er unkritisch. Nur der wirtschaftliche Erfolg interessiert ihn. Sein Blick klebt am Smartphone. »Sehe ich aus wie ein Kirchenchor?«, fragt er rhetorisch und setzt, als sich Anton begriffsstutzig zeigt, hinzu: »Du rennst bei mir offene Türen ein.«

Marco Matthes, Christina Jung. Foto: Thomas Müller

Clemens J. Setz, bislang bekannt unter anderem für den 2015 mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis prämierten Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, versteht es, einem das Lachen im Hals steckenbleiben zu lassen. Wenn in dem so wuchtigen wie lesenswerten Wälzer das ehemalige Stalking-Opfer Chris Hollberg den Spieß umdreht, die Hilfebedürftigkeit des inzwischen schwerbehinderten Stalkers ausnutzt, um nun ihn selbst zu stalken, ihn zu quälen und über Jahre hinweg zu manipulieren, bis er Hollberg mit Mäusekadavern präparierte Pralinen aus der Hand frisst, greifen Komik und Infamie auf schockierende Weise ineinander. Und auch dem Publikum im DT bleibt die Spucke weg, wenn es mit ansehen muss, wie Machtmissbrauch die Fürsorge, zu der Karin und Anton eigentlich verpflichtet wären, ersetzt. So setzt sich nach anfänglichem Kichern während etwa des letzten Dreiviertels des Abends eine beklemmende Stille durch.

Zwar verführt das Stück zu vollumfänglicher Distanznahme, doch das Team um den Regisseur Matthias Kaschig entlässt die Zuschauer nicht aus ihrer Verantwortung: Eine vierte Wand existiert nicht. Wenn Karin und Anton ihre Videos bestaunen, streckt Anton seine Hand mit der Fernbedienung nicht etwa in Richtung eines Bildschirms aus, sondern gen Publikum. Wenn Oscar von der Zuschauertribüne aus Wünsche der Kunden an den auf der Bühne herumtigernden Anton weiterleitet, ist Oscar umringt vom Publikum. Es entsteht der Eindruck, Anton werde unmittelbar mit der geballten Macht einer Masse von Interessenten konfrontiert. Wie viele im Saal mögen wohl insgeheim dagegen protestieren, derart vereinnahmt zu werden? Wie viele mögen in sich hineinhorchen auf der Suche nach dem eigenen Beitrag zur Genese einer Erwartungshaltung, die forciert, was auf der Bühne geschieht oder Ähnliches? Inwieweit erzeugt jeder Einzelne, zum Beispiel durch das Einspeisen von Details aus dem Privatleben in die sogenannten sozialen Netzwerke, den gesellschaftlichen Druck, alles Private öffentlichkeitstauglich zu machen, also allem Privaten etwas Spektakuläres zu verleihen? »Was ist möglich, wenn das der Kern der Existenz, auch der finanziellen Existenz der Zukunftsplanung ist?«1Setz, Clemens/Behrendt, Eva: Der unheimliche Kern des Ganzen. In: Theater heute 4 (2017), S. 42. Mit der zentralen Frage, die Setz in Vereinte Nationen verhandelt sieht, bringt das Stück auf den Punkt, welches Dilemma in aktuellen Debatten über einen sich radikal wandelnden Arbeitsbegriff viel stärker noch in den Fokus geraten müsste, als es der Fall ist, auch wenn mittlerweile endlich die politischen Parteien beginnen, das Thema auf ihre Agenden zu übernehmen.

Steril statt vital

Leider richten die bislang noch größtenteils rückwärtsgewandt wirkenden Ideen der Parteien wenig aus gegen ein Menschenbild, dessen Designer trotz des Marketings mit innovativ klingenden Modewörtern wie »Crowdworking« nur »Frühkapitalismus im neuen Kleid«2Nach links? Mehr Emotionalität, weniger Themenhopping. Andrea Nahles will den digitalen Kapitalismus einhegen und der SPD sechs Fragen stellen, die wehtun. In: DIE ZEIT. Hamburg,12.10.2017, S. 2. anpreisen. Wer weiß, ob nicht im Kontrast zu sich künftig etablierenden Geschäftsmodellen Antons und Karins Gebaren als vergleichsweise harmlos erscheinen wird? Die Aussicht darauf stimmt wenig euphorisch. Daher wundert es nicht, wenn Ratlosigkeit das Resultat eines solchen Theaterabends ist. Die Leistungen der Schauspieler schmälert das dennoch nicht. Eine Sterilität ausstrahlende Atmosphäre unterstützt sie perfekt. Vor einer Kulisse, die sowohl zum Ess- als auch zum Schlaf- und zum Wohnzimmer taugt, vor einer Wand, die sich aus den gleichen monochromen und leicht zu reinigenden Puzzle-Elementen zusammensetzt wie der Boden, inmitten von knautschigem Mobiliar mit Plastikbezug wirken alle in ihren Rollen glaubhaft: Christina Jung und Marco Matthes als grausames Elternpaar, Nikolaus Kühn als emotionsloser Profiteur, Vera Roddatis als verunsicherte Martina. Selbst Maja Müller-Bulas farblose Nebenrolle fügt sich ins Gesamtbild. Aus den wenigen für sie vorgesehenen Repliken wäre auch schwer mehr Vitalität herauszuholen gewesen. Im Großen und Ganzen war es also eine gelungene Inszenierung, über die sich ein Resümee nur mit den Worten Alexander Jürgs anlässlich der diesjährigen Uraufführung des Stücks am Mannheimer Nationaltheater abschließen lässt: »Dass das Theaterdebüt von Clemens J. Setz bald auch an anderen Häusern gespielt wird, wäre jedenfalls sehr wünschenswert.«3Jürgs, Alexander: Was das Netz mit uns macht, 15.01.2017, Url: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13500:vereinte-nationen-tim-egloff-inszeniert-in-mannheim-das-erste-theaterstueck-von-schriftsteller-clemens-j-setz&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40, letzer Aufruf: 16.10.2017.

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