Laudatio auf Dietmar Dath

Am 30. und 31. Januar ist der Autor und Journalist Dietmar Dath zu Gast in der Göttinger Aula am Wilhelmsplatz. Er bewegt sich zwischen FAZ und Titanic, Science-Fiction und Karl Marx. Die Einführung in seine »Lichtenberg-Poetikvorlesungen« hielt Niels Penke.

Redemanuskript von Niels Penke, es gilt das gesprochene Wort

Bild: Sebastian Becker, mit freundlicher Genehmigung des Literarischen Zentrums Göttingen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste, lieber Dietmar Dath,

wer hätte gedacht, dass vor den Porträts der Königswand einmal ein linker Autor auftreten würde, der vor allem in literarischen Genres wie der Science-Fiction, Horror oder auch, unbeholfen allgemein ausgedrückt, der Pop-Literatur zu Hause ist. Vor diesem Hintergrund ist Dietmar Dath ein zumindest unwahrscheinlicher Gast. Weniger vielleicht, lässt man den Namensgeber dieser Poetik-Dozentur zu seinem Recht kommen, Georg Christoph Lichtenberg: Unerbittlicher Beobachter und Zeitkritiker, mit dem Dietmar Dath nicht nur die Vorliebe für die Physik teilt.

Poetikvorlesung

Zum 19. Mal findet am 29. und 30. Januar 2020 in der Aula am Wilhelmsplatz die Lichtenberg-Poetikvorlesung statt. Sie wird ausgerichtet vom Literarischen Zentrum, gefördert von der Stiftung Niedersachsen und in Kooperation mit dem Wallstein Verlag und der Georg-August-Universität Göttingen organisiert und durchgeführt. Dieses Jahr wird Dietmar Dath mit der Dozentur geehrt.   

Ohne jeden Zweifel ist die Einladung Dietmar Daths ein Glücksfall für eine solche Poetikdozentur. Denn für wen er eigentlich mit welchen Absichten schreibe, das fragen sich wahrscheinlich viele, die mehr als nur einen Roman Dietmar Daths gelesen haben, oder die vielleicht sogar den geradezu aberwitzigen Versuch unternehmen, alles zu lesen und dem Gesamtwerk Dath auf die Spur zu kommen versuchen. Diese Frage lässt sich auch als Literaturwissenschaftler stellen angesichts eines beständig wachsenden Werks, das bereits quantitativ kaum zu bewältigen ist. Aktuell sind es rund 25 Romane, über 10 Großessays und Sachbücher, je ein halbes Dutzend Theaterstücke und Hörspiele, ein Lyrikband, mehrere Übersetzungen und, wie Wikipedia schätzt, »mehr als 700 verstreute, vor allem feuilletonistische Veröffentlichungen,« die irgendwo zwischen Spex, Jungle World, Neues Deutschland, Titanic, Konkret, Testcard und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheinen – letzteres als Beleg für den Stimmenpluralismus der tendenziell eher konservativen Zeitung. Dies alles ist beachtlich und aufmerksamkeitsökonomisch ungewöhnlich zugleich – denn angesichts schrumpfender zeitlicher Ressourcen bei einem gleichzeitigen Allzeithoch der Text- und Buchproduktion, ist Dietmar Dath ein Autor, dem schwer zu folgen ist. Dietmar Daths geradezu unheimliche Produktivität, die schiere Quantität des ›Gesamtwerks‹ ebenso wie die Vielfalt der bedienten Formate und Genres ist ein starkes Distinktionsmerkmal im Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Doch diese Quantität schlägt nirgends in Beliebigkeit aus. Vielleicht rührt daher das Unbehagen, das einen bei der Dath-Lektüre beschleicht – ihr Verfasser zeichnet sich durch eine Gelehrsamkeit aus, die der Produktivität wenig nachsteht. Einige der Zentralgestirne in Dietmar Daths Denk- und Werk-Kosmos sind bald bekannt, und werden beständig aufgerufen: Karl Marx, Paul Dirac und Ursula K. Le Guin etwa, gewiss ein eigener Kanon, und ein ebensolches Archiv, wenn es um die Figuren, Motive, Bands, Alben und Songs aus, grob gesprochen, pop- und populärkulturellen Beständen geht. Auch hier ist die Differenz deutlich – denn die tatsächlich populären, zumal Pop-Literatur-bekannten Bands und Musiker findet man mit Ausnahme von Iron Maiden eben selten, an ihrer Stelle US-amerikanische Thrash Metal oder französische Black Metal-Bands aus der dritten Reihe.

Nicht nur schöpft Dietmar Dath aus sehr unterschiedlichen Archiven, sondern er hat selbst ein ur-eigenes Dath-Archiv und Figurenuniversum erschaffen, in das nicht leicht zu folgen ist. Sind wir aber einmal drin, dann sind es zumeist weibliche Figuren und Heldinnen, irgendwo zwischen Rosa Luxemburg und Buffy the Vampire-Slayer, die in den mitunter dystopischen Welten den Überblick behalten und das richtige zu tun wissen. Wie etwa die zeitreisende Komponistin Cordula Späth, die bereits seit Dietmar Daths Romandebüt Cordula killt Dich! aus dem Jahr 1995 Zusammenhänge zwischen den erzählten Welten herstellt und Orientierung in den Referenzgewittern bietet.

Wenn sich die Bezüge so zahlreich gestalten – zwischen politischer Theorie, zwischen Science-Fiction, Horror-Trash, Fantasy und Heavy Metal, zwischen Evolutions-, Klima- und Quantentheorien rufen diese eine überbordende Fülle an Referenzen auf, die ja wer eigentlich alle verstehend in den Blick bekommen soll? Besonders dann, wenn auch noch formale oder erzählerische Experimente unternommen werden, die nicht selten mit Brüchen, mit meist größeren als kleineren Überraschungen einhergehen. In Für immer in Honig etwa – wir bewegen uns mit dem Mathematik-Lehrer Phillip in die Provinz, erfahren von Dingen, die irgendwo zwischen #Baseballschlägerjahren und #Dorfkind das abbilden, was deutsche Gegenwart jenseits der Metropolen vielerorts auch bedeutet – perspektivlose Tristesse, Gewalt und Rechtsradikalismus. In diesen scheinbaren Provinzroman bricht allerdings aus heiterem Himmel nach über einhundert Seiten die Apokalypse herein, eine Zombieapokalypse – das Ganze ist hochgradig intertextuell aufgeladen, und mehrschichtig arrangiert – Erzählen und Theoretisieren wechseln einander ab, die Neigung zu großen Brüchen und Umwälzungen geht mit der Reflexion von Revolutionen in politischer wie in wissenschaftlicher Theorie einher. Ernst, Komik und Drastik kommen dabei immer wieder zur Deckung.

Brüche wie diese sind jedoch keine Inkonsistenzen, sondern beweisen stets aufs Neue, wie schnell wir einer erzählten Welt und ihrer Erzählinstanz vertrauen – und wie sehr dieses Vertrauen auf das Vertraute, das Konventionelle, den Möglichkeitsraum der Imagination begrenzt. Dietmar Daths Erzählen ist daher als disruptives Ereignis zu verstehen, das im Kleinen wie im Großen mit Gewohnheiten bricht, neue Perspektiven erkundet und gelegentlich eben auch überfordert.

Von Frederick Jameson stammt die häufig zitierte Aussage, dass sich die Menschen des 21. Jahrhunderts eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen können – bei Dietmar Dath, meine Damen und Herren, finden Sie beides. Störungen, Krisen und Ausnahmezustände, die vom Ende der uns gewohnten Welt erzählen. Sie finden auch, aber nicht nur, Neuanfänge oder Versuche der Restitution von Ordnung jenseits autoritärer Lösungen, die gekoppelt sind an Entwürfe sozialen Fortschritts, die über den Kapitalismus hinausweisen und Formen der »unvernünftigen Gesellschaft« zu überwinden trachten. Sozialer Fortschritt, der, wie Dietmar Dath diesen gemeinsam mit Barbara Kirchner in Der Implex (2012) historisch hergeleitet und prospektiv entwickelt hat, zielt auf die Abschaffung jedes Unrechts, um »die Menschheit als Gattung überhaupt erst herzustellen.« Es geht nämlich daher eben nicht um nur die typischen Dystopien, die Zusammenbrüche von Ordnungen und Gesellschaften, sondern um utopische Ausblicke, um »Konturen des Wünschenswerten aus dem Schlamm des Vorhandenen.« Der Zukunftsdenker Dietmar Dath verfolgt nicht nur absteigende Linien, sondern eröffnet auch neue: auf andere Formen des Zusammenlebens, und des Lebens überhaupt. ob der Mensch in seiner herkömmlichen Gestalt dabei auch zukünftig die dominierende Spezies bleibt, wird zumindest in Die Abschaffung der Arten in Frage gestellt. In solchen Entwürfen, nicht nur Die Abschaffung der Arten, sondern auch anderen Romanen wie Pulsarnacht, Venus siegt, Feldevayé, Der Schnitt durch die Sonne oder zuletzt Neptunation macht Dietmar Dath von den Potentialen der Science-Fiction als »Möglichkeitsmaschine« Gebrauch. Über die Leistungsstärke dieser »Möglichkeitsmaschinen« hat er in seinem 2019 erschienenen, 942 Seiten starken Buch Niegeschichte nachgedacht. Diese »Niegeschichten« sind auch Erzählungen von Nie- oder Nichtorten, den noch nicht erreichbaren Räumen und den Utopien, die noch nicht sind und vielleicht auch nie so sein werden, die aber immerhin möglich erscheinen. In jedem Fall erlauben sie es, das seit Marx bestehende Bilderverbot zu umgehen, und utopische Zeiten und Räume plastisch vor- und damit zur Disposition zu stellen. Dietmar Daths Science-Fiction verbindet Rückblick und Vorausschau, so wie die Weltraumfahrt die Erde hinter sich lässt – aber, und das ist das Entscheidende, den Blick nicht gänzlich abzukehren, sondern das Menschsein auf diesem einen Planeten aus der Distanz, die mal Rückschau, mal Prophetie bedeutet, zu erörtern. Eine reflektierte Bespiegelung komplexer Gesamtkonstellationen, wie es in Neptunation, ebenfalls von 2019 heißt, ist der Weltraum »der richtige Ort, viele Dinge der Erde klarer zu sehen.« Fortschrittsoptimistisch sind Dietmar Daths Utopien einem strikten »Denken nach vorn« verpflichtet.

Damit ist Dietmar Dath zweifelsohne das, was man einen engagierten Autor nennen kann, der sich um mehr als eine drängende Frage der Gegenwart bemüht, allerdings ohne dass er die interventionalistische Penetranz von Großschriftstellern vergangener Jahrzehnte wiederholen würde.

Die Arbeit an diesen Visionen ist eine doppelte. So wie die Möglichkeiten von Revolution und Verbesserung aller Verhältnisse immer wieder aufs Neue formuliert werden, so sind die Romane Versuche, die dafür definitive Form zu finden; als Arbeit an der Form und Erzählverfahren der Utopie, die möglich, aber nirgendwo bereits verwirklicht sind. In Phonon oder Staat ohne Namen vertritt Martin Mahr, eines der vielen Alter egos Dietmar Daths, den Anspruch alles »immer besser« zu machen, sich nie zu genügen und zufrieden zu geben. Dies lässt sich mit dem romantischen Konzept der Perfektibilität verstehen. Immer weiter und immer wieder neu schreiben heißt, dem Anspruch auf Vollendung nachzujagen, die Ironie des Versuchs aber liegt im Bewusstsein seiner Unmöglichkeit: Es gibt keine endgültige, keine definitive Form, sondern immer nur vorläufige Annäherungen. So ist jedes vermeintliche Ende zugleich der Ausgangspunkt für nachfolgende Erkundungen, und ein Erzählen das zwischen deutscher Provinz und Weltraum, gestern und heute, alternativer Gegenwart und ferner Zukunft, Mensch und Tier, high und low, Reaktion und Revolution vermittelt.

Sie alle sind getragen von einer Liebe zur Komplexität, von der Lust an der Überforderung und dem scheinbar Widersprüchlichen, das doch vieler Orten überraschende Verbindungen aufweist und dennoch in so etwas wie Ordnung zu integrieren ist, ist die Perspektive ausreichend weit eingestellt. Und darin die Einsicht bezeugt, dass Antworten auf dringende Fragen – der Nutzung von Ressourcen, der Organisation von Arbeit und Zusammenleben oder kommunikativen Infrastrukturen, nicht zuletzt der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, gelingen können, wenn der gedankliche Möglichkeitsspielraum nur ausgeschöpft wird.

Pop-literarische Verfahren auf der einen und weit ausholende Revolutionstheorien auf der anderen Seite, die in diesen Formen nirgendwo anders so zusammenkommen. Und nein, eigentlich sind es keine zwei Seiten, sondern sie gehören, wie immer wieder aufs Neue bewiesen wird, untrennbar zusammen. Pop und Sozialismus. Was zunächst nach Gegensatz oder Widerspruch klingen mag, ist bei Dietmar Dath keiner. Eines haben sie vor allem gemeinsam – die Tendenz zum Ganzen, zur Totalität. Sie kennen keine Grenzen und zielen darauf, Parteiungen zu überwinden, sie sind mit einer globalen Orientierung versehen und funktionieren umso besser, je mehr Subjekte freiwillig an ihnen und der »freien Assoziation« Teil haben. Sie sind, wie Dietmar Daths Romane ein ums andere Mal vorführen, für alle, und in ihrem utopischen Anspruch, auch zum Wohle aller – in publica commoda, und damit diesem Ort, der Universität Göttingen, wiederum ganz wunderbar entsprechend. Lieber Dietmar Dath, herzlichen willkommen!

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