Mehr Glitzer als Tiefgang

Lutz Keßler und Nico Dietrich holen Gunnar Dreßlers Theateradaption Ziemlich beste Freunde auf die Bühne des Jungen Theaters in Göttingen. Über Meta-Ebenen, Rollenwechsel und Schokoküsse als Lösung für ein Stück, dem ein populärer Film vorausgeht.

Von Melina Wießler

Fotos: © Dorothea Heise
Auf dem Titelbild: Peter Christoph Scholz, Jan Reinartz

Die Theaterfassung eines erfolgreichen Films mag dazu verleiten, der Aufführung mit hohen Ansprüchen entgegenzusehen. Es fragt sich, ob das Stück in dessen Schatten zurückbleibt, ob es sich von ihm löst und eine eigene Sache daraus macht und vor allem: wie mit einem populären Vorgänger umgegangen wird. Ein vergleichender Blick vom Film auf die Inszenierung bietet sich da an.

Die 90-minütige Inszenierung von Ziemlich beste Freunde – die Dramaturgie liegt in den Händen von Lutz Keßler und Nico Dietrich, die Premiere feierte das Stück bereits am 3. Dezember 2016 – geht den offensiven Weg. Das verrät bereits das noch unbelebte Bühnenbild: Die beiden Schaufensterpuppen, eine im Rollstuhl, die andere dahinter, spielen auf das bekannte Filmplakat mit den Schauspielern Omar Sy und François Cluzet an.
Der Beginn: Unvermittelt brechen die Fanfaren und das kaltblaue Geblinke einer überkandidelten Late Night Show über das Publikum herein. Schauspielerin Franziska Lather verkündet, im Scheinwerferlicht glitzernd, Thema dieses Abends sei Ziemlich beste Freunde; das übrige Ensemble gibt die überzogen klischeehaft dargestellten GesprächsteilnehmerInnen. Routiniert vermittelt Lather als Moderatorin die Vorgeschichte des Stücks: das Buch von Philippe Pozzo di Borgo, der erfolgreiche Film von Olivier Nakache und Éric Toledano, schließlich die Bühnenadaption von Gunnar Dreßler. Les Intouchables, sagt sie, sei der französische Originaltitel und bedeute im Übrigen »die Unberührbaren, die Aussätzigen, Leprakranke«. Nachdem ihre Gäste reihum ein schnelles Urteil über die Schaufensterpuppen und den bereits bekannten Inhalt des Films und somit des folgenden Theaterstücks fällen dürfen, leitet die Moderatorin zum Eigentlichen über und verkündet den Beginn der Aufführung.

Der reiche querschnittsgelähmte Philippe ist auf der Suche nach einem neuen Pfleger, der ihm im Alltag zur Seite steht. Zum Bewerbungsgespräch taucht auch der Kleinkriminelle Driss auf, frisch aus dem Gefängnis entlassen und auf Sozialhilfe angewiesen. Er hat kein Interesse daran, die Stelle tatsächlich anzutreten, braucht aber die Unterschrift eines potenziellen Arbeitgebers, um beim Arbeitsamt zu beweisen, dass er sich um einen Job bemüht hat. Zu seiner Überraschung aber nimmt Philippe ihn als Pfleger an. Mit seiner direkten und mitleidslosen Art stößt Driss Philippe und sein Umfeld häufig vor den Kopf. Er stellt viel Unsinn an, schafft es aber auch, Philippe zum Lachen zu bringen und seinen Lebenswillen wieder zu erwecken.
So setzt er sich beispielsweise dafür ein, dass jener über seinen Schatten springt und zum ersten Mal mit seiner langjährig verehrten Brieffreundin Eleonore telefoniert. Umgekehrt führt Philippe Driss an die moderne Kunst heran und ermöglicht es ihm, eigens angefertigte Gemälde zu verkaufen. Als Driss‘ Familie seine Hilfe braucht, trennen sich die beiden schweren Herzens voneinander. Ohne seinen Pfleger versinkt Philippe erneut in einen depressiven Zustand. Der währt aber nicht lang, denn Driss taucht wieder auf, holt ihn ins Leben zurück und arrangiert ein Treffen mit Eleonore.
Die Aufführung dieser Geschichte ist konstruiert in einer schlaglichtartigen Aufeinanderfolge von Szenen, die Überleitungen fallen weg, es werden Regieanweisungen laut vorgetragen – was meistens eher überflüssig ist.

Jeder spielt jeden

V.l.n.r.: Jan Reinartz, Linda Elsner, Peter Christoph Scholz, Agnes Giese, Karsten Zinser, Franziska Lather

Spannend zu beobachten ist dagegen der stete Rollenwechsel der SchauspielerInnen. Das Licht blendet immer wieder ab und in der Dunkelheit, die die Szenen voneinander trennt, werden die Rollen jedes Mal neu verteilt. Jede/r der AkteurInnen ist für die Dauer einer Szene mal Philippe, um später dann Driss zu mimen oder wiederum als Magalie, Philippes Assistentin, über die Bühne zu stolzieren. Der Kostümwechsel gestaltet sich einfach und beinhaltet stets ein Merkmal: Philippe kennzeichnen Halstuch, Jackett und der Rollstuhl, Magalies Attribut ist ein Paar ziemlich mörderischer High-Heels, für Driss reicht die Kapuzenjacke. Driss‘ ethnische Herkunft, die von gewisser Bedeutung ist, geht dabei nicht zwingend verloren. Vor dem Hintergrund der Schilderung des filmischen Inhalts, der eingangs durch die Talkshow-Gäste offensiv thematisiert wurde, bleibt sie in der Anlage der Figur bestehen.
Besonders gefallen Katharina Brehl als Driss – äußerst überzeugender Rumlunger-Habitus – und Jan Reinartz, der den melancholischen und vornehmen Philippe eindrucksvoll verkörpert. Witzig wird es, wenn Karsten Zinser als Driss nach Magalies´ Gesäß schielt, in deren Haut gerade Peter Christoph Scholz steckt. Durch diese dramaturgischen Kniffe wird letztlich auch herausgestellt, wie leicht es fällt, über gewisse Attribute auf bestimmte Menschentypen hin zu schließen.

Viele Späße, weniger Ernsthaftigkeit

In der bewegten Interaktion der beiden Protagonisten miteinander gibt es auch in der Bühnenfassung leise Momente; der komödiantische Anteil überwiegt aber deutlich. Nachdem Driss mit Philippe beispielsweise mitten in der Nacht an die frische Luft gegangen ist, um ihn von seinen Phantomschmerzen im gefühllosen Körper abzulenken, erzählt der ihm von seiner verstorbenen Frau und der Einsamkeit, die ihn begleitet. Driss ist betroffen, als er erfährt, dass Philippe als einzige erogene Zone die Ohrläppchen bleiben (die Späße darüber bleiben später freilich nicht aus). Nur wenige Augenblicke später wird Philippe zu einem Joint überredet – der triste Moment verfliegt mit dem dichten weißen Rauch.

Vor allem Driss‘ dreiste Unverblümtheit angesichts Philippes Hilflosigkeit sorgt für Lacher im Publikum. So bittet Philippe um ein Stück Schokolade, das er sich selbst natürlich nicht nehmen kann; Driss steht daneben und witzelt: »Keine Arme, keine Schokolade!« Dabei äfft er Philippes Versuche, sich durchzusetzen, genüsslich nach. Die Schokolade bekommt der dann doch, schließlich hat sein Pfleger trotz all seines großmäuligen und aggressiven Gehabes ein weiches Herz.
Dass es sich bei dieser Schokolade um Schokoküsse handelt, ist ein zielgerichtetes Detail – es verdeutlicht die zweite Ebene der Geschichte, die nicht nur das ökonomische Gefälle von arm und reich reflektiert, sondern auch das der ethnischen Herkunft. Die Aufmerksamkeit wird schon eingangs während der Talkshow-Sequenz auf dieses Thema gelenkt: Eine – satirisch überspitzte – Expertenmeinung lautet da nämlich, der Film sei, trotz allen liebenswürdigen Umgangs, für »people of color« problematisch, da die Figuren einander in ihrem Chef-Angestellten-Verhältnis nicht auf einer Ebene begegnen. In diesem Sinne vermittelt das Stück das Credo »Machen, nicht Reden« – alles aufgeregte Diskutieren bringt wenig, wenn sich in der Praxis, also im alltäglichen Umgang miteinander, nichts ändert. Ein vorbildliches Modell bieten da Philippe und Driss an.

Der Wohlhabende und der aus prekären Verhältnissen Stammende: Sie seien also »unberührbar«, »intouchable«, schreibt Philippe Pozzo di Borgo im Vorwort zu seinem autobiografischen Roman. Sein damaliger Pfleger Abdel Yasmin Sellou ist unberührbar, weil er aus dem Maghreb stammt und sich in Frankreich marginalisiert fühlt, was sein Umfeld auch zu spüren bekommt – mit seiner durchaus aggressiven und teilweise gewalttätigen Art hält er andere von sich und seinem Inneren fern. Philippe ist es, weil sich nichts an ihn heranträgt in seinem – laut Abdel – goldenen Käfig des Reichtums und des gefühllosen Körpers.1Pozzo di Borgo, Philippe: Ziemlich beste Freunde. Ein zweites Leben. München: Carl Hanser 2012, S. 8. Diese Ernsthaftigkeit und Tiefe lässt das Theaterstück leider vermissen. Ist schon der Film deutlich leichtfüßiger als das Buch, lässt das Bühnenstück nur noch stellenweise von der Schwermut ahnen, der den Grundton der Autobiografie bestimmt.

Gutes Stück mit unpassendem Rahmen

Das Junge Theater hat sich für Ziemlich beste Freunde Gedanken darum gemacht, wie mit einem Stoff umzugehen ist, der jüngst einen nicht unverdienten festen Platz in der cineastischen Popkultur erhielt. Die hier gebotene offensive Lösung ist mutig und schafft mittels vorgelesener Regieanweisungen und Talkshow-Elemente eine zusätzliche Meta-Ebene. Allerdings ist deren Einsatz bedenklich: Bei der Vorstellung der zur Diskussion eingeladenen ExpertInnen zu Beginn des Stücks verfällt das Theaterpublikum reflexartig in Applaus, beklatscht die Talkshow-Gäste damit gewissermaßen in der Rolle des Talkshow-Publikums. Durchaus ein interessanter Einbezug der ZuschauerInnen; welchen tieferen Sinn er im Zusammenhang mit dem Stück ergibt, bleibt offen.
Auch am Schluss erscheint die Moderatorin in der Szenerie: Sie platzt in die zaghafte erste Begegnung zwischen Philippe und seiner langjährigen Briefbekanntschaft hinein und verkündet großspurig das Ende des Stücks. Die Einbettung in den moderierten Rahmen passt also im Grunde überhaupt nicht zum tragikomischen Grundton der Geschichte; die durchaus schwierigen, ihr zugrundeliegenden Probleme bekommen nur ganz am Rande einen Platz. Gemessen an den zahlreichen durchaus witzigen und überzeugend gespielten Gags finden nur wenige ernste Szenen Eingang in die Bühnenfassung. Mit dem Rahmen-Element möchte man sich offenbar vom Film abheben und sich bewusst mit ihm auseinandersetzen. Diese Lösung erscheint aber, so ironisch sie auch gemeint sein mag, trampelig und schrill; ein bisschen wie eine Flucht nach vorn. Das ist schade, denn ansonsten ist die Umsetzung großartig. Es ist ein Genuss, einem starken Ensemble beim Rollenwechsel zuzusehen und die Darbietung vermag es ebenso, gesellschaftskritische Akzente zu setzen.
Diese überlaute und blinkende Effekthascherei zu Beginn und Schluss hätte da wirklich nicht sein müssen. In Verbindung mit einer Auswahl überwiegend komischer Szenen, denen die melancholischen Momente kaum ein Gegengewicht bieten können, lässt sie das Stück im Vergleich zum Film schwächeln. Die Probleme, die Driss und Philippe voneinander unterscheiden und sie doch vereinen, werden selten angesprochen und verlieren an Präsenz. Damit geht leider einiges an Tiefe verloren.

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