Noch unverpasste Gelegenheiten

Triggerwarnung: In diesem Text werden Tod und Rassismus erwähnt.

Eine neue Lyrikreihe, Kooperationen mit dem Stadtlabor, Geschichten, die erzählt, und Debatten, die geführt werden wollen. Das Herbstprogramm des Literarischen Zentrums ist da. Ob man häufig hingehen wird oder gar nicht – was es zu verpassen gibt, muss man doch wissen.

Von Philip Flacke

Bild: © Philip Flacke

Winter ist dann, wenn man sich ärgert, was man im Herbst alles verpasst hat. Und es wird viel zu verpassen geben diesen Herbst. Schuld ist unter anderem das Literarische Zentrum, das nicht nur bei vielen Literaturherbst-Veranstaltungen federführend ist, sondern kürzlich auch noch das hauseigene Quartalsprogramm vorgestellt hat.

Kolonialgeschichte im 21. Jahrhundert – Zusammenarbeit mit dem Stadtlabor

Die Umstellung von zwei Programmen pro Jahr auf vier sollte 2018 eine größere Flexibilität bei der Planung gewährleisten. Gemessen an der Aktualität besprochener Themen scheint das gut zu funktionieren. Nach dem ganztägigen Festivalkongress »Vom Klima schreiben« Ende August, über den Litlog bald einen ausführlichen Bericht veröffentlichen wird, starten die Veranstaltungen in der Düsteren Straße am 11. September mit dem Rassismusforscher Mark Terkessidis. Anhand seines neuen Buches Wessen Erinnerung zählt? (Hoffmann und Campe 2019) wird die Göttinger Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus mit ihm über deutsche Kolonialgeschichte und Alltagsrassismus der Gegenwart sprechen.

Es handelt sich um eine Kooperation mit dem im Juni eröffneten Stadtlabor, einem Projekt von Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden, die in der Stadtöffentlichkeit einen fundierten Dialog über Migration und Integration führen und anregen wollen. Bis November können Interessierte wochentags von 14 bis 17 Uhr das Stadtlabor im Gebäude der ehemaligen Kranich-Apotheke, gleich gegenüber dem Neuen Rathaus, besuchen. Dem Anspruch des Stadtlabors als »Begegnungsstätte zwischen Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit« entsprechend kommt knapp einen Monat nach Terkessidis wieder auf gemeinsame Einladung der beiden Institutionen die Autorin Petina Gappah ins Literarischen Zentrum. Ihr Roman Aus der Dunkelheit strahlendes Licht (S. Fischer 2019) erzählt von der Reise des toten David Livingstone, der von den afrikanischen und arabischen Begleiter*innen seiner letzten Expedition über mehr als 1600 km in Richtung Indischer Ozean getragen wird. Es sind ihre zukünftigen Kolonialherr*innen, die ihn daraufhin in Empfang nehmen und begraben.

Das Gespräch suchen

Außer Gappah kommen noch drei weitere Romanautor*innen nach Göttingen. Am 01. Oktober lesen zwei, die bei aller Verschiedenheit dreierlei gemein haben: Isabelle Lehn und Jan Wilm arbeiten beide im Wissenschaftsbetrieb, beide haben ihren Protagonist*innen denselben Namen gegeben, den sie selbst tragen, und beide Romane tragen eine Jahreszeit im Titel, die nicht der Herbst ist: Frühlingserwachen (Lehn, S. Fischer 2019), Winterjahrbuch (Wilm, Schöffling & Co. 2019). Das Gespräch moderiert der ehemalige Litlog-Redakteur, -Autor und Experte für autofiktionales Erzählen Christian Dinger. Den letzten Roman des Herbstprogramms hat der Spanier Fernando Aramburu geschrieben. In Langsame Jahre (Rowohlt 2019) erzählt er von den 60er Jahren im Baskenland – jener Zeit der Franco-Diktatur, in der die Anfänge der ETA liegen. Über diese terroristische Organisation hat Aramburu bereits 2016 seinen Erfolgsroman Patria veröffentlicht.

Wie bei den meisten Veranstaltungen der vergangenen Jahre auch stellt das Literarische Zentrum sämtlichen Gästen in diesem Herbst eine*n Gesprächspartner*in zur Seite. Göttingen sei zwar vielleicht besonders debattierfreudig, auch insgesamt habe sich aber das Format Lesung in diese Richtung verändert, so die Einschätzung der Programmleiterin und Geschäftsführung Anja Johannsen. Und zu erleben, wie sich ein*e Autor*in zu Fragen, Problemen, Positionen verhalte, mache gerade den besonderen Mehrwert einer solchen Veranstaltung aus:

Lesen kann das Publikum ja selber.

Vielmehr wolle das Literarische Zentrum eine »Denkplattform« bieten, eine »politische Plattform«. Dass bei kontroversen Themen wie Klimawandel, Rassismus oder Identitätspolitik ohnehin nur diejenigen kämen, die bereits ein Problembewusstsein an den Tag legten, lässt Johannsen als Argument gegen ihre Arbeit und die ihrer Kolleg*innen nicht gelten. Im Austausch auch mit Gleichgesinnten bestünde nicht nur Trost, sondern auch die Möglichkeit, Zusammenhänge zu erkennen und Lösungen zu erarbeiten, wie sie ein reines Streitgespräch oft gar nicht biete. Damit formuliert Johannsen ein Selbstverständnis, dass das Gespräch in den Mittelpunkt rückt –

Ich mache nicht Veranstaltungen, um zu belehren.

Am 23. September wird aber wohl auch der*die kritischst Gesinnte nicht von preaching to the converted reden. Denn mit Eva Berendsen und Saba-Nur Cheema kommen zwei Herausgeberinnen des im Mai im Verbrecher Verlag erschienen Bandes Trigger Warnung nach Göttingen, die mit ihrer solidarisch gemeinten Kritik an linker Identitätspolitik Streitlust und Gesprächsbereitschaft bewiesen haben. Eine Besprechung des Buches wird in Kürze bei Litlog erscheinen.

Nicht zu vergessen: die Lyrik

Am 19. September startet eine neue Lyrikreihe, die ihren Titel einem Gedicht Oskar Pastiors entnimmt: »nur dies gedicht das dich gerade liest«. Damit zieht das Literarische Zentrum die Konsequenz unter anderem aus einer Podiumsdiskussion beim Frankfurter Festivalkongress Fokus Lyrik im März, bei der die Seltenheit von Lyrik in Literaturhäusern beklagt wurde. Den Anfang machen Uljana Wolf und Sibylla Vričić Hausmann, die gemeinsam mit dem Lyrikvermittler Christian Metz Gedichte lesen und ein Gespräch führen werden. Bei künftigen Veranstaltungen der Reihe werden verschiedene Lyriker*innen jeweils einen zweiten Gast mitbringen, der nicht unbedingt wie Vričić selbst Gedichte schreiben muss, aber dessen Arbeit sie begeistert. Es sollen ruhige Abende werden, bei denen die Texte mehrmals vorgetragen und auch mitgelesen werden und die Anwesenden genügend Gelegenheit haben, sich ihnen anzunähern.

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Info

Das Literarische Zentrum richtet seit 2000 verschiedene Veranstaltungen zu Literatur, Kultur und Wissenschaft aus. Neben Lesungen im eigenen Haus gehören die Programme »Literatur macht Schule« und »Weltenschreiber« und das jährliche Poetree-Lyrikfestival zum Tätigkeitsbereich. Außerdem ist das Literarische Zentrum am Göttinger Literaturherbst und am Stadtlabor beteiligt.

Außer Haus ist das Literarische Zentrum weiterhin in Schulen in Stadt und Umland aktiv. Das Weltenschreiberprogramm, bei dem Schüler*innen und Lehrer*innen beim Schreiben eigener literarischer Texte Hilfestellung durch Autor*innen bekommen, geht weiter und wird jetzt um ein neues Mentoringprogramm ergänzt. Außerdem organisiert das Literarische Zentrum schulinterne Lesungen im Rahmen des Programms Literatur macht Schule. Für alle öffentlich ist hingegen eine andere Veranstaltung: Jürgen Kaube, Mitherausgeber und Bildungsexperte der FAZ, spricht mit Ursula Rath-Wolf von der IGS Göttingen über sein neues Buch, in dem er die gegenwärtige Gestalt der Institution Schule kritisiert. Auswärtige Lesungen fanden in Berlin statt, wo Monika Rinck ihre gerade in Buchform erschienene Göttinger Poetikvorlesung vorstellt – und finden im Grenzlandmuseum Eichsfeld statt, wo sich die Autorin Katja Lange-Müller mit einem Team für Schauspiel und Musik einen Abend lang Texten aus der DDR widmet.

Alle Göttinger Veranstaltungen des Herbstprogramms sind mit Kulturticket kostenlos. Sollte das mal anders sein, betont Anja Johannsen, wird es im Programm dazugeschrieben. Eine Terminübersicht aktueller Veranstaltungen bieten wie gewohnt die Website des Literarischen Zentrums und der Veranstaltungskalender bei Litlog. Man muss ja nicht alles verpassen.

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0,0340:1
Wenn friedrich achleitner in seinem wortgesindel nicht sokratisch dialogisiert, dann monologisiert er...
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