Neu erinnern

Krönenden Abschluss der Eröffnungsfeierlichkeiten des Göttinger Literaturhauses bildet die Lesung von Abbas Khider. Der Erinnerungsfälscher ist das herzlich-humorvolle und wachrüttelnde Psychogramm eines aus dem Irak nach Deutschland geflohen jungen Mannes, der ein Leben zwischen den Kulturen führt.

Von Mareike Röhricht

Bilder: Dietrich Kühne

Am 8. Mai um 20 Uhr breitet sich anlässlich der Abschlusslesung zur Eröffnung des Göttinger Literaturhauses gespanntes Schweigen im Lesesaal des neuen Domizils aus. Anja Johannsen, Geschäftsführerin des Literarischen Zentrums, begrüßt die Gäst:innen. Für den krönenden Abschluss habe das Team nach jemand Vertrautem Ausschau gehalten. Einer Person, die natürlich gute Bücher schreibe – aber vor allem auch wachrüttle. Die Begründung dafür: Es sei doch absehbar gewesen, dass sich am Ende des Eröffnungswochenendes glückliche Erschöpfung unter allen Beteiligten ausbreiten würde. Doch das ist eine Erklärung mit doppeltem Boden – denn die Zuhörer:innen sollen nicht nur daran gehindert werden, kurzfristig ins Land der Träume zu gleiten. Der Abend zeigt, es steckt mehr hinter dieser Formulierung.

Vom Reisen durch Deutschland

Abbas Khider präsentiert sein Buch. Bild: Dietrich Kühne

Dann heißt sie Abbas Khider herzlich willkommen. Der Autor betritt lächelnd die Bühne. Bevor er aus seinem neuen Roman vorlese, wolle er eine kurze Geschichte aus seinem Leben erzählen – die Geschichte seiner Lesereisen. Bevor 2016 sein Roman Ohrfeige erschien, sei er regelmäßig nach seinen Veröffentlichungen auf Lesereisen gewesen. Doch Ohrfeige hatte einen bis dahin unbekannten Unmut geweckt, einen, der ihm insbesondere in Verbindung mit den Lesungen im Osten des Landes in offenen Drohungen – nicht nur durch Mails und Briefe, sondern auch in Person – gegenübertrat. Bis er sich schließlich schweren Herzens dazu entschloss, die Lesereise abzusagen und sich damit tröstete, dass er mit dem nächsten Buch wieder auf Reisen gehen könnte. Er selbst hatte nach all dem den Wunsch nach einer »seelischen Pause von meinen ernsthaften Themen – denn auch wenn ich sie mit Humor und Witz beschreibe, sind es trotzdem ernsthafte Dinge«.

So kam es, dass sein nächstes Buch kein wachrüttelnder Roman, sondern eine Satire wurde: 2019 erschien Deutsch für alle. Das endgültige Lehrbuch, in dem er von seinen Sprachlernerfahrungen berichtet und »Verbesserungsvorschläge« vorlegt, um »die deutsche Sprache integrationsfähiger zu machen«. Dabei gebe es schließlich drei große Hürden. Erstens müsse vieles auswendig gelernt werden, etwa die Artikel. Diese sollten besser abgeschafft werden, um Verwirrung zu vermeiden. Zweitens sei die Deklination, die Beweglichkeit der deutschen Sprache, die er mit Wellen vergleicht, so herausfordernd »wie eine Steuererklärung«. Und drittens: die vielen Umlaute, die man wegen ihrer Unaussprechlichkeit am besten auch einfach abschaffen sollte. Tatsächlich begann er mit diesem Buch eine neue Lesereise, beendete sie jedoch wegen einer Flut von Hassmails und Hetzmeldungen nach seinem Auftritt auf der Leipziger Buchmesse vorzeitig.

Wieder also bleibt Khider wegen rassistischer Bedrohungen zuhause, anstatt öffentlich aus seinem Buch zu lesen. Als 2020 im Februar Der Palast der Miserablen veröffentlicht wurde, kam Corona – also wieder keine Lesereisen. Doch nach Erscheinen seines Romans Der Erinnerungsfälscher ist es nun endlich so weit: Khider stellt wieder ein Buch vor Publikum vor.

Zwischen Erinnerungen und Erfindungen

Im Fokus des Romans steht Said Al-Wahid, der im Alter von 19 Jahren aus dem Irak über Asien und Afrika nach Deutschland flieht, wo er studiert und mittlerweile mit Frau und Kind in Berlin als Schriftsteller lebt. Auf dem Rückweg von seiner ersten Lesung erreicht ihn im Zug der Anruf seines Bruders, der ihn bittet, schnellstmöglich nach Bagdad zu fliegen – die Mutter liegt im Sterben. Said bricht seine Rückreise augenblicklich ab und bucht einen Flug in sein Heimatland. Auf der Reise dorthin erinnert er sich an sein einstiges Leben dort, an seine Familie, an seine Flucht – und stellt einmal mehr fest: Sein Gedächtnis ist unzuverlässig.

Khider beginnt, aus seinem Werk vorzulesen. Es ist etwa ein Jahr vergangen, seit Said Al-Wahid einen Arzt konsultierte, weil er bei seinen Versuchen zu schreiben bemerkte, dass er sich an vieles nicht oder nur bruchstückhaft erinnern kann – es sind keine Details, die fehlen, sondern ganze Jahre und die großen Zusammenhänge:

Jedes Mal, wenn er etwas aus der Vergangenheit hervorholte, fühlte er sich im Nachhinein erschöpft und litt an Kopfschmerzen. Das Erinnern war eine Last. Eine harte innerliche Arbeit.

Sein Leben in Deutschland betrifft das nicht. Der Arzt empfiehlt ihm, zu einem »Behandlungszentrum für Folteropfer« zu gehen. Doch alles in ihm widersetzt sich dieser Idee – er will nicht, dass jemand in seiner Vergangenheit bohrt. Und überhaupt – was soll das helfen, wenn das ganze Leben ein Trauma ist? Stattdessen recherchiert Said Al-Wahid im Netz zu Erinnerungslücken und findet einen neuen Umgang mit seinen Erinnerungen und so endlich auch einen Weg zum Schreiben – »er muss sich Erinnerungen erfinden«. Seine Texte sind »Versuche, eine einzige wahre Geschichte zu schreiben, nämlich seine, die niemals wahr sein kann«.

Khider erklärt, was es mit dem Fälschen von Erinnerungen aus medizinisch-psychologischer Sicht auf sich hat und grenzt verschiedene Formen davon gegeneinander ab. Ein berühmtes Beispiel für das kollektive Fälschen von Erinnerungen seien die Augenzeugenberichte von tieffliegenden Flugzeugen, die in der Bombennacht von Dresden im Zweiten Weltkrieg Menschen in den Straßen erschossen – was gar nicht möglich war, weil auch die Tiefflieger Gefahr gelaufen wären, von den Bomben getroffen worden zu sein. Dass das menschliche Gehirn zum seelischen Schutz der Betroffenen so arbeitet, bietet Khider zufolge Anlass zur Kritik an der deutschen Erinnerungskultur: Dadurch, dass die Gemeinschaft die Überlebenden dazu auffordere, ihnen beim Erinnern zu helfen, bürde sie ihnen eine doppelte Last auf.

 Vom Versuch, anzukommen

In den nachfolgenden Stellen, die Khider für die Lesung aus seinem Roman ausgewählt hat, werden rassistische Alltagserfahrungen des Protagonisten in Deutschland geschildert. Die Belastung dadurch sei so massiv, dass sich arabisch- oder nordafrikanisch-stämmige Jungen und Männer anstatt bei ihren Namen mit südeuropäisch anmutenden Abkürzungen rufen ließen oder sich einen ganz neuen Namen zulegten, um nicht permanent unter Terrorverdacht zu geraten. Auch Khider selbst hat viele Erfahrungen dieser Art gemacht, berichtet er. So ergab es sich, dass er in seiner Zeit in Passau alle Beamt:innen der Polizei persönlich kennenlernte, weil sie ihn unbegründet kontrollierten, und sie einander schließlich freundlich grüßten – bis neue Polizist:innen im Team waren und er wieder einmal um seine Papiere gebeten wurde.

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Abbas Khider
Der Erinnerungsfälscher

Hanser: München 2022
128 Seiten, 19,00€

So bewusst, wie Khider die Namen seiner Figuren wählt oder Namensgebungen thematisiert, so absichtsvoll ist wohl auch das Buch gewählt, das Said Al-Wahid auf seiner Flucht immer wieder begegnet – und das er schließlich doch erst in Deutschland während des Studiums zu Ende liest: Patrick Süßkinds Die Taube. Und das nicht nur, weil der Protagonist von Süßkinds Werk ebenfalls ein ruhelos Leidender ist. Denn Khider erklärt: Was die für München diskutierten Taubenabwehrsysteme für diese Vögel sind, seien die Paragraphen den Asylbewerber:innen in Deutschland – Stromschläge.

Vom Leben zwischen den Kulturen

Khider berichtet zwischen den Ausschnitten von seiner Faszination für die deutsche Exilliteratur und für die Tatsache,  dass es gar nicht für alle Suchenden und Heimatlosen eine passende Bezeichnung gebe: die von ihm viel bewunderte Nelly Sachs etwa – weder in ihrer ursprünglichen Heimat noch im Exil zuhause. Ist sie eine Re-Migrantin oder eine Transmigrantin gewesen? Der Autor betont, dass Begriffe wie Legalität, Heimat oder Identität komplizierte Begriffe seien, was auch die nächste Stelle, die er aus Der Erinnerungsfälscher liest, zeigt – ein Leben in Widersprüchen.

Mit seiner Flucht nach Deutschland und dem Leben hier habe er sich zunehmend von der arabischen Literatur entfernt, erklärt Abbas Khider. Erst mit den in der deutschen Exilliteratur geschilderten Erfahrungen und Zuständen habe er sich wieder identifizieren können. Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen Autor:innen erkannte er, dass es zwei Möglichkeiten gebe, über diese auch ihm so vertrauten Erfahrungen und Gefühle zu schreiben: entweder realistisch, und das heißt schmerzhaft, oder humoristisch. Wenn man über Folter schreibe, müsse man die Leser nicht foltern – davon ist Abbas Khider überzeugt. Einer Dame von der Leipziger Buchmesse, die ihm vorwarf, er solle gefälligst dankbar dafür sein, hier zu sein, stimmt er zu: Ja, sein Leben sei ein Geschenk. Die Welt sei kein heiler Ort, aber man könne lernen, darüber zu lachen. Und das sei es, was er mit seinem Schreiben zu vermitteln versuche.

So endete die in der Tat alles andere als ermüdende und in vieler Hinsicht wachrüttelnde letzte Lesung des Eröffnungswochenendes im neuen Literaturhaus Göttingen. Und wer auch die Eröffnungsrede gehört – oder darüber gelesen hat – hat nun vielleicht eine Ahnung von der selbstgewählten Aufgabe dieser wichtigen Institution und einen ersten Eindruck davon, wie Literarisches Zentrum und Literaturherbst planen, dieser mehr als gerecht zu werden.

Info

Unsere weitere Berichterstattung zur Eröffnung des Literaturhauses findet ihr hier.

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