Tradition ohne Ausgrenzung

Gedanken, die nach Freiheit streben, lassen sich nicht einzäunen. María Cecilia Barbetta und ihre Sprache beweisen das eindeutig. 2018 erhielt sie den Chamisso-Preis / Hellerau. Eine Sonderpublikation zur Preisverleihung hält fest, was Barbettas »Literatur der Übergänge« ausmacht.

Von Stefan Walfort

Bild: By Robert Reinick via Wikipedia, gemeinfrei

Auf Demonstrationen der Identitären Bewegung erfreut sich ein Spruch großer Beliebtheit: »Heimat, Freiheit, Tradition – Multikulti Endstation!« Hiermit schreiben sich die Neurechten gleich drei Begriffe, die positiv assoziiert werden sollen, auf die Fahnen. Eigentlich bedürften sie der Spezifikation. Was soll zum Beispiel Tradition überhaupt bedeuten? Die Identitären favorisieren eine Lesart, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft ausgrenzt. Man kann aber auch einen gegenteiligen Traditionsbegriff starkmachen: In der Eröffnungsrede zur Vergabe des Chamisso-Preises / Hellerau 2018 an María Cecilia Barbetta verknüpfte Walter Schmitz Tradition mit »unsere[r] eigene[n] Erinnerung«. Tradition ist demnach nichts Naturwüchsiges, schon gar nichts Homogenes, was vor fremden Einflüssen geschützt werden müsste, wie Abschottungsbefürworter*innen gerne suggerieren. Tradition ist etwas Konstruiertes und so mannigfaltig wie die Menschen, die sie formen. Literaturschaffende gehören für Schmitz maßgeblich dazu. Nachzulesen sind seine Worte in dem Band Chamisso-Preis / Hellerau. Literatur und Migration 2018, den Schmitz herausgegeben hat. Er hatte bis Ende 2019 eine Seniorprofessur an der TU Dresden inne und war viele Jahre Direktor am dortigen MitteleuropaZentrum.

In seiner Rede würdigte er vor allem eine »Literatur der Übergänge«. Gegenwärtig werde eine solche durch Namen wie Terézia Mora, Aglaja Veteranyi, Navid Kermani, viele weitere und nicht zuletzt María Cecilia Barbetta repräsentiert. Sie alle, »Autorinnen und Autoren aus allen Kontinenten, die heute in Deutschland leben und in deutscher Sprache schreiben, deren Bücher gleichsam die Koordinaten einer Literatur der Vielfalt bilden«, verortet Schmitz in einer kosmopolitischen Tradition. Für sie könne Adelbert von Chamisso als »Symbolfigur der Migration« Pate stehen – mit seiner von Fragilität geprägten Geschichte voller »unstete[r] Wanderjahre« und »heimatlose[r]« Selbstsuche. Schmitz erinnerte an den bis 2017 vergebenen Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung. Chamisso sei mit den Jahren zu einem »Markennamen« avanciert. Schmitz jedoch geht auf Distanz:

Marken sollen zweifellos Qualität gewährleisten und dafür werben; so kennen wir es aus der bunten Welt des Konsums. – Ich nehme aber den Namen ›Chamisso‹ lieber als eine historische Chiffre. Und Chiffren wollen enträtselt werden, sie verlangen Nach-Denken, legen Spuren, denen wir folgen sollen. Die Spur des Migrantischen in der deutschsprachigen Literatur- und Kultur führt uns in ein weites Feld; es wäre nicht allein von Adelbert von Chamisso zu reden, sondern von so vielen anderen.

Dementsprechend divers fallen die Beiträge des Bandes aus. Einen Ausschnitt dessen, was durch Migrationserfahrung beeinflusste Literatur aufzeigen kann, bieten unter anderem elf Buchempfehlungen. Darunter findet man bekannte Zugpferde: Julia Eydt von Marienfels nimmt Feridun Zaimoglus Roman Die Geschichte der Frau unter die Lupe und entdeckt als Hauptthema, »wie [ein]e doppelte Fremdheit in der Gesellschaft Frauen in besonderer Weise trifft«. Elin Nesje Vestli begutachtet Maxim Billers Sechs Koffer und fühlt sich von (Stichwort: Chiffre) viel Unauflösbarem angeregt. Man stößt aber auch auf weniger Prominente wie die in Rumänien geborene Berlinerin Carmen-Francesca Bancui. Unter dem Titel Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Tod eines Patrioten erzählt sie von ihrem Alter Ego Maria-Maria. Aus deren ablehnender Sicht auf den Sozialismus und einer glorifizierenden ihres Vaters, der im Sterben liegt, entsteht eine unüberbrückbare Kluft. Pauline Schubert stellt das Buch vor.

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Walter Schmitz (Hrsg.)
Chamisso-Preis / Hellerau. Literatur und Migration 2018

THELEM Universitätsverlag: Dresden 2019
240 Seiten, 34,80 €

Darüber hinaus steuerte die Preisträgerin – deren jüngster Roman Nachtleuchten ihr den Chamisso-Preis / Hellerau 2018 eingebracht hat und 2018 auch für den Deutschen Buchpreis nominiert war – selbst einige teils zuvor schon erschienene Texte bei. In Weißt Du noch? fasst die 1996 aus Argentinien nach Berlin übergesiedelte Barbetta zusammen, womit sie beim Gedanken an Argentinien immer noch hadert: Wunden, die die 70er Jahre hinterlassen haben, Todesschwadronen, der Militärputsch. In Der Gang der Dinge führt sie aus, wie sie das Klima der Angst als Kind wahrnahm, ihre Familie aus Ballester, dem Bezirk, in dem sie aufwuchs, türmte. Liebgewonnenes blieb zurück. Doch heute, erklärt sie selbstbewusst, »kann ich mir jederzeit etliches zurückholen, was mir angeblich genommen wurde«. Das Mittel dazu: die »Macht der Sprache«. In ihrer Dankesrede, die ebenfalls in den Band aufgenommen wurde, konkretisiert sie, was sie an Sprache und besonders an Literatur schätzt: ein »phantasmagorisches Verfahren«, bei dem man »an zwei Orten zugleich oder an einem daraus resultierenden dritten Schauplatz« sein könne

.Mit Vorliebe wende sie es an, um totalitäre Ansprüche zu konterkarieren. Unweigerlich läuft so ein Konzept Nationalismus zuwider. Gegen »Grenzen dicht!«-Schreier teilt Barbetta wie viele andere in dem Band Seitenhiebe aus. Da letztere eingebettet sind in einen »vielstimmige[n]« und »spannungsreiche[n]« Diskurs, wie Schmitz ihn herbeisehnt, überzeugen sie durch eine bemerkenswerte Produktivität.

Diese Rezension erschien vorab in OSTRAGEHEGE, Zeitschrift für Literatur und Kunst, H. 97; für Litlog wurden geringfügig Modifikationen vorgenommen.

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