Von Tigerschatten verfolgt

Ein ergreifender Roman über den elfjährigen Levi, der seine Mutter verliert und diesen Verlust zwischen Fantasie und Realität verarbeitet. Auf seinen Vater kann er sich dabei nicht verlassen, aber er findet Beistand bei Freunden, die ihre eigenen Traumata bewältigen müssen.

Von Sofia G. Waidelich

Bild: Von dimitrisvetsikas1969 via pixabay, Pixabay-Lizenz

Carmen Buttjers Debütroman Levi, welcher 2019 für den Bayrischen Buchpreis nominiert wurde, erzählt die Geschichte von Levi, der den gewaltvollen Tod seiner Mutter verarbeitet, aber neben Trauer auch Hass und Zorn für seinen Vater verspürt. Bereits zu Beginn des Romans wird man von Carmen Buttjers starkem Schreibstil mitgerissen. Sie zeigt ihren Leser*innen schon mit ihrem ersten Roman, dass sie wirklich großartig schreiben kann.

Es ist Sommer und der August zeigt sich von seiner heißen Seite. Vor einem Jahr ist Levi Naquin noch mit seinem Vater in einem See zu einer Insel geschwommen, die voller Fantasie und Abenteuer steckte. In diesem Sommer sieht Levis Welt ganz anders aus. Der Sommer beginnt mit seiner Flucht vor der Beerdigung seiner Mutter. Im Gepäck hat er die Urne seiner Mutter und sein zorniger Vater ist ihm auf den Fersen. Levi und sein Vater, der als sehr distanziert und kaltherzig dargestellt wird, haben keine gute Beziehung zueinander. Da er Levi keine Stütze während des Trauerprozesses ist, will Levi sich vor ihm verstecken und schlägt auf dem Dach seines Elternhauses sein Lager auf. 

Zwischen Gegenwart und Erinnerungen, Fantasie und Realität

Der Roman ist hauptsächlich aus Levis Perspektive geschrieben und zeigt die Welt, wie sie ihm erscheint. In seiner Welt ist der Übergang von Realität und Fantasie ein fließender. Durch seine fantastische Weltansicht versucht Levi, sich das Geschehene zu erklären und seine Erlebnisse zu verarbeiten. 

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Carmen Buttjer
Levi

Galiani: Berlin 2019
272 Seiten, 20,00€

Die Handlung erstreckt sich über nur wenige Tage. Aber man begleitet Levi auch in seinen Erinnerungen an Orte seiner Vergangenheit, die in seiner Fantasie zu einem einzigen Riesendschungel zusammenwachsen. In diesen Erinnerungen wird deutlich, wie seine Eltern sich immer weiter voneinander entfernten, ihre Beziehung schwieriger und die Streitereien häufiger wurden. Auch davon, wie sich Levis Vater mehr und mehr von ihm distanzierte, sie aufhörten sich zuzuhören und schließlich gar nicht mehr miteinander redeten, handeln seine Erinnerungen.

Levi erinnert sich auch an seine Mutter, denkt über ihren Tod nach und daran, wie sie gestorben ist. Sie wurde unter mysteriösen Umständen getötet und Levi verfolgt als stiller Zuhörer die Polizeiermittlungen. Aber weil niemand mit Levi reden will, wissen die Polizist*innen nicht, wie viel er tatsächlich über die Ermordung seiner Mutter weiß und wen er verdächtigt.

In seiner Vorstellung war es ein Tiger, der sie getötet hat. Tiger sind für Levi das Symbol für Zerstörung und das Böse. Und von diesem Tiger fühlt er sich nun verfolgt. Levi beschreibt die Tigerschatten, die er nachts sieht und muss daran denken, was seine Mutter ihm früher erzählt hatte:

Über Tiger gab es einiges zu wissen. Es gab Menschen, mit denen irgendetwas nicht stimmte, denn sie jagten andere Menschen. Meistens nachts, manchmal auch am Tag. Aber das war nicht das, wovon sie lebten, sondern vom Chaos, nur davon wurden sie satt.

Dieses Zitat macht deutlich, dass Carmen Buttjer in einer unfassbar schönen und starken Sprache schreibt. An manchen Stellen wirken Levis Gedanken aber sehr komplex und man fragt sich, ob ein Elfjähriger tatsächlich so gewandt mit Worten umgeht, sich so gewählt ausdrückt und seine Gefühle so nuanciert äußert, wie er es tut. Nichtsdestotrotz ist der Schreibstil sehr passend für diese Geschichte. Die Bilder, die Carmen Buttjer mit ihren Worten malt, sind sehr eindrucksvoll und ergreifend. 

Obwohl der Protagonist ein Kind ist, handelt es sich bei diesem Roman nicht um ein Kinderbuch. Die Thematiken des Romans sind Verlust, Trauer, Trauma und der Versuch diese zu verarbeiten. Diese erfährt man durch Levi, den man direkt ins Herz schließt. Als Leser*in fühlt man mit ihm mit und begleitet ihn bereitwillig in seinem Trauerprozess. 

Sein Vater ist zwar nicht für ihn da, aber Levi bleibt nicht allein in diesem Prozess. Er holt sich Rat und Beistand bei dem etwa 55-jährigen Kolja, dem ein Kiosk in Levis Straße gehört, in dem Levi manchmal aushilft. Kolja sagt ihm, dass es besser wird und seine Mutter irgendwann nur noch das Zweite oder Dritte sein wird, woran er denken muss, nachdem er aufwacht. Aber selbst Kolja hat mit seinen Geistern der Vergangenheit zu kämpfen. Einige Kapitel sind seiner Zeit als Kriegsfotograf in verschieden Krisengebieten gewidmet. Auch er muss Verluste verarbeiten und hat schon viel Leid erfahren und kann mit seiner Vergangenheit noch nicht abschließen. Auch Levis etwa 35-jähriger Nachbar Vincent, von dem man nicht viel erfährt und der auch für Levi etwas Unnahbares und Mysteriöses hat, erzählt ihm von seiner schwierigen Beziehung zu seinem Vater. Leser*innen erhalten einen Einblick in die verschiedenen Leben dieser drei Charaktere, welche zwar aus verschiedenen Generationen stammen und Unterschiedliches erlebt haben, aber trotzdem ein ähnliches Schicksal teilen. 

Carmen Buttjer schafft mit ihrer illustrativen Sprache eine greifbare Welt, die man durch die Augen eines Kindes erfährt. Levi ordnet Gefühlen und Personen Farben zu und denkt in vielen bunten Bildern, die ihm helfen, Geschehenes zu begreifen. Deshalb wird für Levi aus einem Mörder ein Tiger. Diese Verarbeitungsstrategien werden durch die anderen Charaktere, welche ausschließlich erwachsene Männer sind, gebrochen. Und so stehen sich der Tiger und die Ermittlung gegenüber und schaffen im Roman eine Brücke zwischen Levis Fantasie und der Realität.

»Wenn jemand stirbt, dann war das nicht das Ende. Da war kein Ende. Niemals.«

Als Leser*in wird man elegant in die Geschichte eingeführt und lernt die Charaktere auf den 272 Seiten gut kennen. Man will wissen, wie es mit ihnen, vor allem mit Levi, weitergeht. Man wünscht sich für Levi, dass der Tiger gefangen wird und er aufatmen kann. Allerdings bleibt man am Ende des Romans etwas ratlos zurück und sucht vergeblich die nächste Seite. Man wird mit mehr Fragen als Antworten zurückgelassen, die einen aber dazu anregen, über den Tod nachzudenken und wie unterschiedlich die Angehörigen mit ihm umgehen. Vielleicht ist genau dies Carmen Buttjers Intention. Denn dieses Buch beschäftigt einen definitiv noch einige Tage, nachdem man es beendet hat. 

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