In der Diaspora verdoppelt

Eine runde Sache von Tomer Gardi verhandelt in ›gebrochenem‹ und übersetztem Deutsch Fremdheit und andere existentielle Themen, bindet sie in überraschenden Weisen aneinander und lässt sie als Leitmotive durch den Text stromern, bis sie irgendwann wieder eingefangen und neu verknüpft werden.

Von Max Rauser

Bild: Via Pixabay, CC0

Schon als Tomer Gardi im Jahr 2016 beim Ingeborg-Bachmann-Preis einen Auszug aus seinem Romandebüt Broken German (Droschl Verlag, 2016) vorlas, brachte er die Jury in Verwirrung: War dieser Text, der seine sprachliche Gestalt, sein ›gebrochenes Deutsch‹ im Namen trug, nun Avantgarde, weil Sprachzertrümmerung, schon über Avantgarde hinaus, weil gar nicht Kunstsprache (weil Tomer Gardis Alltagsdeutsch genauso gebrochen ist wie sein Literaturdeutsch), vielleicht doch Kunstsprache – oder am Ende nicht mal ausreichendes Deutsch, um bei den Tagen der deutschen Literatur überhaupt vorgelassen zu werden? Den ersten Platz belegte Tomer Gardi damals nicht, dafür folgten in den nächsten Jahren mehrere Hörspielauszeichnungen und nun, 2022, der Preis der Leipziger Buchmesse für den dritten Roman: Eine runde Sache.

Zwei Texte in einem

Der neue Roman verknüpft verschiedene Themen, insbesondere Formen des Fremd-Seins: das Fremd-Sein in einem Land, wo man die Sprache nicht spricht (oder wo andere Leute finden, dass man sie nicht spricht); das alte Fremd-Sein des:der Künstler:in und verbunden damit: Kunst und Wahrheit und Lüge, die man auch harmloser Fiktion nennen könnte. Dann ist da noch das verworrene Knäuel von Rassismus, Kolonialismus, Antisemitismus und Fremdsprachlichkeit. In einer Frage laufen diese ganzen Themen zusammen: Wie prägt die Sprache, in der eine Geschichte erzählt wird, diese Geschichte?

Im Text tritt das Problem explizit auf Seite 15 auf: »Stattdessen erzählte ich ihm dass ich ein Idee für eine Geschichte habe, weiß aber nicht, ob ich es auf Hebräisch schreiben soll, oder auf meinem Deutsch. […] Jeder Stimme wird ja was anderes und unterschiedliches Ausdrücken können.«  Der Satz steht leicht unbeholfen, wie die Leitfrage in einer Uni-Hausarbeit, dem ganzen Roman voran, der sich im Folgenden zu einer performativen Antwort ausrollt. Das Wort ›Geschichte‹ darf man hier aber nicht zu eng nehmen, sonst passt die Antwort vielleicht doch nicht so ganz auf die Frage. Die ›Geschichte‹, die in Eine runde Sache zweimal und auf verschiedene Weisen erzählt wird, ist kein genau einzugrenzender Plot, sondern eben der schon besprochene Konnex von Themen, der sich in der zentralen Frage ausdrückt. Insofern beißt sich der Text gedanklich selbst in den Schwanz und bildet: eine runde Sache.

Ganz und gar nicht rund ist dagegen der Aufbau des Romans. Hier stellt sich beim Lesen sogar die Frage, ob das wirklich ein Roman ist, wie behauptet wird, oder vielleicht zwei Romane, oder eine Novelle und ein Roman. In Eine runde Sache wird tatsächlich – wie angekündigt – eine in sich geschlossene Geschichte in Tomer Gardis ›Broken German‹ und eine zweite Geschichte auf Hebräisch erzählt, wobei Anne Birkenhauer die zweite in ein ruhig dahinlaufendes, klares Deutsch übersetzt hat, dem man sein Übersetzt-Sein nicht anmerkt. Obwohl laut Gardis Vorgabe zweimal dieselbe Geschichte erzählt werden soll, fallen beide Teile des Romans sehr unterschiedlich aus: Der erste beschreibt eine rasante, autofiktionale und dem Magischen Realismus verpflichtete Odyssee durch die deutsche Provinz. Die zweite Handlung formt sich zu einem realistisch und psychologisch erzählten historischen Roman aus.

Fantastische Missverständnisse

Der Erzähler der ersten Erzählung teilt mit dem Autor Namen, Herkunft und Profession. Wie der reale Tomer Gardi lebt er nun in Deutschland, dort nämlich setzt die Erzählung ein: Auf einer Premierenfeier wird Tomer auf eine Yacht eingeladen. Passend zu eingestreuten Reflexionen der Schriftsteller-Figur über Literatur und Sprache und Lüge und Wahrheit, entpuppt sich die Yacht allerdings als Missverständnis. Gemeint war eine ›Jagd‹ und so findet sich Tomer am nächsten Morgen vollkommen übernächtigt auf der Flucht vor einem Menschenjäger und dessen Schäferhund Rex wieder. Letzteren kann er überrumpeln und mit einer Taschenvagina knebeln, sodass der Hund – denn der kann sprechen – statt sämtlicher Vokale nur noch ›ü‹ sagen kann. Aufeinander angewiesen entscheiden Mensch und Hund, gemeinsam den Weg zurück in die Stadt zu suchen: »Jü, üch kümm müt!«

Dieses rasante Erzähltempo voller Wendungen kann der Roman aber leider nicht halten, es entstehen Längen. Neben Gardi mit seinem ›Broken German‹ und dem geknebelten Rex taucht noch ein Dritter im Bunde auf: der Erlkönig aus Goethes Ballade, der nur in äußerst wackligen Paarreimen reden kann. Die verschiedenen sprachlichen Idiosynkrasien der Figuren wirken jeweils zu Beginn amüsant und zeigen auch immer wieder das Potential, durch unkonventionellen Sprachgebrauch kluge Beobachtungen sinnfällig zu machen. Insbesondere die sprachliche Wirkung von Rex‘ und Erlkönigs Idiolekten nutzt sich jedoch ab und verrutscht zeitweise zu etwas müdem Klamauk.

 »Absurd ist besser als tot.«

Zum Ende hin geht dagegen auf einmal wieder alles sehr schnell. Tomer erfährt, dass er als ›Ewiger Jude‹ auf eine neue Arche Noah bugsiert werden soll. Die ihm zugedachte Rolle, für immer an antisemitische Gräuel in der Menschheitsgeschichte zu erinnern, will er aber nicht erfüllen:  

Eure Zeuge werde ich nicht sein. Ich suche meiner Schicksal aus. Und ich, ich wähle Erfindung. Fabulieren. Fantasie. Die wunderbare Lüge.

Leider wirken diese neuen Entwicklungen zum Schluss gehetzt, so als sei dem Autor beim Schreiben die Lust ausgegangen. Die vielen neuen Einfälle der letzten zwanzig Seiten haben keinen Raum, um richtig zu wirken. Das ist besonders schade, weil gerade dieses zusammengedrängte Ende (wie schon der Anfang) viele Anschlusspunkte für eine Allegorese des Romans bereithält. So referiert zum Beispiel Tomers Verteidigung der »wunderbaren Lüge« auf seine theoretischen Überlegungen zu Beginn des Romans und dient gleichzeitig als Poetologie für Eine runde Sache.

Kolonialistische Verstrickungen

Raden Saleh, um den es im zweiten Teil geht, hat wirklich gelebt. Als javanischer Adliger wurde er im Zuge der Kolonisation Indonesiens durch die Niederlande zu einem Maler in westlichem Stil ausgebildet. Dafür lebte er einige Zeit in Europa. Er ließ sich unter anderem in Dresden nieder und unterhielt Kontakte zu dort ansässigen Romantiker:innen. Als wichtiger Maler der Romantik muss er in Europa erst noch wiederentdeckt werden.

Gardi erzählt in seinem Roman von Salehs Jahren in Europa. Die Handlung beginnt auf Java, wo der niederländische General Jean Baud das künstlerische Talent des Jungen erkennt. Er schenkt dem Kind einen warmen Mantel aus Rothund-Fell, der für das javanische Klima vollkommen unangebracht ist, und verbindet das Geschenk mit dem Auftrag, einige Jahre später nach Den Haag zu kommen, um sich zum Maler ausbilden zu lassen. Diese Ambivalenz zwischen Förderung und Forderung etabliert den Ton für Salehs weitere Beziehung zu den europäischen Kolonialmächten. Er darf sein Potential verwirklichen, wird aber verschickt wie die Gewürze, die die Niederlande aus Indonesien importieren. Er erhält Stipendien und muss gleichzeitig davon erfahren, wie die antikolonialistische Revolution des Prinzen Diponegoro auf Java niedergeschlagen wird. Er profitiert direkt von der landwirtschaftlichen Ausbeutung seiner Heimat und wird gleichzeitig in Europa exotisiert und politisch benutzt.

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Tomer Gardi
Eine runde Sache

Zur Hälfte aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Droschl Verlag: Graz 2021
256 Seiten, 23,00 €

Die genaue Charakterisierung seiner Situation liefert wieder ein sprachliches Missverständnis. Die Europäer:innen nämlich können ›Saleh‹ nicht richtig aussprechen, und so wird jedes Mal, da man das Wort an ihn richtet, aus der eigentlichen Bedeutung ›ehrbarer Mann‹ das arabische Wort ›Tierhäuter‹, im übertragenen Sinn: ›Verräter‹. Der sprachliche Fehler der Europäer:innen vollzieht so diejenige Verschiebung nach, die Saleh als kolonialisiertes Subjekt in seiner Selbstwahrnehmung erlebt: Er wird zum Verräter an seinen Mitmenschen auf Java gemacht.

Die sinnerweiternde Verwendung von sprachlichen Fehlern ist nicht der einzige Brückenschlag zum ersten Teil des Romans. Beispielsweise tauchen Begriffe, die dort in auffälliger Weise verwendet worden waren – wie »indigen« auf einen Deutschen Schäferhund angewendet, oder »stief« als alleinstehendes Adjektiv –, in konventioneller Weise auch in Anne Birkenhauers Übersetzung auf. Durch das ›Priming‹ beim Lesen des ersten Teils stechen sie nun trotzdem heraus und knüpfen so Rückverbindungen. Eine weitere besteht im antisemitischen Mythos des ›Ewigen Juden‹, den auch Raden Saleh kennenlernt. Während Tomer der damit verbundenen Fremdzuschreibung entkommen möchte, kann sich Raden Saleh mit der Figur des rastlosen Wanderers, der überall fremd ist, identifizieren.

Tierhäuter und Fliegender Holländer

Die letzte Parallele zwischen beiden Texten besteht in ihrer gemeinsamen Schwäche: Auch der zweite Teil, eigentlich ruhiger und breiter angelegt als der erste, rafft auf der Zielgeraden die Ereignisse aneinander und handelt Raden Salehs letzte dreißig Lebensjahre in Indonesien wie eine Nebensächlichkeit ab. Erneut ist das besonders schade, da auch hier spannende Einfälle nicht genug Raum zur Entfaltung bekommen. Wieder auf Java angekommen, muss Raden Saleh nämlich feststellen, dass er vollkommen fremd geworden ist. Dort herrscht eine viel rigorosere ›Rassentrennung‹ als in Europa und der sensible Maler, der in eben noch in den höchsten adeligen Kreisen verkehrte, sieht sich hier zwischen alle Stühle gesetzt: Die Kolonialherren bringen ihm nicht den angemessenen Respekt entgegen und zum ›Pöbel‹ der Einheimischen will er nicht gehören.

Zwei Geschichten und eine runde Sache

Während der erste Teil von Eine runde Sache eine rasante und witzige Abenteuergeschichte erzählt, besteht der zweite in einer feinsinnigen Darstellung eines Künstlerlebens innerhalb kolonialistischer Verstrickungen. Dieselbe Geschichte erzählen die Texte nicht. Das ändert allerdings nichts daran, dass Tomer Gardis Experiment, zwei in verschiedenen Sprachen geschriebene, faszinierende Einzeltexte zusammenzustellen, gelungen ist. Insofern nämlich, als das Buch eine überzeugende, performative Beantwortung der Frage bereithält, wie Form und Sprache eines literarischen Textes dessen Inhalte verändern. Die zwei Sprachen, zwei Erzählformen und auch zwei Geschichten ergänzen die jeweils gegenseitige Perspektive in einer Ästhetik der Ausdifferenzierung zu einer runderen Sache.

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