In Hengameh Yaghoobifarahs neuem Roman Schwindel haben sich die Protagonist:innen auf das Dach eines Hochhauses ausgesperrt. Dort diskutieren sie über Wahrheit und Schuld, Begierde und Gefangenschaft, alles im Kontext queerer Identität. Schwindel besticht durch sein Spiel mit Klischees und kritische Perspektiven, ohne seine Figuren vollends zu verurteilen.
Von Leah Sophie Neiß
Ava hält nicht viel von Monogamie. Deshalb hat sie nicht bloß eine Affäre mit Robin, die sich eine Abwechslung von der Langzeitbeziehung mit ihrem Freund wünscht, sondern trifft sich außerdem mit der deutlich älteren Silvia und verbringt unter Einfluss von Drogen lange, intensive Nächte mit delia. Die drei wissen zwar voneinander, doch Ava, der vermehrt Selbstbezogenheit vorgeworfen wird, hält ihre Liebhaber:innen gerne voneinander getrennt. Unglücklicherweise treffen eines Abends alle vier aufeinander, und Ava, von der Situation überfordert, flieht aufs Dach ihres Hochhauskomplexes. Von Verwirrung und Vorwürfen getrieben folgen ihr die anderen, die Tür fällt zu und ohne Schlüssel sind sie gemeinsam ausgesperrt. Zwangsläufig kommt es zur Auseinandersetzung zwischen den Vieren, aber auch zu einer mit lesbischer Identität, gesellschaftlichen Grenzen und dem Verlangen außerhalb von monogamen Hetero-Beziehungen zwischen Cis-Personen.
Die Matrix der Lover
Abwechselnd wird aus allen vier Perspektiven erzählt, wodurch die Differenzen der Charaktere besonders deutlich werden. Wenn sie sich fragen, was ihr Lesbischsein ausmacht oder wie sie Kategorien von Sexualität und Geschlecht für sich definieren, treten Spannungen auf – und genau die machen diese Erzählung so außergewöhnlich und bewegend. Die Figuren üben Kritik an radikalen, antikapitalistischen Lesben mit Erbe und Bausparverträgen, an Diskriminierung innerhalb der vermeintlich woken und solidarischen queeren Bubble. Robin beispielsweise findet nicht, dass die trans Identität ihres Freundes Ivo solche Leute etwas angeht, die ihn vor seiner Transition nicht kannten. Doch sie leidet unter der Kritik anderer Lesben an ihrer augenscheinlichen Hetero-Beziehung, fühlt sich isoliert und in ihrer sonst so viel Sicherheit bietenden Identität als lesbische Frau verunsichert.

Schwindel
Blumenbar: 2024
240 Seiten, 23 €
Schwindel ist ein aufgeschlossener Roman, der Queerness facettenreich ausarbeitet, was für wahrhaftige Vielschichtigkeit sorgt. Trotzdem wird mit Klischees gespielt, ohne sie durch die Figur eines Moralapostels zu widerlegen. Eine Beziehungsform wie das »Polycule«, das Ava um sich herum aufgebaut hat, wird zu keinem Zeitpunkt idealisiert, sondern scheitert klassischerweise an fehlender Kommunikation. Dennoch liegt die Liebe außerhalb der Kontrolle der vier; alle ver- und entlieben sich unfreiwillig, divergieren aber in ihren Vorstellungen, wie sie diese Liebe ausleben wollen.
(Un)politisches Begehren
Insbesondere Begierde wird in all ihren Formen ergründet. Schwindel beschreibt, wie man als Person außerhalb von heteronormativen Vorstellungen das Verlangen verlieren kann, zeigt aber auch das Potenzial von Begierde. Nur so schafft delia es, den eigenen Körper nicht nur abstrakt zu sehen, sondern durch ihn wahrzunehmen. Die Sexszenen des Romans sind durchaus explizit, aber berührend. Sie zeigen, wie die Personen sich mit ihrer Lust identifizieren und sie als Teil ihrer selbst behandeln, was sie besonders vulnerabel macht.
»was brachte es überhaupt, herauszufinden, worauf man stand, also worauf man wirklich stand, wenn es andere am ende nur abstieß? die erniedrigung der zurückweisung wog viel schwerer als die chance, dass die fantasien eines tages in erfüllung gehen könnten. irgendwann vergaß man doch eh, was diese lust umfasste. man verlernte das verlangen.«
Yaghoobifarahs Roman nimmt Bezug auf Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft: Die Figuren sprechen von dem Gefängnis des Frauseins, der Geschlechterzuordnung allgemein, der Notwendigkeit, »die mauer der gefängnisse zu demolieren«, und der fehlenden Kraft, das aus sich selbst heraus zu tun. Für manche stellt die lesbische Sexualität »das Ticket nach draußen« dar, woraufhin sie von der ungebrochenen Überwachung überrascht werden – die Gesellschaft offenbart sich als ein Panoptikum, aus dem sie trotz ihres Widerstands nicht entfliehen können. Schwindel liefert Einsichten, die Identifikationspotenzial innehaben und ein Gefühl von Solidarität und Gemeinschaft bieten können. Leider wird das Motiv des Gefängnisses gegen Ende überstrapaziert, die Verweise häufen sich, und so verfehlt es die Wirkung, die es durch eine subtilere Einarbeitung hätte haben können.
Grundsätzlich wird deutlich: Dieser Roman versteht sich nicht als ein Bildungsauftrag. Eventuell nicht geläufige Begriffe werden nicht immer erklärt und in einen Diskurs eingeordnet, stattdessen wird vieles schlichtweg dargestellt. Einerseits setzt das ein bestimmtes Publikum voraus, das bereits mit diesen Diskursen vertraut ist oder selbst an ihnen teilhat. Andererseits wird so die gerechte Forderung gestellt, sich bei Wissenslücken selbstständig mit den Themen auseinanderzusetzen. Damit bleibt der Fokus auf der Erzählung selbst, ohne lehrbuchhafte Definitionen, die das mehrdimensionale Liebesdrama unterbrechen würden.
Klar chaotisch
Das mag alles sehr ernst klingen, doch das Gegenteil ist der Fall, denn Yaghoobifarah schreibt mit viel Humor und pointierter Ironie. Die offensichtlichen Schwächen der Charaktere und ihre vermeintliche Ehrlichkeit bei gleichzeitiger Selbsttäuschung lassen sie echt wirken, die vier sprühen vor Lebendigkeit. Der Roman wirkt selbstbewusst, er ist aktuell, er will anders sein – letzteres leider zu sehr. delias Parts sind beispielsweise komplett in Kleinschreibung gehalten und gespickt mit zuweilen etwas repetitiver Lyrik. Außerdem wird hier typografische Kunst eingebettet, die manchmal leider den Anschein erweckt, lediglich Seiten füllen zu müssen. Wenn sich beispielsweise Tilde-Symbole »in begehren treiben lassen« und wie Fische über eine Seite schwimmen, mag das zwar nett anzusehen sein, enttäuscht aber durch Oberflächlichkeit. So tiefgreifend die Hintergrundgeschichten der Figuren einerseits rüberkommen, so platt wirken an anderen Stellen die Dialoge. Mitunter überschreitet deren humorvolle Sprache die Grenze hin zur Albernheit, wenn zum Beispiel der Vorwurf aufkommt, das Jüngste Gericht zu »role-playen« oder wenn weinen als »emotionales squirten« bezeichnet wird. Das alles hinterlässt ein unstimmiges Bild und belegt dennoch die Ambition Yaghoobifarahs, entschieden aus der Literaturlandschaft herauszustechen.
Große Vision
Primär besticht der Roman deshalb durch seine Charakterstudien und ausführliche Einblicke in vier spannende Lebensgeschichten. Leider geht ebendiese Detailliertheit am Ende verloren: Abrupt wird auf Dramatik mit großer Offenbarung gesetzt, das Narrativ simplifiziert. Schwindel verliert seine Ambiguität und endet mit eindeutigen, bedeutungsgeladenen Sätzen, die Yaghoobifarahs ohnehin ausdrucksstarker Erzählstil nicht gebraucht hätte. Der Titel jedoch fängt die Komplexität des Romans hervorragend ein: Schwindel ist nicht bloß die Höhenangst auf dem Hochhausdach, sondern auch die Unsicherheit in der komplexen Welt, in der die vier Charaktere zurechtkommen müssen. Schwindel sind die Selbsttäuschung und Lügen den anderen gegenüber. Schwindel ist ein Balanceakt und verfällt dann leider doch der Einfachheit des großen Finales. Wenn abschließend die Frage »bist du noch da?« gestellt wird, hält der Roman die Leser:innenschaft jedoch fest – gedanklich bleibt man noch eine Weile in dieser mitreißenden Erzählung hängen.