Camus gegen Camus

Der algerische Journalist und Autor Kamel Daoud begibt sich mit seinem Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung an den Strand von Algerien und lässt seinen Protagonisten noch einmal das Jahr 1942 Revue passieren – das Jahr, in dem dessen Bruder erschossen wurde.

Von Roman Seebeck

Bild: kaleem-1989 via pixabay / CCO

Ein Strand, zwei Menschen, die erbarmungslose Sonne und das aufrecht-gleichgültige Ertragen einer schicksalshaften Welt – distanziert betrachtet »wie durch Glas«. 1942 veröffentlicht und bis heute ein Bestseller, zerrt Albert Camus Der Fremde Generationen von Lesern in eine Welt unterm Brennglas, in der der anteilnahmslose Meursault ein Dasein fernab gesellschaftlicher Konventionen führt. Während dieser Roman vor allem als Schlüsselwerk zu Camus philosophischer Theorie des Absurden betrachtet wurde, hat sich der Fokus neuerer Betrachtungsweisen auf die geografische Verortung des Romans und deren geopolitische Bedeutung verschoben.

Camus und Algerien – ein Verhältnis, das sich zeitlebens schwierig gestaltete. Es war Teil der inneren Zerrissenheit des in Algerien geborenen Franzosen zwischen den geographischen sowie literarisch-philosophischen Gegenpolen Paris und Algier. Er leide an Algerien »wie andere an einer Lungenkrankheit«, gestand er, und trat sein Leben lang für eine versöhnliche Algerienpolitik ein. Weder billigte er den Umgang der Kolonisten mit den muslimischen Ureinwohnern, einem Volk »großer Tradition und herausragende(r) Tugenden«, noch konnte er sich ein Algerien ohne Franzosen vorstellen. Noch in seiner Nobelpreisrede 1957 inmitten des Algerienkrieges äußerte er seine Dankbarkeit darüber, »daß man einen französischen Schriftsteller aus Algerien auszeichnen wolle«.

Camus als Rassist?

Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud schlägt genau in jene Kerbe, die Camus im Algeriendiskurs hinterlassen hat. Obwohl von Kolonisten und Arabern gleichermaßen mit Kritik bedacht, macht er Camus zum Schriftsteller des Kolonialismus und Rassismus und unternimmt den gewagten Versuch, Camus als Helden des Abendlandes zu diskreditieren.

Das Programm seines Romans versteht sich – wie der Titel bereits anklingen lässt – als Richtigstellung des Camusschen Mythos, in dem sich Daoud der Handlung des Fremden bedient und eine Gegendarstellung ins Leben ruft. Anstelle von Camus Helden des Absurden tritt der von Meursault, »dem berühmten Mörder«, erschossene und bei Camus namenlose Araber. Er bekommt einen Namen (Moussa) und ein Gesicht, und wird dem Schattendasein entrissen. Daoud verschafft so einem postkolonialen Subjekt Geltung, »dem es zu Lebzeiten nicht einmal vergönnt war, auch nur einen Namen zu bekommen« und das nun – durch den Erzähler Haroun, den Bruder Moussas, zur Sprache befähigt – die eingeschriebenen rassistischen Strukturen des Romans freilegen wolle. Die Technik dieser literarischen Emanzipation ist freilich zutiefst politisch: »Stein um Stein von den ehemaligen Häusern der Kolonialherren nehmen, um mein eigenes Haus daraus zu bauen«.

So widmet sich der Roman den Orten, der Sprache und der Handlung seines literarischen Vor- und Feindbildes und versteift sich dabei leider meistens darauf, immer wieder auf jenen Missstand, das Fehlen des Namens des Arabers bei Camus, hinzuweisen. Dies gibt der Erzähler durchaus selbstkritisch zu: »Ich habe alles, was mir nur einfallen konnte, zwischen die Zeilen dieser kleinen Meldungen gesteckt und ihr Ausmaß zu einem Kosmos aufgeblasen«.

Das Leid der präzisen Sprache

Im Vorwort für eine US-amerikanische Ausgabe des Fremden hieß es einst, der Roman erzähle »die Geschichte eines Menschen, der bereit ist, und zwar ganz ohne heroische Attitüde, für die Wahrheit zu sterben«. Daouds Gegendarstellung betrachtet nun diesen Wahrheitsbegriff aus einer anderen Perspektive. Er lässt den Leser mit der Frage zurück, welches Bild er von dem Roman und seinem Autor haben kann: das einer philosophischen Lichtgestalt des 20. Jahrhunderts oder das eines Neokolonisten oder gar Rassisten.

Entscheidend für den Erfolg des Fremden war seine klare, in dieser Form in Europa noch nie verwendete Sprache, deren Präzision nach Haroun einer »Mathematik« gleiche, in deren Formeln die Araber eine Unbekannte bilden und zu »undeutlichen und nicht in die Landschaft passenden Wesen« gerieten. Durch den immensen Erfolg dieser Sprache seien die algerischen Araber in allen Sprachen der Welt zu »Gespenstern« geworden; Camus Ruhm gründe daher auf des Arabers Leid: ein sinnbildliches Paradox des Orientalismus. Jedoch ist es erst Camus schemenhaftes Araberbild, das es Daoud ermöglicht, in die großzügigen Zwischenräume zu treten und eine eigene »Wahrheit« dieser Geschichte zu konstruieren. Daouds Moussa ist ein der Armut entsprungener junger Mann. »Als Mädchen für alles« ausgebeutet vom Kolonialsystem, sei er nur aus guten Absichten zu besagtem Strand gekommen, um die Ehre eines Mädchens zu retten, wie es heißt. Moussa stirbt somit den Tod eines Märtyrers und wird, symbolisch überhöht, das Opfer eines »philosophischen Verbrechens« – eine Idealisierung, die mitunter bis ins Lächerliche gesteigert wird.

Das Anti-Lob der Armut

Deutlich glaubhafter erscheint hingegen das Algier, das Daoud dem von Camus entgegenstellt. Es ist eine Welt der Armut, in der Haroun mit seiner verbitterten Mutter im Schlepptau wie ein moderner Odysseus auf der Suche nach Erlösung vor dem Schatten, den der Tod des Bruders auf die Familie wirft, umherzieht. Die »weiße Stadt«, der Camus zu Lebzeiten verfallen war, wird von innen nach außen gekehrt. Aus ihr wird eine befleckte Stadt, die Hure der Kolonisten – »die Stadt – mit zum Meer hin gespreizten Beinen«. Der Blick der Armut und des Leides beschönigt bei Daoud nichts. Während Camus in seiner Autobiographie Der erste Mensch die Armut zum höchsten Gut des Intellektuellen erhebt und beteuert: »Die Armut habe ich nie als Unglück empfunden, denn das Licht breitete seine Schätze über sie aus«, zeigt Daoud einer solchen Romantisierung die Grenzen auf.

Harouns Elend unter der Sonne hat wenig gemein mit Camus »schöpferischer Quelle«, egal ob Algier oder dessen Hinterland, die Sonne brennt gnadenlos, die Leute hungern, der Blick der Kolonisten raubt Identität und Geschichte. Daouds Held ist so gesehen in besonderer Manier ein Anti-Sisyphos, weil er wie alle Helden jener Moderne, der Camus entgegenschreibt, um jeden Preis sein Schicksal ändern will, sich aus der Armut und von dem Geist des toten Bruders zu befreien sucht. In dieser Hinsicht ungewollt abendländisch geprägt, gerät auch Haroun mitunter zum Gegenüber Meursaults, dessen Berühmtheit sich aus seiner ambitionslosen Selbstgenügsamkeit speist.

Camus gegen Camus

Um sein Argument, Rassismus sei die Triebfeder Camus Schreibens, zu stärken, sucht Daoud den polarisierenden Zweikampf mit dem Originaltext. Dabei ist er stets darauf bedacht sich abzugrenzen, Camus gegen Camus zu stellen und ihn anhand seines eigenen Textes zu schlagen. Doch wenn er Camus vorwirft, bei dem Fremden handele es sich um die »Tat eines enttäuschten Liebhabers, der von dem Land verschmäht wurde, das er nicht besitzen konnte«, klingt eine wütend unterdrückte Begeisterung für jenen Schriftsteller mit, der sich wie kaum ein zweiter mit Algerien identifizierte und dennoch den Arabern keinen Raum in seinem Werk gewährte.

Mitunter siegt jedoch Daouds Begeisterung für Camus Erzählung über seine monologische Anklage und auch er verfällt der philosophischen Spannkraft des Fremden. Wendet Meursault sich beispielsweise in seinem berühmten Monolog im Gefängnis gegen jegliche Transzendenz durch Religion, so lehnt auch Haroun die Religion als Erlösung vom absurden Leben ab. Er »hasst die Gebetszeit«, das »Heuchlerische« im religiösen Gebärden und »die Leere im Gebet der Männer«. Und auch er wünscht sich, eines Tages einem Iman entgegenzuschreien, dass es ihm vor den Religionen graue, »weil sie das Gewicht der Welt verfälschen«. Wie Meursault hofft er, dass die Leute mit ihren »heulenden Rezitationen aufhören« und »die Welt akzeptieren, wie sie ist«.

Noch näher kommt Daouds Haroun Camus Meursault in seiner Verweigerung, sich den Konventionen einer absurden Welt zu unterwerfen. So fühlt sich Haroun in den Tagen der lang herbeigesehnten Revolution plötzlich fremd unter Seinesgleichen. »Am Tag nach den historischen Krisen«, schrieb Camus einst, »fühlt man sich genauso krank und unzufrieden wie nach einer Nacht der Ausschweifung. Aber für den historischen Kater gibt es kein Aspirin«. Da Haroun in der Revolution nicht mitgekämpft hat, findet er sich gemieden zwischen allen Seiten wieder. Er ist weder Kollaborateur noch Mudschahed; sein Beitrag zur Revolution, der Mord an einem Kolonisten, wird ebenso verurteilt wie Meursaults Mord an dem Araber, jedoch nicht aufgrund der Tat an sich, sondern weil sie während des Waffenstillstands im Sommer 1962 geschah und somit zum »falschen Zeitpunkt«. Absurder könnte auch Camus diese Szenerie nicht entwerfen.

Meursault und Haroun, sie beide sind Helden des Widerstands, der eine gegen die vorherrschenden Gefühls- und Verhaltenskodizes, der andere gegen religiöses und pseudorevolutionäres Gebaren. Sie beide sind Fremde, und beide betrachten dies nicht als Mangel, sondern als Reichtum. Jedoch hat Camus Daoud voraus, dass er in seinem Roman erkennt, dass es keine Versöhnung zwischen Kolonisten und Arabern, Tradition und Moderne, Orient und Okzident geben wird – zu seinem tiefsten Bedauern. Deswegen sterben beide, Meursault und Moussa, ein Umstand, den Daoud schlicht ignoriert und dem Fremden als Mangel vorwirft.

Wir dürfen uns Sisyphos nicht als Mörder vorstellen

»Es ist die Gerechtigkeit«, schrieb Camus im März 1945 in Le Combat, »die Algerien vom Haß befreien wird«. Welche Form von Gerechtigkeit ihm dabei vorschwebte, konnte Camus weder für sich noch für sein Publikum klären. Es scheint, als habe sich Daouds Figur Haroun eben jenes Credo auf die Fahne geschrieben, um seinem Bruder, seiner Familie, sich selbst und damit auch ganz Algerien Gerechtigkeit zu verschaffen – durch kritische Distanz zu Camus. Seinen symbolischen Ausdruck findet dies in der Beschreibung und Rechtfertigung des Mordes an dem Kolonisten.
»Es war doch nur ein Franzose«, argumentiert Haroun, »kein Mord, sondern eine Restitution«. Die persönliche Erlösung der Figur durch den willkürlichen Mord wird als moralisch tragbar gerechtfertigt, erklärt durch die moralischen Grauzonen, die ein jeder Krieg mit sich bringt: »Niemand tötet jemand Bestimmtes im Krieg. Es handelt sich nicht um Mord, sondern um Kampf und Schlacht«, und in Anspielung auf Meursaults Beschreibung seines Mordes resümiert Haroun: »Zwei kurze Schläge auf die Pforte der Befreiung«.

In keiner Szene zeigen sich die unüberwindbaren Gegensätze in Camus und Daouds Handlungslogik. Dort, wo Daoud sich von Camus in moralischer Hinsicht entfernt, geht ihm auch jene moralische Größe, für die Camus bis heute bewundert wird, ab. Schließlich ist es Camus unbändiger Humanismus, der ihn antrieb, wie Sevérine Gaspari einst schrieb, »unter all diesen Menschen ein wirklicher Mensch zu sein«. Die Gewalt als revolutionärer Akt lehnte Camus strikt ab, weshalb er während der algerischen Revolution sowohl die Praktiken der französischen Militärs als auch den Terrorismus der Front de Libération Nationale (FLN) verurteilte. Daouds Figur teilt nicht dieses Bewusstsein, dass »das Verbrechen die Revolte negiert«, und seine moralischen Rechtfertigungen bleiben in dieser Hinsicht dürftig.

macbook

Kamel Daoud
Der Fall Meursault– eine Gegendarstellung

Kiepenheuer & Witsch Köln 2016
208 Seiten, 17,99€

Auf der Suche nach der verlorenen Zärtlichkeit

Bei allem Ringen mit Camus gelingt es Daoud jedoch, und darin liegt wohl die wahre Poesie dieses Textes, die ausgetretenen Pfade des Großmeisters zu verlassen und im eigenen Schreiben einen ehrlichen Akt der Emanzipation zu wagen, wenngleich der unterschwellige Gegenstand seiner Verhandlung, das Verhältnis Harouns zu seiner Mutter, ein Camussches Thema ist.
Es ist das Schicksal eines Jungen, dessen Mutter ihn aus Trauer über den Verlust des älteren Bruders vollends vergisst. Verbannt zu einer Schattenexistenz, wohl wissend, dass es »Moussa ist, den sie wiederfinden will, nicht mich«, so entfaltet der Roman eine psychologische Schärfe. Der stumme Wunsch Harouns, »Moussa nach seinem Tod zu töten, um mich seines Leichnams zu entledigen, um die verlorene Zärtlichkeit M`mas wiederzufinden«, zeigt die Zerrissenheit der Figur. In der Bewältigung des Unglücks des Bruders sucht Haroun sein eigenes Schicksal zu bewältigen, da es ihn zum Gegenstand einer Geschichte macht, in die er wie Camus Araber hilflos involviert ist, die er immer wieder durchlebt und nicht durchbrechen kann.

Die Nichtakzeptanz dieser Situation, das Bestraftwerden dafür, dass Haroun lebt und sein Bruder nicht, lässt Daoud glaubhaft Camus Existenzialismus durchbrechen: »Ein Recht auf ein Leben in der Welt haben – trotz der Absurdität meiner Existenz, die darin besteht, einen Leichnam einen Berg hinauf zu hieven, bevor er wieder von neuem hinunterstürzt«. Es ist vielleicht zu viel gewollt, Sisyphos ganz von seinem Sockel heben zu wollen und die Fesseln des Absurden vollends zu zerschlagen, jedoch lässt der Roman einfühlsam durchklingen, dass die Sisyphoslösung, Leid zu Glück umzuwandeln, nicht immer ein befriedigender Weg ist.

Daouds Roman ist ein Zeugnis dafür, in welch enge Wechselwirkung Literaturtheorien und die Literaturen der Gegenwart getreten sind. Sein Text steht in der Tradition jener postkolonialen Praxis, die Salman Rushdie »Writing back to the centre« nannte. Die neueren Literaturen bedienen sich hierbei europäischer Klassiker und lesen sie gegen deren imperialistische Diskurse; Eurozentrismus, Kolonialismus und Rassismus werden aufgedeckt und in zugespitzter Form gegen den Prätext gewandt. Wie in Moussas Fall wird die Hierarchie der Figuren umgedreht, Meursault die Stimme entzogen, Moussa hingegen verliehen, wodurch das subalterne Subjekt diskurs- und handlungsfähig wird. Im Falle Camus ist es nicht der erste Versuch, sich seinem Werk aus dieser Richtung zu nähern. Aber Salah Guemriches Aujourd´houi Meursault est mort konnte nicht die polarisierende Strahlkraft entfalten, die Daouds Roman zum Bestseller macht. Dass bereits aus Marketing- und Verkaufsgründen eine brisante Auseinandersetzung mit klassischen Texten verlockend erscheint, darf jedoch in dieser Debatte nicht vergessen werden.

So ist dieser Roman ein Beispiel dafür, wie die neuen Literaturen dieser Welt aussehen können: ein Strand, zwei Menschen, die erbarmungslose Sonne und das aufrecht-gleichgültige Ertragen einer schicksalshaften Welt – ein aufregendes Wechselspiel stoischer Anpassung und revoltierender Verzweiflung. Jedoch nur, wenn es ihnen gelingt, spielerisch die Waage zu halten zwischen der Anschlussfähigkeit an ihre literarischen Vorbilder und einer gleichsam entfalteten Emanzipation, die es wagt, über ihre Vorbilder hinauszuwachsen, ohne jedes Haus, das ihnen überlassen wurde, Stein für Stein einzureißen.

Schlagwörter
Geschrieben von
Mehr von Roman Seebeck
Hinter der Maske
Fünfzig Jahre nach seinem Tod wird der in Vergessenheit geratene Autor Yukio...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert