Das Gasthaus am Ende der Kulturlandschaft

Ein lyrischer Wanderer kehrt ein ins Gasthaus mit Aussicht: An der Endstation Postmoderne blickt Michael Spyra in die zersetzte Kulturlandschaft und findet dort lesbare Reste. Eine Liebeserklärung an das unaufgeregte Vermodern der Dinge und die Kraft der gebundenen Sprache.

Von Alena Diedrich

Bild: via Pixabay, CC0

Aus Michael Spyras letztem Gedichtband (Die Berichte des Voyers, Mitteldeutscher Verlag, 2021) kennen wir den Voyeur als einen aufmerksamen Zeitgenossen, als feinsinnigen Beobachter zwischenmenschlicher Kontakte. Schon hier waren Räume relevant, vor allem als Kulisse für Begegnungen. Auch im neuen Gedichtband In Auflösung begriffen (roughbooks, 2023) finden wir einen lyrischen Beobachter, der unterschiedliche Orte besucht. Doch nicht der zwischenmenschliche Raum ist hier Gegenstand der Darstellung, sondern die Natur- und Kulturlandschaft. Der Sprecher ist ein Reisender zwischen Bergen und Tälern, entlang der Bahnstrecke, der Bundesstraße, an Autobahnen, Raststätten, vorbei an Flüssen, Gräben und Gartenzäunen – so die Ortsbeschreibungen in den Gedichttiteln. Während Spyras lyrischer Sprecher von Sachsen-Anhalt aus über den Globus reist, wandert er zudem entlang an literaturhistorischen Epochen und Orten – vom sozialistischen Realismus über den Halleschen Dichterkreis bis nach Kuba, dem mythischen Sehnsuchtsort der 68er-Generation.

Einheit und Auflösung

In einer ewigen Ordnung der Dinge ziehen im Dahrenstedter Dramolett die LPG-Landmaschinen ganz romantisch in vorherbestimmten Mustern ihre Kreise, ruht Korn um Korn am Ende wohl behütet zum Wohle der menschlichen Gemeinschaft, der natürlichen Ordnung entzogen, der optimierten unterworfen:

Das Piepen beim Rangieren und die Lichter
im Dunkel, das sich auf die Landschaft setzt.
Und keins der Körner lag wohl jemals dichter
Am anderen, wie nun zu guter Letzt.

Der lyrische Reisende hat kein direkt benanntes Ziel, wohl aber führt ihn sein Weg in Suchbewegungen bis an das Ende der mal gepflegten und wohl gedeihenden, mal verdreckten und abgewohnten Kulturlandschaft:

Das Land ist weit und flach nach allen Seiten.
Und jemand sucht in diesem flachen, weiten,
nach allen Seiten kultivierten Land
nach einem Abbruch, einem Rand.

Doch der Ort, an dem die ländliche Monotonie entlang der schmutzigen Straßen und schäbigen Hinterhöfe endet, ist weder diskret noch erhaben. Der Wanderer sucht den Übergang, die Auflösung, das Ende, und findet in der Natur die alltägliche Endlichkeit, das unaufgeregte Vermodern irdischer Dinge in ihren unvollkommenen, doch filigranen Übergangsformen:

Der graue Himmel und die kahlen Äste,
die schwarzen Bäume und der kahle Wind,
der Straßengraben, angewehte Reste,
die nicht mehr Laub und noch nicht Erde sind.

Die blanken Nervaturen, Blattgebeine,
die noch nicht Erde sind und nicht mehr Laub.

Quasi nebenbei ziehen Bilder und Rezeptionsfetzen in Aufzählungen vorbei, gleichzeitig und als verschränkter Widerspruch postmoderner Vielheit. Die Brüche treten dort am deutlichsten hervor, wo unsere Wahrnehmung ins Schleudern gerät und sich die Realität in die ansonsten paargereimte Idylle schleicht. Wir nehmen erst hinterher wahr, was wir gesehen haben:

Die Kiefernwälder und die Ackerbrache,
der grüne Mittelstreifen und die Lache,
das ausgewalzte Ziegelrot, der Zahn,

der Huf, die Eingeweide, Knochensplitter
am Fahrbahnrand, das aufgeplatzte Wild,
zerfetzt, der zweite PKW, ein dritter,
die Bremsspur, Schlittern und das Blechgewitter,
die Rettungsgasse erst im nächsten Bild.

Geschickt wird hier entlarvt, dass Einheit nur vermeintlich existent und vielmehr eine kognitive Leistung ist. Im wahrgenommenen Ganzen stecken Einzelteile, in einer Wahrnehmungskette, die wir durch Übung und Gewohnheit ineinanderfügen bis sich – auch für Lesende – ein grausames Ganzes ergibt.

Landschaft und Bewusstsein

Im Kapitel Mit zunehmendem Schwund beginnt die Auflösung diskret zu werden. In Ankunft mäandert der Sprecher mit Weißwein und Zigarette durch den Freitagnachmittag auf der Terrasse. Ein Erster, zweiter, dritter Mann treten hinzu und treiben den Auflösungsprozess durch Likör und ein Tabakgrasgemisch voran. Die schleichende Zersetzung erfolgt durch Kodein und Monotonie – »Seit Wochen, jeden Abend 40 Tropfen« –, durch die Tristesse des modernen Lebens im Zentrum der Kulturlandschaft – in der Neubausiedlung Fertighaus – und schließlich durch Abhandenkommen, Wegsein, Sterblichkeit: »Einer geht und einer wird vermisst.« Verschwinden ist, wenn Materielles sich in Feinstoffliches verwandelt und visuell ungreifbar wird:

Ein Mann steht da, die Hände in den Taschen,
und es ist still in ihm und um ihn auch.
Ein Mann trägt sieben Bier in seinem Bauch
und, statt des Bieres, Luft in sieben Flaschen
und in den Lungen etwas feuchten Rauch.

[…]

Und löst sich auf, und dann ist er verschwunden,
der Mann beziehungsweise unsichtbar,
ganz einfach weg, wo er noch eben war,
so viele, viele, viele, viele Stunden,
und dann wird auch der Rest der Szene klar.

Im Gegensatz zu Eichendorffs Frühlingsfahrt, an die das Reimschema erinnert, gibt es hier keine Wiederkehr. Nur Einer bleibt, spricht und beschreibt Personen, Landschaften, Idyllen und Moritaten. Denn mindestens ein Zuschauer ist nötig, um den Fortgang wahrzunehmen und zu beschreiben, wie in Der unterwartete Untergang einer Dame:

Sie steigt durch ihre Socken in die Schuhe,
durchsteigt die Sohlen und den Untergrund,
die Auslegware und die Dielen und
die Dämmrung noch in aller Seelenruhe,
verringert sich mit zunehmendem Schwung.

Unter dem Gedankenstrich

Wer hier verschwindet und durch Flaschenbier und Fertighausalltag zur Auflösung gebracht wird, dem widerfährt dies durch die sprachliche Gedankenformung im Gedicht, durch die Last des Sprach- und Satzzeichens selbst:

Ein Mann ist Sonntagmorgen nicht bei sich.
Der Mann ist an dem Morgen in Gedanken
Und stellt sich unter den Gedankenstrich
Und steht darunter und gerät ins Wanken.

[…]

Er geht darunter unter und vermisst
in dem Gedanken nichts und ist sich sicher,
dass er nicht sicher ist, wo er nun ist,
und der Gedanke ist sein eigentlicher,

an diesem Sonntagmorgen, einem Tag,
aus dem der Mann in den Morast entgleitet.
Und der Morast ist eine Art Belag,
der sich auf dem Entglittenen verbreitet.

Im matschigen Übergang oder in alltäglichen Ablagerungen werden Leerstellen sichtbar:

Und dann der Glasrand auf dem schwarzen Tresen,
als wäre eben jemand da gewesen,
der Aschenbecher, die Zigarrenglut,
der Kleiderständer und darauf sein Hut.

Michael Spyra
In Auflösung begriffen

Engeler Verlag / roughbooks 2023
82 Seiten, 14 €

Spuren und Zeichen, unbemerkt hinterlassene oder bewusst geschlagene, werden als Spuren der Vorübergegangenen auf den Oberflächen der Welt gespeichert und so lesbar:

Die Kippen, die nicht in den Kübel passten,
diverse Daten unbekannter Rasten
und Initialen, in das Holz gekerbt.

Der Rastplatz am Ende der Kulturlandschaft

Am Rande der Kulturlandschaft ist ein Rastplatz, ein Gasthaus, das uns hereinlockt zu den Aufgelösten, Verschwundenen und Verflossenen: »Die Welt sieht besser von hier drinnen aus!« Der Sprechwissenschaftler und Lyriker Spyra lädt uns ein von innen einen Blick durchs Fenster zu werfen und zu prüfen, ob sich durch den Rahmen die Perspektive auf unseren Kulturraum verändert und ob die gebundene Sprache aus Distichen, Assonanzen, Stab- und Binnenreimen zusammenhalten kann, was droht, sich vollends aufzulösen, bzw. bereits postmodern aufgelöst ist und immer wieder nur noch so erfahren werden kann. Es lohnt ein Blick hinaus auf alle Einzelteile, aber mehr noch hinein, ins Buch.

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